Kapitel 23
Ich bin ein nervliches Frack, während ich im Auto auf Noah warte. Bei jedem sich nähernden Scheinwerfer zucke ich zusammen und werde immer wieder von unkontrollierbaren Heulkrämpfen geschüttelt. Aber es hält niemand an und es taucht auch kein plötzliches Blaulicht auf, bis ein vertrautes Auto auf meiner Höhe langsamer wird. Ich habe die Fahrertür geöffnet und stolpere Noah entgegen, noch bevor er seinerseits die Tür aufreißt und auf mich zustürzt.
„May! Ist alles okay bei dir?"
Meine Antwort besteht aus einem bitterlichen Schluchzen, das ich an seiner Brust zu ersticken versuche, während er mich in eine so feste Umarmung zieht, dass ich unter anderen Umständen Angst gehabt hätte, zerquetscht zu werden. So bin ich einfach nur dankbar, dass jemand anderes die Aufgabe übernimmt mich zusammenzuhalten, während die Anspannung und Angst aus mir hervorbrechen.
Er ist da. Er wird mir helfen. Ich muss nicht ins Gefängnis oder bekomme den Führerschein entzogen. All die schrecklichen Szenarien, die mir die letzten Minuten durch den Kopf geschossen sind, mir die Brust zugeschnürt und mein Herz zum Holpern gebracht haben, verblassen langsam in Noahs Nähe.
Es dauert trotzdem mehrere Minuten, bis ich mich wieder fasse und um Luft ringe, in denen mich Noah einfach hält. Dann drückt er mich jedoch ein Stück von sich und schaut mich eindringlich an.
„Bist du verletzt?"
Ich schüttle den Kopf, da mein Hals für Worte noch zu fest zugeschnürt ist, aber das reicht Noah anscheinend. Mit einem erleichterten Seufzer sacken seine Schultern herab. Für einen Moment schließt er die Augen, als müsse er sich sammeln, und als sie sich wieder öffnen, wirkt seine Miene deutlich härter.
„Was hast du hier überhaupt allein zu suchen? Wo ist deine Begleitperson?"
Bei dem anklagenden Tonfall beginnen meine Augen wieder zu brennen, doch ich verbiete mir zu weinen. Noahs Wut ist mehr als gerechtfertigt. Entsprechend kleinlaut fällt meine Antwort aus.
„I...ich bin allein gefahren. Mom hat mich zum Einkaufen geschickt und i...ich hab gedacht, wenn sie das von mir verlangen kann, dann kann ich mir auch das Auto nehmen. Ich w...weiß nicht, wie das hier passieren konnte."
Noahs Gesicht ist versteinert. Ich rechne jede Sekunde damit, dass er wütend wird. Schreit. Mir sagt, was für eine Idiotin ich bin. Dass er schlussendlich gar nichts von sich gibt, sondern mich nur mit verschlossener Miene zur Seite schiebt, ist fast noch schlimmer.
Unsicher blicke ich ihm hinterher, als er sich vor den geplatzten Reifen kniet und ihn genau mustert. Der Anblick beschert mir eine Gänsehaut, denn er macht mir bewusst, wie glimpflich ich davongekommen bin. Was wäre passiert, wenn ich in den Gegenverkehr abgekommen wäre? Oder nicht mehr schnell genug hätte bremsen können? Ein Universum voller möglicher Ausgänge breitet sich vor mir aus und lässt mich die Arme um mich schlingen, als das Zittern wieder anfängt. Das hier war so knapp. So verdammt knapp.
Ohne ein Wort holt Noah das Ersatzrad. Er scheint genau zu wissen, was er tun muss, als er das Auto mit einer kleinen Vorrichtung aufbockt und innerhalb von Minuten das Rad wechselt. Ich stehe nur nutzlos nebendran und fühle mich elend. Ein, zwei Mal überlege ich, ein Gespräch anzufangen, weil ich die Stille nicht ertrage. Aber dann sehe ich Noahs grimmiges Profil und weiß, dass ich die Klappe halten sollte. Keine Ahnung, was ihm gerade durch den Kopf geht. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es mit mir zu tun hat und nichts Schönes beinhaltet.
Als die Räder gewechselt sind und Noah den platten Reifen im Kofferraum verstaut hat, schaue ich ihn hilflos an. Er schafft es nicht mal mir ins Gesicht zu blicken. Stattdessen konzentriert er sich auf seine Hände, die er grob mit einem Taschentuch säubert. Diese Distanz, die unverhohlene Enttäuschung, machen mich verrückt, bis ich es nicht mehr aushalte.
„Es... es tut mir leid." Es ist ein lächerlicher Versuch, die Stille zu brechen, und als Noahs Blick wütend zu mir hochschießt, bereue ich es, den Mund aufgemacht zu haben.
„Was tut dir leid? Dass ich mitten in der Nacht hier rausfahren musste, anstatt wie eigentlich geplant am Bahnhof zu stehen? Oder dass du dich in Lebensgefahr gebracht hast, nur um... keine Ahnung, zu beweisen, wie erwachsen du bist?"
In einer Mischung aus Wut und Resignation schmeißt Noah die Hände in die Luft und seine Worte lassen mich zusammenzucken. Sie kommen der Wahrheit viel zu nah und hier draußen in der Dunkelheit, während das Adrenalin abebbt und mich kraftlos zurücklässt, fehlt mir das Selbstvertrauen, welches vorhin noch berauschend durch meine Adern gepumpt ist, gänzlich.
„Ich..."
„Ganz ehrlich May, ich will es nicht hören. Das Auto zu nehmen war fahrlässig von dir. Was wäre passiert, wenn du richtig von der Straße abgekommen wärst? Dich überschlagen hättest oder mit einem anderen Straßenteilnehmer kollidiert wärst? Es hat seinen Grund, dass du noch nicht allein fahren darfst, und du wirst es nicht glauben, aber auch du darfst dich nicht einfach über alle Regeln hinwegsetzen."
Das sitzt. Ich schlinge die Arme noch etwas fester um mich und halte den Blick gesenkt.
„Mal ganz zu schweigen, dass nur jemand die Polizei hätte rufen müssen und die Scheiße wäre richtig am Dampfen gewesen. Wie hättest du ihnen deinen kleinen Ausflug erklärt? ‚Entschuldigen Sie Officer, aber ich bin ein hormongesteuerter Teenie der gegen seine Mutter rebelliert'?!"
Die Worte tun weh, besonders aus Noahs Mund. Der Schmerz will mich mit sich herabziehen und alles, was mir bleibt um den Kopf oben zu halten, ist mein Trotz.
„Was kann ich dafür, dass der Reifen geplatzt ist? Das hätte jedem passieren können! Mom, dir und jedem anderen Erwachsenen."
Bockig schiebe ich das Kinn vor, doch Noah schüttelt abwehrend den Kopf.
„Komm mir nicht mit der Tour. Es ist dir passiert und deine Mom genauso wie ich hätten zumindest gewusst, was danach zu tun ist."
Dagegen kann ich nichts einwenden, also ziehe ich den Kopf ein und beiße mir auf die Unterlippe, um nicht wieder in Tränen auszubrechen. Ich will nicht wie ein kleines Mädchen wirken, dass sich mit Tränen vor der unangenehmen Situation retten will.
Noah stößt ein Seufzen aus und fährt sich aufgebracht durch die Haare. Er wirkt, als wolle er noch etwas sagen und findet zu gleich nicht die richtigen Worte. Ich wünschte, er könnte mich einfach wieder in den Arm nehmen, aber danach zu fragen kommt mir unangebracht vor. Er hat jedes Recht wütend zu sein und nichts mehr mit mir zu tun haben zu wollen. Nach allem was vorgefallen ist, kann ich dankbar sein, dass er überhaupt für mich hier rausgefahren ist.
Jetzt bebt meine Unterlippe doch und ich hasse es, keinerlei Kontrolle über meine aufgebrachten Gefühle zu haben. Ich wollte doch nicht, dass es so endet. Alles was ich wollte, war die Freiheit meine beste Freundin bei ihrer Aufführung zu sehen und nicht mehr Zuhause festzustecken, wo alle mich hassen.
Der Gedanke ist dramatisch, doch ich kann mich ihm nicht verwehren. Als sich Noah mir schließlich zuwendet, sehe ich seine harten Züge nur verschwommen durch einen Tränenschlier. „Traust du dir zu, das Auto nach Hause zu fahren? Ich bleibe direkt hinter dir."
Ich nicke, auch wenn ich mir da gar nicht sicher bin. Meine Hände sind zittrig und so sehr ich auch blinzle, will sich meine Sicht nicht klären. Aber länger hier neben der Straße zu stehen, erhöht nur das Risiko, dass doch noch etwas passiert. Und ich ertrage es auch nicht länger, Noahs anklagenden Blick auf mir zu spüren.
Also dränge ich mich ohne ein Wort an ihm vorbei und ignoriere sein Seufzen gefolgt von einem sanften: „May...".
Ich will sein Mitleid nicht. Er hat klar gesagt, was er von mir und meiner dummen Aktion hält. Das steht ihm zu und ist deutlich besser als der nette Noah, der lieb zu mir ist, um mich nicht zu verletzen. Darauf kann ich verzichten. Ich werde schon damit fertig, dass er nicht so für mich empfindet, wie ich für ihn. Dass ich immer das kleine Mädchen von nebenan bleiben werde.
Die Gedanken lassen eine bittere Entschlossenheit in mir aufkommen, die den Sturm aus Emotionen in mir zu einem tauben Nichts abklingen lässt. Ich spüre Noahs Blick, als ich ins Auto steige und er neben der Fahrerseite verweilt. Doch ich starre stur geradeaus und schlussendlich stapft er zurück zu seinem Wagen.
Den Motor zu starten, fühlt sich gruselig an. Wenn ich ehrlich mit mir bin, könnte ich eine geraume Zeit drauf verzichten, am Steuer zu sitzen. Aber das sind Kleinkinder-Gedanken. Eine erwachsene Person stellt sich ihren Problemen. Also lasse ich den Motor aufheulen, um die kleine Böschung hochzukommen, und ignoriere das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden. Die Fahrt fühlt sich holprig an und ich muss selbst verzweifelt über mich lachen, als ich merke, wie ich versuche Noah zu beweisen, dass ich gut Auto fahren kann. Der Zug ist längst abgefahren. Trotzdem achte ich penibel genau darauf, die Geschwindigkeiten auszufahren, auch wenn ich am liebsten nicht über fünfzig beschleunigen würde. Ich kann mich dem Druck einfach nicht verwehren, beweisen zu wollen, dass ich das kann. Dass die Panne nicht meine Schuld war.
Ob ich davon auch nur mich selbst überzeugt habe, als ich in unserer Auffahrt halte, weiß ich nicht. Das Alleinsein hat aber zumindest geholfen meine Tränen zu trocknen, sodass ich Noah dieses Mal zu Tode erschöpft, aber gefasst entgegentrete.
Auch Noah wirkt nicht mehr so wütend wie vorhin. Sein übliches Lächeln ist zwar noch nicht zurück, aber mit der kleinen Falte auf seiner Stirn kann ich arbeiten.
„Alles okay bei dir?" Seine Worte klingen hart, aber dem Blick, mit dem er mich mustert, ist die ehrliche Anteilnahme anzusehen. Also wage ich ein kleines schiefes Schmunzeln.
„Wird schon. Und danke. Also wirklich danke, dass du mir geholfen hast. Ich wusste nicht, wen ich sonst hätte anrufen sollen, ohne das Mom direkt auf der Türschwelle steht."
Den Ersatzreifen muss ich ihr zwar trotzdem irgendwie erklären, aber meine Verhandlungsposition hat sich deutlich verbessert, jetzt wo ich nicht mehr gestrandet am Straßenrand stehe. Vielleicht kann ich sagen, dass es beim Einkaufen passiert ist. Oder...
Ein kurzer Anflug von Schuld huscht über Noahs Gesicht, bevor sich seine Miene wieder verhärtet. Der verschlossene Ausdruck in seinen Augen lässt mich zusammenzucken, bevor er das erste Wort spricht.
„Ich habe dir geholfen, aber ich habe nie gesagt, dass ich deine Mom raushalte. Das ist was anderes als ein paar gelockerte Ziegel. Du scheinst deine Grenzen nicht zu kennen und solange du dich wie ein unvernünftiges Kind aufführst, kann ich deine Eltern nicht außen vor lassen."
Fassungslos starre ich ihn an, noch nicht bereit zu verarbeiten, was er gesagt hat, da erklingt Moms Stimme auch schon. „May? May!"
Ich schaffe es, mich gerade noch umzudrehen, da werde ich in eine gewaltige Umarmung gezogen. Mom erdrückt mich und streicht gleichzeitig unruhig mit ihren Händen über mich, als müsse sie sich selbst vergewissern, dass mir nichts fehlt. Sie ist völlig aufgelöst, als sie mich schlussendlich ein Stück von sich wegschiebt und mich in einer Mischung aus Sorge und bodenloser Wut betrachtet.
„Bist du des Wahnsinns? Dir einfach so das Auto zu nehmen! Dir hätte sonst was passieren können!"
Moms Finger krallen sich in meine Schultern und ich glaube, sie ist sich nicht einmal bewusst, dass sie mich bei jedem Wort schüttelt. Ihre offensichtliche Verzweiflung lässt Scham in mir aufsteigen. Sie muss extra von der Arbeit nach Hause gegangen sein, wahrscheinlich nachdem Noah sich bei ihr gemeldet hat. Nicht fähig ihr in die Augen zu schauen, senke ich den Blick.
„Es tut mir leid..."
„Das sollte es dir besser auch! Ich erkenne kaum meine eigene Tochter wieder."
Ihre Worte sind wie ein Schlag in die Magengrube. Doch statt dem erwarteten Schmerz setzen sie die Wut in mir frei, die seit Monaten dort brodelt. Sie erkennt ihre Tochter nicht mehr wieder? Wann hat sie mich denn das letzte Mal genau angeschaut? Ich meine als Person und nicht als ihr persönlicher Kummerkasten. Sicherlich nicht bei unserem tollen Mädelsabend. Oder wenn sie mir ein Post-It mit der nächsten Aufgabe im Haushalt auf den Essenstisch gelegt hat. Ich spüre genau, als etwas in mir reißt und mit einem Mal sind all die Schuldgefühle vergessen.
„Was hast du denn erwartet? Dass du mir alles, was mir wichtig ist, wegnehmen kannst, mir dann noch ein paar Pflichten aufdrückst und ich trotzdem die brave Tochter bleibe? Du hast mich doch allein mit dem Auto einkaufen geschickt! Ich wüsste nicht, wo da der Unterschied ist, wenn ich selbst beschließe, wohin ich fahre."
Wütend funkle ich Mom an und genieße es, als ihr die Röte ins Gesicht schießt. Ich sehe, wie ihr Blick immer wieder hinter mich huscht. Dorthin, wo Noah immer noch steht. Soll es ihr ruhig unangenehm sein, das hier vor Publikum auszufechten.
„May, das ist wohl kaum vergleichbar..."
„Nicht vergleichbar?" Meine Stimme überschlägt sich fast vor Ungläubigkeit. „Heute Mittag hast du aber noch ganz anders geklungen, als du mir vermittelt hast, dass ich nur eine gute Tochter bin, wenn ich den Großeinkauf erledige. Immerhin ist mein Geburtstag ja schon in ein paar Wochen."
Ich setze den letzten Satz mit meinen Fingern in Anführungszeichen und spuke ihn Mom geradezu vor die Füße. Ich hasse diese Heuchelei. Den impliziten Druck, den Mom damit aufbaut, nur mir zu zeigen, wie überfordert sie mit allem ist. Ich bin ihre Tochter! Sie sollte mir eine Stütze sein und nicht andersrum.
Moms Wangen stehen in Flammen. Ich bin beeindruckt, dass ihre Stimme trotzdem so gefasst klingt, als sie mich am Arm packt und Richtung Haus zieht. „Lass uns unter vier Augen weitersprechen, der arme Noah muss sich das ja nicht mitanhören. Danke dir, dass du meine Tochter sicher nach Hause gebracht hast."
Bei dem netten Lächeln, dass Mom Noah zuwirft, brennt mir eine Sicherung durch. Ein wieherndes Lachen entkommt mir, während ich wie bei einem militärischen Gruß die Hand an die Stirn lege. „Ja, danke Noah für deine heldenhafte Tat."
Er hat den scharfen Sarkasmus in meinen Worten nicht verdient, aber das Letzte zu dem ich gerade fähig bin, ist Vernunft. Nicht mal als ich Noahs verwirrtes Stirnrunzeln sehe und er einen Schritt vorgeht, als wolle er sich einmischen und mich vor meiner Mom in Schutz nehmen. Letztendlich bleibt er jedoch stehen und schließt den Mund, bevor er auch nur ein Wort von sich gibt. Wer mischt sich auch schon gern in fremdes Familiendrama ein? Mit einem entrückten Kichern schüttle ich den Kopf.
Mom schafft es völlig ruhig zu bleiben, bis die Haustür hinter uns zufällt. Dann dreht sie sich mit zornesrotem Kopf um. „Du denkst also ich bin eine schlechte Mutter, ja? Soll ich wirklich mal eine schlechte Mutter sein, willst du sehen, wie das aussieht?"
Herausfordernd schmeiße ich die Hände in die Luft. „Ja gerne doch! Zeig was du drauf hast, außer Hausarrest und mich zum Putzmädchen zu degradieren."
Empört stößt Mom die Luft durch die Nase aus. „Du bist also das Putzmädchen, wenn du mich im Haushalt unterstützt, aber ich bin eine gute Mutter, wenn ich mich um all das allein kümmere? Das hört sich für mich nach einer ziemlichen Doppelmoral an."
Ich weiß, dass sie damit recht hat. Höre ihr „Ich habe gedacht, wir Mädels halten zusammen" heraus, auch wenn sie es nicht ausspricht. Doch bevor die Schuldgefühle mich in ihren Schraubgriff nehmen, schüttle ich den Kopf.
„Das habe ich nie gesagt. Es ist in Ordnung, wenn wir als Familie uns die Pflichten teilen. Aber Familie beinhaltet nicht nur dich und mich! Was ist mit Tim? Wo ist der Teil, den er tragen muss? Als ich in seinem Alter war, hast du mich schon ständig dazu eingespannt, dir bei der Wäsche zu helfen oder zusammen zu kochen. Und er? Er darf einfach machen, was er will!"
Moms Blick huscht unruhig zum Boden, was mir verrät, dass sie die Wahrheit meiner Worte kennt. Dann zuckt sie erschöpft mit den Schultern und als sie den Blick hebt steht da dieser traurige Ausdruck in ihren Augen, der mich so oft schon zum Einknicken gebracht hat. „Was soll ich sagen, May? Deinen Bruder zu diesen Dingen zu bewegen ist deutlich schwieriger und mir fehlt die Kraft, auch noch an dieser Front zu kämpfen. Denkst du nicht, ich bin auch müde? Dass ich mir nicht wünschen würde, alles stehen und liegen lassen zu können?"
Das wie dein Vater hängt in der Luft und dass Mom diese Karte zieht, treibt mir die Tränen in die Augen. Aber ich lasse mich davon nicht ablenken, denn zum ersten Mal seit Monaten verstehe ich endlich, was in mir rumort. Was ich so dringend loswerden muss, dass es sich anfühlt, als würde ich platzen, wenn ich es jetzt nicht rauslasse.
„Also ist es okay nur weil ich das einfache Kind bin - die gute Tochter - das auszunutzen? Mich für alles einzuspannen? Was glaubst du denn, was das in mir bewirkt, Mom? Wie ich mich dabei fühle? Und dann willst du im nächsten Moment auf beste Freundin machen mit Wein, Gesichtsmasken und allem Drum und Dran!"
Verzweifelt fahre ich mir über die Wangen, um die Tränen wegzuwischen. Ich will nicht weinen, will nicht schwach wirken, während mich meine Worte endlich befreien.
„Ich will keine weitere beste Freundin. Die habe ich schon. Was ich will - was ich brauche! - ist meine Mutter!"
Es ist zu viel. Als ich die Tränen in Moms Augen sehe, drehe ich mich einfach um und verschwinde durch die Haustür. Ich bin froh, dass Noah nicht mehr in der Auffahrt steht, als ich mein Fahrrad aus dem kleinen Schuppen neben dem Auto zerre. Und ich bin froh, dass mir Mom nicht hinterherkommt, als ich mich auf den Sattel schwinge und einfach drauflos fahre, wenn auch ein anderer Teil meines Herzens daran zerbricht.
Über mir spannt sich der weite Nachthimmel und der kalte Fahrtwind beißt mir im Gesicht, aber mir ist der Schmerz willkommen. Er lenkt mich von dem Aufruhr in mir ab, bis nur noch das Brennen meiner Lungen und das Strampeln meiner Beine zählt.
Ich weiß, dass es unfair ist, von Mom zu verlangen, all den Ballast allein zu tragen. Das ist auch gar nicht, was ich will. Ich will mich nur auch auf mein Leben konzentrieren können und auf das was vor mir liegt. Mich nicht in Moms und Dads Probleme verstricken, wenn ich eigentlich selbst Erfahrungen sammeln und mich verlieben sollte. Ich will meine Jugend ausleben dürfen, Fehler machen und mir Moms helfender Hand sicher sein, wenn ich hinfalle. Und vielleicht bin ich egoistisch, weil ich all das will, aber es ist die Wahrheit und so weh es auch getan hat, bin ich froh sie ausgesprochen zu haben.
Mit diesem Eingeständnis klärt sich endlich mein Kopf, bis mir bewusst wird, dass ich bereits die Häuser hinter mir gelassen habe und mich auf dem Feldweg zum See befinde. Mein Fahrradlicht beleuchtet die holprige Strecke nur spärlich und für einen Moment überlege ich, umzudrehen.
Aber wohin soll ich? Nach Hause ganz sicher nicht. Gerade fühlt es sich so an, als könne ich nie wieder dort hin. Eva, David und die anderen sind im Connect, aber so spät wie es inzwischen ist, fährt der Bus nicht mehr in die Stadt hinein und mit dem Fahrrad wäre ich Ewigkeiten unterwegs. Also kommt das auch nicht infrage und ich bezweifle stark, dass Noah Lust hat, mir Unterschlupf zu gewähren. Obwohl es schon eine witzige Sache wäre, mich im Nachbarhaus vor meiner Mutter zu verstecken. Dort würde sie mich sicherlich nie vermuten.
Generell birgt es eine gewisse Ironie, wie Moms Hausarrest fürs Weglaufen letztendlich dazu geführt hat, dass ich erneut weglaufe. Vielleicht öffnet ihr das ja endlich die Augen.
Mit neuer Entschlossenheit trete ich in die Pedale. Eigentlich ist der See gar keine schlechte Idee. Er hat schon immer einen besonderen Platz in meinem Herzen und sich einfach an den Uferrand zu setzen und die Gedanken baumeln zu lassen, hört sich perfekt an. Dass ich in meinem Kleid absolut nicht angebracht angezogen bin, um mich lange draußen aufzuhalten, ignoriere ich. Zumindest habe ich mir vorhin meinen warmen Mantel übergeworfen, durch den der Wind bisher nicht dringt.
Ich bin die Strecke nach langen Tagen am See schon öfter im Dunklen heimgeradelt. Trotzdem kommen mir heute die langen Schatten der Bäume unheimlicher vor, als ich das kleine Waldstück erreiche. Wie sie ihre Äste über den Weg strecken und das letzte Mondlicht ausschließen. Hier bin ich ganz für mich – zumindest hoffe ich das – und ich sauge die frische Luft tief in mich auf, bis sie auch das letzte Quäntchen von mir erfüllt.
Wie immer taucht der See aus dem nicht vor mir auf, sobald ich die letzte Baumreihe hinter mir gelassen habe. Er liegt ruhig vor mir, während der klare Nachthimmel sich in ihm spiegelt und die Dunkelheit vertreibt. Der Anblick raubt mir den Atem. Ein Sternenmeer breitet sich vor mir aus. So friedlich und schön, als hätte ich eine andere Welt betreten. Nichts erinnert, an die vielen kreischenden Kinder, die sonst hier herumrennen. Oder daran, dass keine halbe Stunde von hier entfernt meine Mutter sicherlich außer sich vor Wut auf und ab tigert. Es ist eine sichere Oase und als ich das Fahrrad im Gras ablege, kommt mir der Gedanke, einfach für immer hier zu bleiben.
Eine Zeitlang laufe ich am Ufer des Sees entlang, die Hände tief in die Taschen meines Mantels gegraben und versunken in den Anblick, der sich mir bietet. Wer hätte gedacht, dass eine solche Schönheit unweit von unserem verschlafenen Dorf zu finden ist? Ich habe nicht mal das Bedürfnis, mir mit Social Media meine Zeit zu vertreiben, weil der Moment mehr als genug ist. Zumal es wahrscheinlich keine gute Idee wäre, auf mein Handy zu schauen. Sicherlich habe ich bereits dutzende Anrufe von Mom und mindestens doppelt so viele Nachrichten, dass ich gefälligst wieder heimkommen soll. Oder sie hat sich meinen Rat vom letzten Mal zu Herzen genommen und genießt die Ruhe zu Hause, solange ich ihr nicht zur Last fallen kann. Mir entkommt ein aufgebrachtes Schnauben und ich kicke einen Stein vor mir her.
Als ich an dem aufgeschütteten Strand ankomme, der so verlassen wie nie vor mir liegt, suche ich mir ein Stück Treibholz nahe des Ufers und lasse mich darauf nieder. Es hilft den sanften Wellen zuzuschauen, die an den Strand rollen, um meine Emotionen wieder zu beruhigen. Wie hat alles nur so weit kommen können? Vor einem Jahr waren wir noch eine glückliche Familie und alles war in Ordnung. Der Schulabschluss lag weit in der Zukunft, meistens bin ich sonntags morgens zum Duft vom Kuchen aufgewacht, weil Mom gebacken hatte, und Dad kam jeden Abend mit einem Lächeln nach Hause. Ich weiß, dass das nur die halbe Wahrheit ist. Dass ich mir auch schon damals Sorgen gemacht habe, was ich jemals beruflich machen will. Mom gebacken hat, weil sie das Gefühl hatte, das gehört sich für eine gute Hausfrau. Und Dad seine Erschöpfung hinter einem Lächeln versteckt hat, sobald Tim oder ich das Zimmer betreten haben. Doch all diese Probleme hätten wir lösen können. Gemeinsam. Als Familie.
Jetzt ist von dieser Familie kaum noch etwas übrig.
Eine vereinzelte Träne rollt über meine Wange und ich schlinge die Arme um mich, als eine Welle der Einsamkeit über mich rollt.
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