Kapitel 20
Der Sonntag beginnt mit einem Sonnenstrahl, der mich im Gesicht kitzelt. Er ist viel zu hell und das Bett viel zu kuschelig, als dass ich mich dem anbrechenden Tag stellen will. Trotzdem bleibt mir der Zugang zum Land der Träume verwehrt, als ich mich mit einem Murren wegdrehe und dabei von dem warmen Körper entferne, an den ich die ganze Nacht geschmiegt lag.
„He." Davids Beschwerde klingt vernuschelt und ist ein klarer Hinweis darauf, dass er noch halb schläft, während seine Hand nach meiner tastet und mich zurückzieht. Ein kleines Grinsen schleicht sich auf mein Gesicht. Das macht er immer. Ich kenne keine Person, die so verkuschelt ist, wie David. Aber genau das macht unsere Beziehung so... Moment mal.
Blinzelnd öffne ich die Augen, während meine innere Uhr sich wieder auf Gegenwart stellt. Ich bin nicht mehr mit David zusammen. Und die Sonnenstrahlen, die uns durch das Fenster begrüßen, sind nicht die verheißungsvollen Vorboten eines unvergesslichen Sommers. Es sind die Abschlussgrüße der warmen, sonnigen Tage, bevor Wind und Regen übernehmen und die Welt wieder in einem öden grau versinkt.
Das Lächeln auf meinen Lippen verebbt und ich beobachte mit schwerem Herzen, wie sich eine Wolke vor die Sonne schiebt und die Realität über mich einbrechen lässt. Bilder von gestern ziehen an mir vorbei und ich bin mir nicht sicher, ob ich wütend schnauben oder mich peinlich berührt zusammenrollen soll. Habe ich wirklich all diese Dinge zu Dad und Noah gesagt? Im Rückblick fühlt es sich so an, als hätte gestern jemand anderes von meinem Körper Besitz ergriffen. Und ich weiß nicht, ob ich den Schaden beheben kann, den sie angerichtet hat.
Aber will ich das denn überhaupt? Die Bestie von gestern regt sich in mir und gibt ein leises Brüllen von sich.
Ich kann nicht fassen, dass Dad Tim und mich wirklich hat sitzen lassen. Wie er so frech sein konnte, zu behaupten, er wäre in letzter Zeit für uns da gewesen, wenn es darauf ankam. Der Gedanke macht mich wütend und schmerzt gleichzeitig so sehr, dass ich nicht weiß, wohin mit all den Empfindungen. Am liebsten würde ich schreien oder etwas einschlagen, aber ich kann nur ruhig liegen bleiben und die Fäuste so fest zusammenballen, bis sich meine Nägel in die Handballen bohren und dem Schmerz in mir ein Ventil geben. Ich wünschte, ich könnte Dad aus meinem Leben verbannen. Müsste mich nie wieder mit ihm beschäftigen. Die Vorstellung lässt meinen Hals eng werden und bevor ich mich der eigentlichen Wahrheit tief in mir stellen muss, überlagern Gedanken an Noah alles andere.
Was habe ich mir nur dabei gedacht, ihm so eine Szene hinzulegen? Scharm lässt meine Wangen bei der Erinnerung heiß glühen. Ich kann ihm nie wieder vor die Augen treten. Und die Art, wie mein Herz sich schmerzvoll zusammenzieht, verrät mir, dass was auch immer wir hatten, nun sicherlich vorbei ist.
Was gut ist. Denn ich bin eine starke, emanzipierte Frau und werde mich nicht mit etwas Halbem zufriedengeben.
Gleichzeitig ballt sich mein Magen zusammen, wenn ich mir vorstelle, nie wieder seine Lippen auf meinen zu spüren.
Wieso kann ich nicht einfach die Zeit zurückdrehen? Niemals einwilligen, etwas mit Dad zu unternehmen und mich stattdessen mit Noah verabreden, damit er gar nicht die Möglichkeit hat, sich mit dieser Anna zu treffen. Wie unwahrscheinlich dieses Szenario ist, weiß ich. Aber sich daran festzuhalten hilft, um die überwältigende Traurigkeit, die mich zu lähmen droht, zu vertreiben. Mit der aufkeimenden Wut auf Dad - auf diese Welt - komme ich deutlich besser zurecht.
„Seit wann bist du wach?"
David reckt sich mit einem Gähnen neben mir und die steile Falte zwischen meinen Augen verschwindet, als ich ihn anlächle.
„Noch nicht lange. Danke, dass ich hierbleiben durfte."
David grinst verschlafen und drückt mich fest an sich. „Mit niemandem hätte ich lieber den ganzen Abend Disney-Filme geschaut."
„Ich auch." Jedes Wort ernst meinend, kuschle ich mich an ihn. Als ich gestern hier ankam, war offensichtlich, dass David eigentlich etwas anderes geplant hatte. Überall im Raum waren Kerzen verteilt, er hatte eine Packung Pralinen gekauft und seinen besten Hoodie angezogen. Den moosgrünen, der so richtig schön kuschelig ist, und den man sich als Freundin irgendwann klaut, um ihn selbst anzuziehen. Als er mich gesehen hat, hat er nur gemeint, dass er kurz eine Sekunde braucht, ist zum Telefonieren rausgegangen und kam mit einer großen Packung Chips, meiner liebsten Schmusedecke und einem heißen Kakao wieder. Danach haben wir uns in seinem Bett verbarrikadiert und einen Disney-Film nach dem anderen geschaut, bis ich irgendwann nicht mehr wegen den Filmen geweint und David mein ganzes Herz ausgeschüttet habe. Ich weiß, dass er sich seinen Teil zu der Geschichte mit Noah gedacht hat. Aber er war so lieb, es für sich zu behalten, während er mich in den Arm genommen hat.
„Wie geht es dir?" David streicht mir liebevoll eine Haarsträhne aus dem Gesicht und ich berge mit einem Seufzen das Gesicht an seinem Hoodie.
„Kommt drauf an. Darf ich mich für immer hier verstecken?"
Ein Lachen rumpelt in Davids Brustkorb. „Du weißt, meine Eltern lieben dich. Sie lassen bestimmt mit sich verhandeln."
Überrascht von der Antwort grinse ich zu David hoch, doch der Schalk erlischt in seinen Augen, als er mit ernster Miene eine Hand um mein Gesicht legt. „Aber ich glaube deine Mom wäre sehr unglücklich, wenn du nicht mehr nach Hause kommst. Und Tim ebenso, auch wenn er es niemals zugeben würde."
Es hilft, dass David beruhigend seinen Daumen über meine Wange streichen lässt, um gegen das Brennen in meinen Augen anzukämpfen. Trotzdem bringe ich kein Wort hervor, sondern schürze nur schmollend die Lippen.
„Du hast so viele Menschen, die dich lieben, May. Konzentriere dich lieber auf diese, als dich von den anderen runterziehen zu lassen."
Gar nicht so einfach, wenn ‚die anderen' deinen biologischen Vater beinhalten. Ich weiß, dass David es so nicht gemeint hat. Er ist fest überzeugt, dass mein Dad mich liebt und es nur nicht schafft, es mir auf die Art zu zeigen, wie ich es brauche. Aber gestern hat mir nur einmal mehr gezeigt, wo Dads Prioritäten liegen. Und noch viel schlimmer: Dass er selbst auch noch glaubt, richtig zu handeln.
„Schau nicht so." Anscheinend sieht man mir meine Gedanken an, denn David verpasst mir einen Stupser auf die Nase. „Sonst muss ich Eva für das ultimative May-Bespaßungsprogramm anrufen. Und wir wissen beide, dass Eva die schweren Geschütze auffahren würde."
Ich lache bei der Vorstellung, denn Eva würde wirklich die halbe Welt in Bewegung setzen, wenn das Nötig wäre. Deswegen habe ich gestern auch David angerufen, nicht sie. Was ich gebraucht habe, war ein Abend zum Verstecken, und kein Date mit einem heißen Fußballspieler, um alle anderen Jungs zu vergessen. Das hat mir Eva nämlich angedreht, als ich mich von David getrennt habe, auch wenn ich damals gar nicht versucht habe, irgendjemanden zu vergessen.
Deswegen und weil ein kleiner Teil in mir die Hoffnung hatte, die Erinnerung an Noah würde neben David etwas verblassen. Dass die Scham über seine Zurückweisung weniger weh tun würde, in den Armen eines anderen. Die Bereitwilligkeit mit der David sein Date für mich abgesagt hat, hat jedoch alle Gedanken in diese Richtung verstummen lassen. Er ist mein bester Freund und ich bin viel zu dankbar, ihn zu haben, um unsere Freundschaft wegen solch einer dummen Aktion zu riskieren. Zumindest bei dieser einen Sache scheint sich meine Vernunft gestern durchgesetzt zu haben.
„Lass uns nicht über mich reden. Ich bin hier gestern einfach reingeschneit und habe deine Abendpläne gecrashed. Für wen hast du dich so schick gemacht?"
Ich zupfe an dem weichen Stoff des Hoodies, in dem David gestern eingeschlafen ist, und grinse breit, als ich merke, wie er seine Verlegenheit zu überspielen versucht.
„Was heißt hier schick gemacht. Ich war mit Ella zu einem gemütlichen Filmeabend verabredet. Du weißt schon, das Mädchen aus dem Connect."
Ich stoße ein freudiges Quietschen aus, das Eva alle Ehre gemacht hätte, und pieke David aufgeregt. „Gemütlicher Filmeabend also? Jetzt tut es mir ja noch mehr leid, dass ich euch in die Quere gekommen bin!"
Lachend versucht sich David meiner Piek-Attacke zu entwinden, hat aber keine Chance. „Hör auf! Ist doch nichts dabei."
Ich zeige Erbarmen, um ihm dafür einen kritischen Blick zu schenken. „Hör auf es runterzuspielen. Du magst sie. Ich kenne dich viel zu gut, als dass du mir etwas vormachen könntest."
David strahlt über das ganze Gesicht, auch wenn er es sichtlich zu verbergen versucht. „Ja, ich mag sie. Aber für dich bin ich trotzdem immer da."
Obwohl die Worte genau das Gegenteil bewirken sollten, lassen sie mein Herz sinken. Sie erinnern mich zu sehr an Noah, der mir ganz Ähnliches versprochen hat. Hätte ich ihn niemals geküsst, wären wir vielleicht wirklich wieder Freunde geworden.
Als wärst du mit Freundschaft jemals zufrieden gewesen.
Ich schlucke, verwirrt von dem, wie sich alles entwickelt hat. Noah hat recht. Wenn ich zurückdenke, war es fast immer ich, die ihn geküsst hat, die ihn in das Ganze hineinmanövriert hat. Aber gewehrt hat er sich immerhin auch nicht. Bei weitem nicht. Und dann war da noch dieser Moment in unserem Garten. Die Dinge, die er mir anvertraut hat. Unser Date im Planetarium. Wenn er das wirklich alles nicht gewollt hat, wieso hat er sich dann so verhalten?
Zu gerne würde ich mir einreden, dass er insgeheim genauso empfindet wie ich. Aber seine Reaktion, als ich gestern einen Schritt weiter gehen wollte, war fast noch eindeutiger als seine Worte. Was auch immer Noah sucht, ich bin es nicht.
„Danke David. Das bedeutet mir echt viel." Nicht bereit, meine Gedanken in diesem Moment mit jemandem zu teilen, lächle ich David an und bin dankbar für das Verständnis in seinen Augen.
„Nicht dafür." David greift nach meiner Hand und drückt sie mit einem schiefen Grinsen. „Also, bist du wieder bereit für die böse Welt dort draußen?"
Die Welt kommt mir wirklich böse vor, im Vergleich zu diesem warmen, kuscheligen Kokon. Aber die Auszeit hat meine Batterien neu aufgeladen. Es ist also nicht mal gelogen, als ich antworte: „Los geht's."
David ist so lieb und fährt mich mit dem Auto nach Hause, was ein Segen ist, wenn man bedenkt, dass ich gestern mit nicht mehr als den Klamotten an meinem Körper bei ihm aufgetaucht bin und draußen ein richtiger Herbststurm tobt. Außerdem gibt es mir keine Zeit nervös zu werden. Und damit meine ich nicht die verschwindend kleine Möglichkeit, Noah bei dem Wetter über den Weg zu laufen. Sondern der tobende Sturm, der mich zuhause erwarten wird, weil ich einfach so weggeblieben bin.
Ich habe auf Davids Drängen hin zwar Mom eine kurze Nachricht geschickt, aber das kurzangebundene „OK", welches als Antwort zurückkam, hat mich bereits vorgewarnt, worauf ich mich einstellen muss.
„Das wird schon. Melde dich kurz, wenn sich alles etwas gelegt hat." David drückt mir aufmunternd die Hand, als wir vor dem Haus halten und ich gequält lächle.
„Mache ich, danke dir für alles." Wohlwissend, dass ich für immer sitzen bleibe, wenn ich jetzt nicht aussteige, hüpfe ich aus dem Auto und schlinge für den kurzen Weg zur Haustür die Arme um mich. Trotzdem freue ich mich nicht, ins warme Innere zu kommen, denn kaum, dass die Tür hinter mir zu fällt, erklingt auch schon Moms Stimme: „May?"
Ich verziehe das Gesicht und gönne mir eine letzte Sekunde zum Schuhe ausziehen, bevor ich antworte. „Ja! Bin wieder da."
Der letzte Funke Hoffnung erlischt in mir, dass es damit erledigt ist, als Schritte auf der Treppe ertönen und Mom ein paar Sekunden später mit verschränkten Armen vor mir steht.
„Wieder trifft es ganz gut. Was denkst du dir dabei, einfach so über Nacht wegzubleiben? Weißt du, was für Sorgen ich mir gemacht habe?"
Ich seufze, absolut nicht bereit, jetzt diese Moralpredigt über mich ergehen zu lassen. Es ist ja nicht so, als hätte ich mich auf der Straße herumgetrieben.
„Ich habe dir doch geschrieben."
„Du meinst um zwei Uhr nachts?" Mom schnaubt entzürnt und ich winde mich innerlich, weil sie in dem Punkt leider recht hat. „Ich war kurz davor deinen Vater anzurufen, um gemeinsam nach dir suchen zu gehen!"
Dads Erwähnung löscht alle Schuldgefühle, die ich hatte. Stattdessen werde ich ebenfalls wütend. „Den hätte das eh nicht gejuckt. Genieß doch einfach, dass du mal einen Abend für dich hattest und lass mich in Ruhe!"
„May!" Mom klingt ehrlich entrüstet, als ich mich an ihr vorbeischiebe und die Treppen hinaufstapfe. „Bleib sofort stehen!"
Mit einem frustrierten Stampfen drehe ich mich auf der Hälfte der Treppe um. „Was?"
„Du kannst wütend auf deinen Vater sein, aber lass das nicht an mir aus. Ich gebe mein Bestes, alles irgendwie am Laufen zu halten, da brauche ich nicht auch noch dich gegen mich."
Moms Worte legen sich wie ein Seil um meinen Brustkorb und schnüren mir die Luft ab. Jetzt bin ich also auch noch der Feind, oder was? Ich will doch einfach nur meine Leben leben! Ist das denn zu viel verlangt?
„Ich bin nicht wütend, ich habe einfach nur keine Lust mehr auf den ganzen Mist."
„Na klar, du bist nicht wütend." Ich hasse es, dass ich den ironischen Blick, den Mom mir schenkt, nur zu gut kenne, weil ich genauso aussehe, wenn ich jemandem kein Wort glaube. „Wenn du nicht wütend bist, dann macht es dir bestimmt auch nichts aus, Hausarrest zu haben, bis du dir nicht mehr zu fein bist, deiner Mutter Bescheid zu geben, bevor du einfach wegbleibst."
„Mom, ich bin fast volljährig!" Fassungslos schaue ich Mom an, aber ihr Gesichtsausdruck ist entschlossen.
„Ja genau, und ich bin deine Mutter und gebe dir schon wirklich viele Freiheiten. Sich zu melden ist das Mindeste und bis du das nicht gelernt hast, kannst du hier zu Hause bleiben und mir im Haushalt helfen. Ich war gerade dabei das Bad zu putzen, das hört sich doch nach einer erwachsenen Aufgabe an, wie sie eine fast Volljährige übernehmen würde, nicht wahr?"
Irgendwas berstet in mir und das Nächste, was ich höre, ist das Klieren von Scherben, als ich das Familienbild von der Wand neben mir reiße und die Treppe hinunterschleudere. Mom weicht erschrocken zurück, auch wenn die Scherben vor ihr zum Erliegen kommen.
Der entsetzte Gesichtsausdruck, mit dem sie auf das zerstörte Foto von Dad, Tim, ihr und mir schaut, hat sich in meine Netzhaut eingebrannt, als ich nach oben renne und die Badtür hinter mir zu knalle.
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