Kapitel 16


Noah ist der Teufel und ich glaube ich schmore nur allzu gern in der Hölle.

Fast zwei Stunden sitzen wir mit meiner Mom auf der Terrasse - sie auf der einen Seite des Tisches und wir auf der anderen – und Noah experimentiert, wie er mich am besten verrückt machen kann, während ich für Mom so tun muss, als wäre alles beim Alten.

Zunächst ist es noch ganz unschuldig. Seine Finger, die sich mit meinen verschränken, und Moms Frage, wieso ich denn auf einmal so strahle. Doch das scheint Noah nicht zu reichen. Erst kreist sein Daumen über meinen Handrücken und lässt mich wohlig erschaudern, dann lässt seine Hand los, nur um auf meinem Oberschenkel zum Ruhen zu kommen. Dabei schützt mich keine Schicht Stoff vor dem elektrischen Knistern, das seine Berührung hervorruft, dank der kurzen Short, die ich mir heute Morgen angezogen habe. Dumme Wahl. Beste Wahl. Ich kann mich nicht entscheiden, doch glücklicherweise stellt Mom nicht in Frage, weshalb ich so oft den Gesprächsfaden verliere.

Ich wünschte, wir hätten nochmal einen Moment für uns, aber als Noah sagt, dass er zum Essen rüber muss, begleitet uns Mom bis zur Haustür. Also bleibt es bei einem keuschen Winken, bevor Noah nach Hause geht und ich in einer Mischung aus Glückseligkeit und Enttäuschung nach oben in mein Zimmer verschwinde.

Noahs Nähe fehlt mir jetzt schon. Es ist wie ein Sog, der mich zu meinem Fenster treibt, in der Hoffnung noch einen letzten Blick auf ihn zu erhaschen. Aber anscheinend ist er bei seinen Eltern im unteren Geschoss des Hauses geblieben und schließlich kann ich die Gedichtsanalyse nicht länger vor mir herschieben.

Doch bevor ich mich an meinem Schreibtisch fallen lasse, werfe ich seit Stunden den ersten Blick auf mein Handy und weiß nicht, ob ich lachen oder peinlich berührt stöhnen soll, als ich entdecke, was Eva mir geschickt hat. Eine Hand vors Gesicht geschlagen spähe ich zwischen meinen Fingern durch auf das Bild, welches Noah und mich mitten auf dem Rave beim Knutschen eingefangen hat. Ich habe beide Hände um sein Gesicht gelegt, während er mich mit seinen Händen ganz dicht an sich gezogen hat. In dem schattigen Licht, das die tausenden Fähnchen über uns geworfen haben, sehen meine sonst so undefinierbar braunblonden Haare sogar schön aus. Die zwei geflochtenen Zöpfe rahmen mein Gesicht ein, während der Rest glatt über meinen Rücken fällt und zu den Spitzen hin durch die Sonne gebleicht heller wird. Über Noah brauchen wir nicht zu sprechen. Er sieht wie immer zum Anbeißen aus und wäre es nicht ich, über die er sich beugt und mit seinem ganzen Wesen einzunehmen scheint, dann wäre ich mit Sicherheit auf die Glückliche neidisch gewesen.

So kann ich nur mit Unglauben das Foto betrachten, welches mir zum ersten Mal vor Augen führt, was ich zuvor nur gefühlt habe. Ich weiß jetzt schon, dass ich mir dieses Bild noch viele Male anschauen werde. Doch auch wenn ich es klammheimlich abspeichere, schicke ich Eva eine Emoji Kombination zurück, die wortlos ausdrückt: Wie peinlich, ich sterbe.

Glücklicherweise kennt Eva mich gut genug, um die Worte dahinter zu lesen.

Eva: Ich weiß, Schatz. Danken kannst du mir später.

Ich grinse breit, bevor mein Blick nachdenklich zum Balkon des Nachbarhauses wandert. Soll ich...?

Ohne lange nachzudenken, leite ich das Bild an Noah weiter, gemeinsam mit einem errötendem Smiley und der Unterschrift: Wir hatten wohl einen Paparazzi.

Keine Sekunde später bereue ich es. Noah wird das bestimmt peinlich finden. Was für ein Kindergarten, dass Eva uns heimlich fotografiert hat. Als wären wir zwölf und würden kichernd die Köpfe zusammenstecken, weil ein Junge beim Spielen aus Versehen unsere Hand berührt hat.

Zig Versionen schießen mir durch den Kopf, wie Noah den Chat öffnet und bereut, diesen Schritt gegangen zu sein. Ich bin sogar fast so weit, das Bild wieder zu löschen, da trudelt eine Nachricht auf meinem Handy ein und bringt alles in meinem Kopf zum Verstummen.

Noah: Ich befürchte eher zwei.

Keine Sekunde später folgt ein Screenshot von seinem Chat mit Kathi, die ihm ein ganz ähnliches Bild aus etwas anderem Winkel geschickt hat. Verdutzt betrachte ich einen Moment lang die Nachricht, bevor sich ein breites Lächeln auf mein Gesicht schleicht.

Ich: Die zwei dürfen sich niemals verbünden.

Noah: Die Weltherrschaft wäre ihnen gewiss.

Die Gedichtsanalyse kann noch etwas warten, als ich mich auf meinen Schreibtischstuhl fallen lasse und eine Antwort tippe. Zugleich verschwindet Kathis Bild gemeinsam mit dem von Eva ein einem Bilderordner, der nur mit einem Buchstaben benannt ist.

N🤍

Die Schule zieht sich die kommenden Tage wie Kaugummi. Es vergeht keine Stunde, in der ich nicht hibbelig auf das Ende warte, um wieder auf mein Handy schauen zu können, und keine Pause, in der ich nicht kurz vor einem Tod an purer Freude stehe, weil ich eine Nachricht von Noah habe. Es sind keine weltbewegenden Nachrichten. Mehr Small Talk abwechselnd mit Sticheleien, aber es reicht, um mich zum glücklichsten Menschen der Welt zu machen.

Montags in der Mittagspause schmeißt mich Allie mit Pommes ab, um den anderen zu beweisen, dass ich es nicht mal mitbekomme. Und da ich gerade auf der Suche nach einer passenden Antwort zu dem Bild bin, das Noah mir geschickt hat und ein Eichhörnchen auf dem Dach vor meinem Fenster zeigt, reagiere ich tatsächlich nicht auf den Kartoffelangriff. Was ist eine gute Erwiderung auf sein „Da haben wir also den Übeltäter!"? Soll ich die Chance nutzen, und etwas Flirtendes erwidern? Oder einfach in den Spaß einsteigen? Vielleicht sollte ich mich auch nochmal bedanken, immerhin hat er mir zweimal sprichwörtlich den Arsch gerettet.

Ich habe fünf Mal eine Antwort eingetippt und sie wieder gelöscht, als mir David einfach das Handy aus der Hand nimmt und es einsteckt. Auf meine eher unerfolgreichen Versuche, es ihm wieder abzunehmen, folgt ein Betteln, welches er genauso gekonnt abblockt. Letztendlich muss ich schmollend einsehen, dass ich mein Handy erst nach der Pause wiedersehe und vergesse es kurz darauf fast im Gespräch mit den anderen.

Allerdings nur fast, denn Noah hat die nervige Eigenschaft nie ganz aus meinem Kopf zu verschwinden. Vielleicht sollte ich David daher dankbar sein, dass ich Noah nicht wie ein verknallter Teenager direkt nach einer Sekunde antworte. Obwohl ich mich definitiv im Zustand verknallter Teenager befinde. Es ist schrecklich schön und um einen Teil meiner Selbstachtung zu erhalten, konzentriere ich die kommenden Tage all meine Selbstbeherrschung darauf, meine Antworten künstlich herauszögern, selbst wenn ich Noahs Nachricht gelesen habe, kaum dass sie auf meinem Display aufblinkt.

So ist es auch am Mittwoch, als ich mal wieder in unserem Garten sitze und mich an Mathe versuche. Noah hat mir vor knapp zehn Minuten geschrieben und leider stellt die Aufgabe, an der ich gerade sitze, keine gute Ablenkung dar. Ohne Allies Unterstützung haben sich die Zahlen und Zeichen für mich wieder in eine Fremdsprache verwandelt und ich lasse mit einem Seufzen die Stirn auf meinen Block fallen. Wie soll ich das nur hinbekommen?

„Soll man einen Rettungswagen rufen oder lieber die Aufgaben für das Matheabi stehlen?"

Ich weiß nicht, wie lang ich mich in meinem Selbstmitleid gebadet habe, als mich Noahs Stimme aufschrecken lässt. Schnellstmöglich richte ich mich auf, aber so wie Noah dasteht – die Arme lässig verschränkt und mit dem üblichen Funkeln in den Augen – hat er mich lang genug beobachtet, dass mir das Blatt, welches an meiner Stirn geklebt hat und nun langsam zu Tisch segelt, auch nicht mehr peinlich sein muss.

„Ersteres, solltest du Zweiteres nur als Spaß gemeint haben." Mit brennenden Wangen lasse ich das Gesicht in meine Hände fallen.

„Leider ja. Aber wenn du willst, kann ich trotzdem versuchen dir zu helfen."

Erschöpft blinzle ich zwischen meinen Fingern zu ihm hinüber. „In dem du mir ein Messer in die Brust rammst? Ja, bitte. Ich verspreche auch, dich in meinem Abschiedsbrief von aller Schuld freizusprechen."

Noah lacht über meinen verzweifelten Tonfall. Er kann ja nicht wissen, wie ernst ich es meine.

„Ich hatte da eher daran gedacht, zusammen mit dir zu lernen. Aber wenn du willst, können wir uns deinen Vorschlag als letzten Ausweg merken."

Die Worte wir und uns lassen mir einen angenehmen Schauer über den Rücken laufen. Als wären wir ein richtiges Team. Aber ich verkneife mir das breite Grinsen, was sich daraufhin auf mein Gesicht schleichen will. Stattdessen schaue ich Noah mit meinem besten Dackelblick an. „Würdest du das für mich tun? Immerhin hast du dir deine Ferien bestimmt wohl verdient."

Das Lächeln, welches mir Noah schenkt, lässt mein Herz höherschlagen, als seine Stimme warm und schmeichelnd über mich streichelt. „Für dich doch immer."

Zu beobachten, wie sich Noah daraufhin durch die kleine Lücke zwischen der Hecke und unserer Hauswand zwängt, die wir schon als Kinder als Abkürzung zwischen den Gärten genutzt haben, ist wie ein Déjà-vu. Es macht mir bewusst, wie viele Erinnerungen wir doch miteinander teilen, selbst wenn sie inzwischen so lange hinter uns liegen. Und sie lassen mein Herz ganz groß und weich werden für diesen jungen Mann, der so gar nichts mehr mit dem Kind von früher zu tun hat und doch noch genauso wichtig für mich ist wie damals. Ich glaube diese Gefühle sind niemals weggegangen, auch wenn ich eine Zeit lang gut darin war, mir das einzureden.

„Zeig Mal her." Noah lässt sich neben mich fallen und als er nach meinen Unterlagen greift, legt sich seine zweite Hand wie selbstverständlich auf mein Knie. Also erlaube ich mir im Gegenzug seinen Duft tief in mich aufzusaugen. Gott, ich befürchte sein Parfüm wird mich für immer zittrig in den Knien machen.

„Okay, das bekommen wir auf jeden Fall hin. Bis wohin verstehst du es denn noch...?" Als Noahs Blick zu mir gleitet, verlaufen sich seine Worte im Sand und werden von einem tiefen rumpelnden Lachen abgelöst, dass mir eine Gänsehaut beschert. Auch ohne zu wissen, um was es geht, breitet sich auf meinen Lippen ein Lächeln aus, während ich neugierig frage: „Was?"

Den Blick ganz konzentriert auf mein Gesicht gerichtet, hebt Noah die Hand und mir stockt der Atem in Erwartung auf... naja, vieles. Einen Kuss, eine zärtliche Berührung. Aber ganz sicher nicht in Erwartung darauf, dass er mir mit dem Daumen über die Stirn zu reiben beginnt, wie bei einer Dreijährigen, die im Dreck gewühlt hat.

„Ich sehe schon, Mathe und du stehen wirklich auf Kriegsfuß. Die Zahlen haben sich geradezu auf deine Haut geprägt."

Eine Sekunde schaue ich Noah verdattert an, der mit einem breiten amüsierten Lächeln, weiter meine Stirn bearbeitet, bis mir klar wird, was er meint. Sofort flammen meine Wangen auf und ich schlage seine Hände weg, um selbst hektisch über meine Stirn zu reiben. „Gott, das darf ja wohl nicht wahr sein! Kann ich bitte nur einmal ein Fettnäpfchen umgehen, anstatt mitten hineinzustolpern?"

Ich rechne es Noah hoch an, dass er sein Lachen zurückhält. Erst recht, da die Haut auf meiner Stirn brennt und wahrscheinlich knallrot ist, als er meine Hände einfängt und mich dazu zwingt, seinen Blick zu erwidern. Ich würde vor Peinlichkeit am liebsten vergehen, aber als ich das warme Strahlen seiner Augen sehe, ist selbst das vergessen. Behutsam legt er meine Hände in meinem Schoß ab, bevor er zärtlich eine Hand an meine Wange legt.

„Ich finde das niedlich. Das ist einfach May. Meine May."

Mein Atem stockt und dieses Mal legen sich seine Lippen wirklich auf meine und löschen alles andere aus.

Von mir aus hätten wir den restlichen Nachmittag so verbringen können. Ach was, das restliche Leben. Aber Noah war schon immer der Vernünftigere von uns beiden und so löst er sich schneller von mir als mir lieb ist, um sich den Matheaufgaben zuzuwenden.

Ich liebe Allie und ich weiß, dass sie insgeheim ein Genie ist. Aber für eine gute Lehrerin fehlt ihr die Geduld und das Verständnis, wenn andere ihren Erklärungen nicht direkt folgen können. Noah wiederum geht mit mir die Dinge notfalls dreimal durch und findet jedes Mal etwas andere Worte, bis ich das Thema wirklich durchsteige. Er schafft es sogar meine Aufmerksamkeit so weit auf die Aufgaben zu lenken, dass ich irgendwann seine warme Hand vergesse, die die ganze Zeit auf meinem Knie ruht.

Entsprechend geplättet schaue ich ihn nach knapp zwei Stunden später an. „Wann bist du so schlau geworden?"

Lachend lässt sich Noah in seinem Stuhl zurückfallen und drückt ein letztes Mal mein Bein, bevor die angenehme Wärme seiner Hand verschwindet. „Durch Nächte lange Qualen im ersten Semester."

Ich schnaube und ziehe kritisch eine Augenbraue nach oben. „Das sagst du doch nur damit ich mich besser fühle. Wahrscheinlich kannst du das schon seit der Mittelstufe."

Noah lacht, aber dem Geräusch fehlt die Freude, was mich augenblicklich innehalten lässt.

„Glaub mir May, ich habe nichts beschönigt. Die Prüfungsphase im ersten Semester war die Hölle. Ich will nicht wieder, wie dreißig Jahre älter klingen, aber das Abi ist ein Klacks im Vergleich zu dem, was an der Universität verlangt wird."

Wenn mir nicht schon zuvor aufgefallen wäre, dass das Thema Noah zu bewegen scheint, wäre es mir spätestens jetzt klar geworden, als er meinem Blick ausweicht. Das ist so unüblich für ihn, dass sofort all meine Alarmglocken schrillen und ich mich schlecht fühle, immer nur über meine Probleme geredet zu haben. Mir wird erst jetzt klar, wie wenig ich eigentlich über Noahs letzten Jahre weiß und wie dumm es von mir war, nie nachzufragen.

„Hey", behutsam greife ich nach seiner Hand, unsicher ob er die Nähe gerade will. Aber Noahs Finger öffnen sich bereitwillig, um meine willkommen zu heißen. „Das hört sich nach echt beschissenen Zeiten an. Ist es denn mit den Semestern besser geworden?"

Noahs Blick wirkt mit einem Mal unglaublich müde und ich nehme ihm das lockere Schulterzucken nicht ab. „In den meisten Fächern ja."

Ein schiefes Schmunzeln zupft an meinen Mundwinkeln, während all meine Aufmerksamkeit Noah gehört. „Und was ist mit den nicht meisten Fächern?"

Ein humorvolles Schnauben entkommt Noah bei meinen Worten und mit ihm verschwindet ein Teil der Spannung aus Noahs Schultern. „Die nicht meisten Fächer sind eigentlich nur ein Fach, und zwar Chemie."

Chemie. Mein Erzfeind Nummer zwei nach Mathe. Entsprechend ist das Mitgefühl nicht vorgespielt, als ich Noahs Hand aufmunternd drücke.

„Ich habe bisher kaum darüber gesprochen. Nicht Mal mit meinen Eltern. Alle fragen immer wie die Uni läuft und ich sage gut, weil es das ist, was die Leute hören wollen." Noah gluckst, aber der Laut ist bar jeder Freude. „Die realistische Gefahr, dass ich von der Uni fliege, wenn ich nochmal durch Chemie rassle, passt nicht sonderlich gut zu Smalltalk. Und es passt auch nicht hier her. Sorry, ich hätte..."

„He", ich stupse ihn mit der Schulter an. „Das passt sehr wohl hier her. Du musst dir mein ganzes Gefluche über Mathe doch auch anhören. Was heißt von der Uni fliegen?"

Ich sehe die Dankbarkeit in dem kleinen Lächeln, welches Noah mir zuwirft, und es lässt mein Herz höherschlagen. Ich kann ihm vielleicht nicht mit Chemie helfen, aber ich kann ihm zumindest ein offenes Ohr schenken.

„Du kannst eine Klausur maximal drei Mal schreiben. Ich bin im ersten Semester durch die Klausur gefallen und diesen Sommer leider auch." Ein schweres Seufzen begleitet seine Worte und ich rutsche soweit es mir möglich ist, noch ein Stück näher zu ihm. „Wahrscheinlich bin ich deswegen auch hier. Nach der Prüfung war ich so wütend auf mich selbst und überfordert mit allem drum herum... ich wollte einfach eine Auszeit. Mich wie früher fühlen und ein bisschen von zuhause zurück bekommen."

Als Noah seine Augen auf mich richtet, fühlt es sich so an, als wäre ich das Stück zuhause, das ihm gefehlt hat. Oder ich übertrage meine Gefühle auf ihn, denn jedes seiner Worte hat mitten in mein Herz getroffen. Dieser Wunsch nur für einen Moment sich wieder geborgen und ohne Sorgen zu fühlen. Das kann ich sehr gut nachvollziehen. Und ich hoffe, Noah dieses Gefühl genauso geben zu können, wie er es mir gibt.

„Und funktioniert es?" Meine Worte sind nur ein leises Wispern, aber mehr braucht es auch nicht, so nah ist mir Noah. Ich kann seinen Atem auf der Haut spüren und als sein Blick über mein Gesicht wandert, fühlt es sich wie eine Liebkosung an.

„Viel zu gut."

Noah streicht zärtlich über meine Wange und ich brauche all meine Willenskraft, um normal weiteratmen zu können. Zu wissen, dass er etwas mit mir geteilt hat, was sonst kaum jemand weiß, fühlt sich ernüchternd und berauschend zu gleich an. Ernüchternd, weil es mir bewusst gemacht hat, dass auch Noah seine Lasten zu tragen hat. Und berauschend, weil ich ihm nur zu gerne dabei helfen möchte.

„Wenn ich kommendes Semester die Prüfung nicht bestehe, werde ich nicht nur von meiner jetzigen Universität verwiesen, sondern kann nirgendwo mehr meinen Bauingenieur abschließen. Dann muss ich ganz von vorne anfangen."

In der Stille des Momentes höre ich Noahs schweres Schlucken. Ich kann mir nur vorstellen, wie viel er in das Studium investiert hat. Die Befürchtung im Nacken sitzen zu haben, dass das alles um sonst war, muss sich erdrückend anfühlen. Ich wünschte, ich könnte ihm einen Teil der Last abnehmen, doch das einzige was ich ihm bieten kann, ist der Rat eines Außenstehenden.

„Richte deinen Blick, auf das was du tun kannst, und nicht auf was alles passieren könnte. Sonst lähmt dich die Angst, obwohl du den Grips und den nötigen Ehrgeiz hast, um das zu schaffen."

Als Noah schnaubt, wirkt der Laut schon deutlich leichter. Ein Necken begleitet seine Worte, während er mir zärtlich eine Haarsträhne hinter das Ohr streicht. „Wann bist du so schlau geworden, May?"

„Ach, halt die Klappe." Lachend verpasse ich ihm einen Schlag auf die Schultern und ziehe seinen Kopf zu mir, bevor meine Worte ganz verklungen sind. Dieses Mal fühlt sich der Kuss nach mehr an als reiner körperlichen Anziehung. Es ist ein Kuss voller Verständnis und Respekt, für den jeweils anderen, und ich tauche erst wieder daraus auf, als der Himmel sich über uns öffnet und den letzten Sonnentag beendet.

Laut prasselt der Regen über uns auf den Schirm, der über den Terrassentisch gespannt ist, und lässt uns beide überrascht aufschauen. Graue Wolken türmen sich bis zum Horizont und weder Noah noch ich haben sie bis zu diesem Augenblick bemerkt.

„Oh Gott, meine Lernunterlagen!" Die verzückte Verblüffung über die dicken Regentropfen, die zu Abermillionen um uns herum zu Boden fallen, wird von jeher Panik abgelöst, als ein Windstoß die Tropfen unter den Schirm trägt und zugleich meine Blätter aufwirbelt. Im Versuch sie einzufangen, springe ich auf und bin innerhalb von ein paar Sekunden durchnässt, als ich den Blättern in den Regen folge. Wahrscheinlich mutet es von außen betrachtet an einen wilden Tanz an, wie ich durch unseren Garten hüpfe und dem Wind nachjage. Als ich die Blätter endlich in den Händen halte, japse ich atemlos nach Luft, doch von der Schrift ist trotzdem nicht mehr als blaue Striemen zu erkennen.

„Das Schicksal hat gesprochen. Ich soll kein Mathe lernen."

Ich stöhne und zerreiße in einem Anflug von Wut die pitschnassen Blätter. Wieso muss sowas immer mir passieren? Da habe ich einmal Notizen, mit denen ich das Thema wirklich verstanden habe, und dann das. Was sich nach einem kurzen Aufwallen von Wut angefühlt hat, wird ein heißer Klumpen in meinem Magen, der mich einen zornigen Schrei ausstoßen lässt.

„Nicht wütend werden. Ich kann es dir gerne nochmal aufschreiben."

Noahs Worte holen mich aus dem Tunnel raus, in dem ich auf die völlig zerstörten Unterlagen gestarrt habe. Er hat meinen Block nach drinnen gerettet und schaut mich mit einem schiefen Schmunzeln von der Terrassentür aus an, der den Zorn in mir wie bei einem Dampfkessel entlässt. Da ich aber nicht will, dass Noah sieht, was für einen Einfluss er auf mich hat, werfe ich in einer aufgebrachten Geste die Hände in der Luft.

Daraufhin lacht er und kommt mit drei großen Schritten, die Hände lässig in den Hosentaschen, auf mich zu. Ich schnappe überrascht nach Luft, als auch sein Shirt innerhalb von Sekunden an ihm klebt.

„Was machst du da?"

Ohne ein Wort schließt er das letzte Stück zu mir auf und entwendet mir mit sanften Griffen die nassen Papiere.

„Das Beste aus der Situation."

Ich bin wie angewachsen und kann Noah nur voller Erstaunen beobachten, als er nach meinen leeren Händen greift und mich sanft um meine eigene Achse dreht.

„Ist das nicht etwas kitschig?" Eigentlich will ich spöttisch klingen, aber das Lächeln, das an meinen Mundwinkeln zupft, verrät mich.

„Oh, nur wenn ich dich jetzt im Regen küssen und im Hintergrund ein Lied von Ed Sheeren spielen würde."

Noahs freches Grinsen bringt mich zum Auflachen und ich gebe es auf, stinkig zu sein. Scheiß auf Mathe. Das hier ist viel besser.

Vertraulich lege ich meine Arme um Noahs Mitte und ignoriere, wie unsere nassen Kleider an uns kleben. „Ed Sheeren wird wohl schwierig. Aber das mit dem Küssen bekommen wir glaube ich hin."

Ich strahle Noah an und sein Blick liegt funkelnd auf mir. Wie kann man nur so blaue Augen haben?

„Ja, bekommen wir das hin?" Noahs Worte streichen neckend über mich und ich springe sofort auf die Herausforderung an. Mit einer Hand greife ich nach seinem T-Shirt-Kragen und ziehe ihn zu mir hinunter. „Wenn wir das nicht hinbekommen, wären alle Filmproduzenten enttäuscht von uns."

„Die können wir natürlich nicht enttäuschen." Noahs Worte sind nur ein Murmeln an meinen Lippen und ich wusste nicht, wie sehr ich Regen lieben kann. Aber ich befürchte Noah hat etwas weiteres für mich unvergesslich mit ihm verbunden.

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