Kapitel 22


Ich war selten so nervös, wie während der Fahrt zum Supermarkt. Vor dem Ausflug mit Dad ist es Wochen her gewesen, dass ich das letzte Mal am Steuer saß, und leider fühlt es sich bisher noch so gar nicht wie Fahrrad fahren an. Entsprechend habe ich gewartet, bis Mom fort war, bevor ich mich mit einem Einkaufskorb, der Einkaufsliste und ein m Kaugummi gegen die Nervosität bewaffnet ins Auto gesetzt habe. Sie muss ja nicht unbedingt sehen, wie ich beim rückwärts Ausparken aus der Auffahrt schon den ersten Bordstein mitnehme. Obwohl, vielleicht hätte sie das zumindest zur Vernunft gebracht.

Ich fahre durchschnittlich zehn Kilometer pro Stunde weniger als erlaubt und bekomme einen halben Herzinfarkt, als ich an einer leichten Steigung anfahren muss. Aber inzwischen hat mich eine grimmige Entschlossenheit gepackt, das hier durchzuziehen. Sollen sie doch alle sehen, dass ich das kann. Ich habe es satt mich wie ein kleines Mädchen behandeln zu lassen. Von Noah, von Mom, von allen!

Als ich eine geschlagene Stunde später vollbepackt mit Einkäufen zurückkomme, hat sich dieser Entschluss in mir festgesetzt. Wenn Mom meint, ich bin so weit, mit dem Auto allein einkaufen zu gehen, dann beschließe ich, dass ich auch soweit bin, allein woanders hinzufahren. Ein Blick auf meine Uhr verrät mir allerdings, dass ich mich beeilen muss, wenn ich es noch zu meinem heutigen Ziel schaffen will. Also schreibe ich Eva einen kurzen Einzeiler („Ich komme!") und verräume alles in Windeseile. Dabei ist es mir ziemlich egal, ob ich Moms Küchenordnung einhalte oder nicht. Soll sie doch beim Kochen nach den passierten Tomaten suchen.

Dann flitze ich nach oben, schlüpfe in ein Strickkleid, welches für das Ereignis angebrachter erscheint als mein derzeitiges Outfit, und schminke mich grundlegend, um zumindest nicht wie eine wandelnde Leiche auszusehen. Normalerweise hätte ich das Outfit mit meinen Stiefeletten mit Absatz kombiniert. Aber ich will meine Fahrkünste nicht überstrapazieren, also werden es stattdessen meine Chucks und schon verabschiede ich mich mit einem lauten „Tschüss!" bei Tim. Die Wahrscheinlichkeit, dass er meinen Hausarrest schon wieder vergessen hat, stehen gut. Und selbst wenn er es Mom petzen sollte, kann sie ja gerne versuchen, sich mit mir anzulegen. Ich lass mich nicht länger hier einsperren, um ganz Aschenputtel gemäß die Hausarbeiten zu verrichten.

Es fühlt sich berauschend an, sich ins Auto zu setzen und den Zündschlüssel umzudrehen. Freiheit. Die Fenster runtergelassen, um die laue Herbstnacht einzulassen, atme ich tief durch. Dann setze ich mit einem breiten Grinsen zurück. Am Haus der Millers vorbeizufahren, versetzt mir einen kurzen Stich, aber ich will mich nicht länger von irgendjemandem oder meinen Gefühlen einengen lassen. Ich habe ein Leben ohne Noah und das habe ich vor, in vollen Zügen zu genießen.

Die ganze Fahrt fühlt sich wie ein Hoch an. Ich drehe die Musik laut auf, singe mit und trommle auf dem Lenkrad, während ich die Landstraße entlang fliege und den Anweisungen der Navigation folge.

Die Aufführung findet jedes Jahr im Gemeindehaus eines benachbarten Stadtteils statt. Die Strecke ist also nicht allzu lang und mir vertraut. Das gibt mir genug Selbstvertrauen, trotz schnell klopfenden Herzens die Unabhängigkeit zu genießen, die das Auto mir gibt. Mit dem Bus hätte ich umsteigen müssen und sicherlich doppelt so lang gebraucht. So komme ich tatsächlich noch rechtzeitig zu Beginn der Vorführung an und kann einen Sitzplatz an der Abendkasse ergattern.

Eva sehe ich nicht mehr. Ich weiß genau, was für ein Chaos jetzt hinter der Bühne herrscht und bin beeindruckt, dass sie die Zeit gefunden hat, um mir ein „OMG yay!" zurückzuschicken. Umso gespannter bin ich, als die Lichter im Raum ausgehen und alle Aufmerksamkeit sich nach vorne richtet. Die ganze Veranstaltung läuft unter dem Namen „Cinderella revised", was mich ironisch auflachen lässt. Da will mir das Schicksal wohl etwas sagen.

Aber alle Gedanken an Mom, Dad, Noah und das Chaos, was sich mein Leben nennt, sind vergessen, als die ersten Tänzer die Bühne betreten und mich in eine andere Welt entführen. Die Aufführung ist fantastisch. Cinderellas Geschichte mit Frauenpower, statt Prinzen, und moderner Musik. Mir steht zudem nicht schlecht der Mund offen, als Eva ihren ersten Auftritt hat und uns alle als wunderschöne Cinderella verzaubert. Sie hat nie erzählt, dass sie die Hauptrolle ergattert hat! Es dauert bestimmt eine Minute, bevor ich mich wieder gefasst habe. Aber dann juble ich am lautesten von allen.

Mein Herz schmerzt etwas, als schließlich der Tanz beginnt, den mir Eva am See gezeigt hat. Doch ich nehme den Schmerz an und verwandle ihn in etwas Schönes. Den Tanz von außen zu sehen, statt selbst darin verwickelt zu sein, hat auch etwas. Ich fühle jede Sekunde, jede auf das Lied angepasste Bewegung. Und als der Teil kommt, den Eva choreografiert hat, wird mir erst bewusst, was für ein Meisterwerk sie da kreiert hat. Vielleicht liegt es an der Kulisse, an Evas zerrissenem blauen Kleid, in dem sie mit der ganzen Gruppe über die Bühne wirbelt. Aber es geht unter die Haut.

Am Ende springe ich auf und juble, bis mein Hals wund ist, während sich alle Tänzerinnen und Tänzer verbeugen. Als ganz zum Schluss Eva Vortritt, gebe ich nochmal alles, und freue mich über das Strahlen auf ihrem Gesicht.

Es hat seine Vorteile selbst oft genug bei der Vorführung mitgewirkt zu haben. So weiß ich genau, wo ich mich entlangschlängeln muss, um durch eine versteckte Tür hinter die Bühne und zu den Umkleiden zu gelangen. Hier sind alle voller Euphorie, liegen sich in den Armen oder erzählen sich, was nicht geklappt hat. Ich lächle und winke ein paar bekannten Gesichtern zu, will aber niemanden stören, weil ich nur zu gut weiß, wie man sich nach einem Auftritt fühlt. Aufgekratzt, voller Energie, berauscht. Ich ziehe diese Atmosphäre in mich auf und lasse sie mich bis in die Fingerspitzen erfüllen. Dieses Prickeln gepaart mit dem Wissen, dass ich gegen Mom rebelliert habe, wirkt wie eine Droge.

Es dauert, bis ich Eva im Chaos der sich umziehenden und plappernden Tänzer und Tänzerinnen gefunden habe. Sie steht mit einem großen Blumenstrauß im Arm bei unserer Trainerin Anabell und strahlt immer noch über das ganze Gesicht. Kurz zögere ich, unsicher ob ich störe. Aber da entdeckt mich Eva schon und stößt einen Schrei aus.

„May! Ich bin so froh, dass du es doch noch hergeschafft hast!"

In einer Wolke aus Haarspray und Parfüm zieht mich Eva in eine Umarmung und ich lache glücklich auf. „Ich auch. Das zu verpassen, hätte ich mir niemals verziehen. Du warst fantastisch." Ich drücke sie ein Stück von mir weg, um Eva ernst anzuschauen. „Also wirklich fan-tas-tisch."

Wenn möglich wird Evas Grinsen noch ein Stück breiter. „Danke. Es war auch einfach toll."

Wir drücken uns nochmal fest, bevor wir von Anabell unterbrochen werden.

„May, wie schön dich Mal wieder zu sehen. Ist dein Bänderriss wieder gut verheilt?"

Mit einem schüchternen Lächeln drehe ich mich zu der Tanzlehrerin um. Sie ist Anfang dreißig und war lange Zeit mein Idol. Bevor ihre Beziehung sie in diese verschlafene Kleinstadt geführt hat, war sie in Hamburg auf den großen Musicalbühnen. Keine Ahnung, wie man das für einen Mann aufgeben kann. Das Bild von Noah, welches in mir hochsteigt, verdränge ich sogleich wieder.

„Hi Anabell. Ja danke, alles wieder heil."

Es ist ein Reflex, das Gewicht testend auf den verletzten Fuß zu verlagern. Aber von den Schmerzen ist schon lange nichts mehr zu spüren.

„Wir waren sehr traurig, dich danach nicht wieder bei uns gesehen zu haben." Anabells Lächeln ist ehrlich und frei von jedem Vorwurf. Trotzdem fühle ich mich schlecht. Weil es nicht meine Entscheidung gewesen ist, fernzubleiben. Verlegen streiche ich mir eine Haarsträhne hinters Ohr und lasse den Blick während meiner Antwort schweifen. „Ja, leider kam etwas dazwischen. Aber umso schöner war es zu sehen, was ihr die letzten Monate auf die Beine gestellt habt!"

„Danke dir. Solltest du doch mal wieder von der Tanzlust gepackt werden, bist du bei uns immer herzlich willkommen."

Anabell verabschiedet sich mit einem freundlichen Lächeln, als eine andere Tänzerin ihren Namen ruft und verschwindet in der Menge. Aber ihre Worte bleiben hier und lassen die altbekannte Sehnsucht in mir aufsteigen. Ich wünschte ich könnte einfach wieder einsteigen. Doch bevor die Gefühle mich übermannen können, hat mich Eva wieder mit einem Kreischen in ihre Arme gezogen und hüpft mit mir auf und ab.

„Ich kann nicht glauben, dass ich wirklich die Hauptrolle tanzen durfte! Und hast du den Teil mit meiner Choreo gesehen? Es hat alles so gut geklappt!"

Evas Stimmung ist ansteckend und ich bin dankbar, all die dunklen Gedanken abschütteln zu können, als ich auflache. „Ja habe ich. Und wie konntest du mir bitte verschweigen, dass du Cinderella tanzt? Ich wäre im Publikum fast ohnmächtig geworden, als ich dich gesehen habe."

Eva strahlt über das ganze Gesicht, als sie mich wieder loslässt, was ihrem gespielt schüchternen „Ach, das war doch nichts Besonderes" jegliche Glaubwürdigkeit nimmt. Daher quittiere ich das Ganze nur mit einer hochgezogenen Augenbraue, bevor ich mir ihre Tasche schnappe und unseren Star aus den Umkleiden rausbegleite.

„Kommst du noch mit ins Connect? Die anderen haben zur Feier des Tages einen Tisch gebucht und ich habe vor, es ordentlich krachen zu lassen!"

Eva ist ein kleines Energiebündel, wie sie mehr neben mir herhüpft als -geht. Wahrscheinlich wird sie die ganze Nacht durchfeiern und alle anderen in den Wahnsinn treiben. Eswas, bei dem ich nur zu gerne dabei wäre, aber...

„Geht nicht. Ich habe mit meiner Mom ausgehandelt, dass ich herdarf, aber danach direkt heimkomme." Eine Lüge, doch mit etwas Abstand wird mir klar, was für einen Ärger ich mit dieser Aktion riskiert habe. Selbst vor Eva fühlt es sich falsch an, einzugestehen, dass ich mich ohne Erlaubnis rausgeschlichen und mir dann auch noch das Auto genommen habe. Wenn Mom das rausbekommt, bin ich tot. Also darf ich nicht riskieren, nach ihr nach Hause zu kommen, was einen Abstecher ins Connect unmöglich macht.

Eva zieht einen Schmollmund, aber sie ist viel zu hibbelig, um lange auf mich einzureden. Außerdem, was hätte sie schon sagen sollen? Also verabschieden wir uns letztendlich, als Evas Eltern ihre Tochter in der Menge entdecken und ich schleiche mich zurück zum Auto, bevor mich jemand erkennt, der meinen kleinen Ausflug Mom beichten könnte.

Ich versuche die Euphorie der Hinfahrt zurückzuerlangen und stelle Taylor Swift auf volle Lautstärke, als ich vom Parkplatz rolle und der Hauptstraße folge, bis ich den Ortsteil hinter mir lasse. Die Landstraße liegt dunkel vor mir und ich schmettere aus vollem Hals die Lieder mit, um mich von all den Gedanken in meinem Kopf abzulenken. Den Kampf werde ich spätestens verlieren, wenn ich wieder allein auf meinem Zimmer sitze, doch für den Moment bin ich noch nicht bereit, aufzugeben. Also schaue ich kurz auf mein Handy, als Taylor zu einem ihrer traurigeren Songs ansetzt, um diesen zu überspringen, als der Wagen plötzlich einen Ruck macht und mich mit einem erschrockenen Schrei aufblicken lässt.

Das Lenkrad umklammert versuche ich den Wagen zu stabilisieren, während ich gleichzeitig in die Bremse steige. Doch was ich auch tue, der Wagen schlingert weiter über die Straße. Dabei schafft es mein panischer Verstand gerade so noch zu registrieren, dass etwas mit der Lenkung sein muss, da kommt das Auto zu weit nach rechts ab und der Seitengraben setzt meiner Fahrt ein jähes Ende.

Der abrupte Halt lässt den Sicherheitsgurt in meine Schulter schneiden, doch glücklicherweise reicht der Schwung nicht, um mich nach vorne zu schleudern oder die Airbags auslösen zu lassen. Ich stoße mir nicht den Kopf, überschlage mich nicht oder fahre in einen der Leitpfosten, was so viel Glück ist, dass ich für eine Sekunde nur dasitzen und meinem lauten Herzschlag lauschen kann. Bum-bum. Bum-bum.

Dann fahre ich mir mit zittrigen Händen durchs Haar, während „Shake it off" weiter über die Lautsprecher plärrt. Die fröhliche Musik lässt mich hysterisch auflachen, während sich alles in mir in Schockstarre befindet. Mein Gott, was ist passiert?

Ich versuche mich an meinen Fahrschulunterricht zu erinnern, was bei einer Panne zu tun ist, aber mal vom Warnblinker abgesehen, will mir nichts einfallen. Das scheint mir jedoch ein sinnvoller Anfang, also stelle ich den Warnblinker an und den Motor ab, bevor ich die Fahrertür öffne, nur um mich fast auf die Nase zu legen, als meine Beine unter mir nachgeben. Mir ist heiß und kalt zu gleich und um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, ob ich mich gleich übergeben muss, aber nach einer Sekunde, die ich mich am Türrahmen festklammere, fühle ich mich sicher genug, um einige zittrige Schritte zu gehen. Der Seitengraben ist glücklicherweise nicht tief. Von außen betrachtet könnte ich genauso gut schief am Straßenrand gehalten haben, wäre da nicht der platte Vorderreifen, der mich verhöhnt.

Steif knie ich mich hin, aber ich kenne mich mit Autos kaum aus. Mal davon abgesehen, dass der Reifen eindeutig platt ist, kann ich nichts damit anfangen. Ich wüsste nicht mal, wie man ihn wechselt.

Bevor die Panik sich in mir ausbreitet, klammere ich mich an einen Gedanken. Reifen wechseln. Es muss ein Ersatzrad oder ähnliches geben. Also erhebe ich mich wankend und umrunde das Auto. Im Kofferraum begegnen mir das erste-Hilfe-Set und das Warndreieck. Letzteres wiege ich unschlüssig in den Händen. Ich weiß, ich sollte es aufstellen. Aber was, wenn ein Vorbeifahrender hält, um zu schauen, ob man mir helfen kann? Oder noch schlimmer: Wenn jemand die Polizei ruft? So gesehen habe ich keine gültige Fahrerlaubnis und diese Erkenntnis lässt endgültig die Panik in mir ausbrechen. Meine Hände zittern so sehr, dass ich es kaum schaffe den Boden des Kofferraums anzuheben, unter dem sich tatsächlich ein Ersatzrad versteckt. Was ich damit anfangen soll, weiß ich allerdings nicht und als sich meine Brust zuschnürt und ich das Gefühl habe, keine Luft mehr zu bekommen, muss ich mich in den Kofferraum setzen, um nicht zusammenzubrechen.

Oh mein Gott, was habe ich nur getan? Ich will nicht verhaftet werden oder schlimmeres. Was passiert überhaupt, wenn die Polizei mich erwischt? Kann ich mit dem kaputten Reifen vielleicht einfach nach Hause fahren? Am liebsten hätte ich mich zusammengerollt und Mom angerufen, damit sie mich aus diesem Schlammassel holt. Aber das ist keine Option. Ich muss es irgendwie schaffen, ohne dass sie Wind davon bekommt.

Den Tränen nahe stolpere ich zurück zur Fahrerseite und greife nach meinem Handy. Es braucht mehrere Anläufe, bis ich es entsperrt und meine Kontakte aufgerufen habe, weil meine Sicht verschwommen ist. Noch immer pumpt meine Lunge zu wenig Luft in mich und als ich meine Freunde durchgehe und feststelle, dass sie alle wahrscheinlich schon getrunken haben und nicht mehr fahrtüchtig sind, kann ich mich dem Schluchzen nicht mehr verwehren.

Was mache ich nur? Was mache ich nur?

Halb blind drücke ich schließlich auf meine letzte Hoffnung. Mir ist sogar völlig egal, was alles vorgefallen ist und wie beschämend es ist, ihn in dieser Situation anrufen zu müssen. Alles, was ich will, ist eine rettende Hand, nach der ich greifen kann.

Also schluchze ich los, sobald mein Gegenüber den Anruf annimmt.

„M...mir ist ein Reifen geplatzt und ich st...stehe im Seitengraben. Ich weiß nicht, was ich machen soll! B...bitte, kannst du kommen?"

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