Kapitel 15


Als ich am nächsten Morgen aufwache, ziert ein Lächeln mein Gesicht, das wahrscheinlich die ganze Nacht nicht verschwunden ist. Ich fühle mich seltsam ausgeruht und zufrieden, trotz dem leichten Hämmern in meinem Kopf, und schwebe geradezu aus meinem Bett.

Ich kann nicht fassen, was gestern passiert ist. Als könnte ich den Küssen nachfühlen, berühre ich meine Lippen und muss mir im nächsten Moment ein lautes Lachen verkneifen. Noah hat mich geküsst. Oder ich ihn. Eigentlich auch egal, wie herum es war. Er wollte es, genauso wie ich. Oh mein Gott. Oh mein Gott!

Ich hüpfe im Kreis und versuche so leise wie möglich zu sein, während die Freude einfach so aus mir herausplatzt. Glücklicherweise sind meine Rollläden noch verschlossen, denn wahrscheinlich hätte Noah es sich ganz schnell anders überlegt, wenn er sehen würde, wie ich hier einen Freudentanz aufführe. Aber ich kann nichts dagegen tun, während alles in meinem Körper prickelt und ich mich so fühle, als könne ich einen Baum ausreißen.

Es dauert bestimmt zehn Minuten, bis ich wieder durchatmen und mir selbst sagen kann, dass alles normal ist. Ein ganz normaler Sonntag, der auf einen ganz normalen Samstag folgt, an dem ich Noah geküsst habe. Ich beiße mir heftig auf die Lippe, um nicht wieder über das ganze Gesicht zu strahlen.

Dann schlüpfe ich in eine Leggings und einen Sweater und mache mich auf den Weg nach unten. Weit schaffe ich es allerdings nicht, da lassen mich Stimmen aus Tims Zimmer innehalten.

„Na mein Junge, ist alles in Ordnung bei dir?"

„Ja Dad, alles in Ordnung. Mom ist halt Mom und May macht May-Sachen."

Wow, was für eine aussagekräftige Antwort. Ich verkneife mir ein Lachen, während ich über Tim die Augen verdrehen muss. Gleichzeitig macht mein Herz einen kleinen Satz. Er telefoniert mit Dad. Keine Ahnung, wann ich Dads Stimme das letzte Mal gehört habe, aber als er auflacht, fühle ich ein Ziehen in der Magengrube. Ich vermisse es Dads lautes Lachen zu hören, wenn er abends seine Sitcom schaut. Oder das Funkeln in seinen Augen zu sehen, wenn er Tim und mich morgens beim Frühstück aufzieht.

Unsicher bleibe ich im Gang stehen, während die beiden anfangen, über eins von Tims Spielen zu reden. Dad konnte das schon immer. Sich für alles begeistern, was uns wichtig ist. Auch wenn es daraus besteht, virtuelle Menschen abzuschießen. Ich konnte mit ihm über das Tanzen reden, wie mit keinem anderen Erwachsenen. Und egal was für ein Problem ich hatte, er war immer der Fels in der Brandung.

Mir fallen Noahs Worte ein, während ich die Türklinke zu Tims Zimmer anstarre. Dass ich selbst entscheiden darf, welche Beziehung ich zu Dad haben will, unabhängig von Mom. Und bevor sich wieder ein Knoten aus verletzten Gefühlen und familiären Loyalitäten in meinem Kopf bilden kann, drücke ich die Klinke einfach runter und manövriere mich durch das Chaos auf Tims Boden.

Ich kann Dads Bild auf dem Bildschirm sehen, bevor ich den Sichtbereich der Kamera betrete, mit der Tim videochattet. Er sieht gut aus. Gebräunt, gut gelaunt und jünger als ich ihn in Erinnerung habe. Es ist kaum zu leugnen, dass der Strand, den man hinter ihm sehen kann, und das Leben im Ausland ihm guttun. Ich wünschte nur, es würde uns ebenfalls beinhalten.

„Was zum...?" Tim fährt bei meinem plötzlichen Auftauchen herum, aber seine Stirn glättet sich, sobald er mich erkennt. Dad wiederum neigt sich neugierig zur Seite, als könne er dadurch mehr sehen, was logischerweise nicht der Fall ist. Ich muss den letzten Schritt machen, damit er mich entdecken kann.

„Was ist los, Tim?"

Fast als würde er einen Geist sehen, schüttelt Tim den Kopf, während er mich abschätzend betrachtet. „Nichts. May ist nur gerade in mein Zimmer geplatzt."

„May?" Die Überraschung und Hoffnung in Dads Stimme lassen mich heftig schlucken und bevor ich es mir anders überlegen kann, trete ich neben Tim und winke unsicher in die Kamera.

„Hi Dad."

Verblüfft huscht Dads Blick immer wieder über mich. Als könne er nicht ganz fassen, mich mal wieder zu sehen. Und vielleicht kann er das auch nicht. Es ist Wochen her, dass er das letzte Mal hier war. Und auch wenn ich weiß, dass Tim und er regelmäßig telefonieren, habe ich davon bisher immer Abstand genommen. Jetzt schlägt mir mein Herz bis zum Hals und ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich habe dich vermisst? Komm bitte wieder nach Hause? Beides fühlt sich zu intim an, um es über eine Videoverbindung zu gestehen.

„Wow, hi Spätzchen. Es tut mir leid, ich habe überhaupt nicht damit gerechnet, dich zu sehen. Aber es ist... schön."

Ein zaghaftes Lächeln zupft an Dads Lippen und seine offensichtliche Unbeholfenheit hilft mir dabei, mit meiner eigenen fertig zu werden. Ich lächle leicht, während ich mit dem Saum meines Pullis spiele.

„Ja, ich habe euch gehört und gedacht ich sage Mal kurz hi. Also, hi."

Mein Winken ist wahrscheinlich ziemlich einfältig, aber Dad scheint es mir nicht übel zu nehmen. Stattdessen schleicht sich ein Strahlen auf sein Gesicht, dass mein Herz hüpfen lässt.

„Das freut mich wirklich sehr. Wie geht es dir? Was gibt es Neues?"

Ich komme nicht Mal dazu den Mund zu öffnen, da wirft Tim schon schnaubend ein: „Oh, May geht es super. Noah ist zu Besuch daheim, also hat sie endlich wieder jemanden zum Anschmachten."

Dieses Mal ist es an mir meinen Bruder verblüfft anzustarren. Ich wusste nicht Mal, dass er lang genug von seinem Computer aufschaut, um so etwas mitzubekommen. Geschweige denn, dass mein Verhalten also doch so offensichtlich ist.

Dads Lachen klingt etwas nervös, was wohl verständlich ist, wenn sein Sohn mit den Liebeleinen seiner Tochter herausplatzt. Aber man muss ihm zugute halten, dass er es schafft die passenden Worte zu finden. „Ach, wie schön, dass Noah zu Besuch ist! Ihr wart immer so gut befreundet. Es fehlt einfach etwas, wenn er nicht da ist."

Ich bin mir sicher, noch gestern wäre mein Kopf jetzt tomatenrot angelaufen. Aber das Wissen darüber, dass auch Noah mehr in mir zu sehen scheint, als eine Freundin, gibt mir das Selbstvertrauen zu lächeln und zu nicken. „Ja, es ist echt cool, ihn mal wieder zu sehen."

„Und was gibt es sonst so? Wie läuft die Schule?"

Wahrscheinlich wäre Dad aus dem Club der Eltern geflogen, wenn er sich nicht nach der Schule erkundigen würde. Naja, wenn er das nicht sowieso schon vor einigen Monaten ist. Trotzdem hätte ich das Thema gerne einfach sein gelassen. Ich muss schon oft genug Mom Rede und Antwort stehen.

„Ist okay." Damit habe ich Tim eindeutig in nichts aussagenden Antworten übertroffen. Und Dads Blick nach, weiß er ganz genau, dass hinter dem okay deutlich mehr steckt.

„Ich bin mir sicher du gibst dein Bestes und ich hoffe, du nimmst dir auch genug Zeit für andere Dinge. Ein guter Schulabschluss ist wichtig, aber nicht alles im Leben."

Ich kann meine Augenbrauen gerade noch in letzter Sekunde davon abhalten, überrascht nach oben zu schnalzen. Die Antwort habe ich nicht erwartet. Früher hätte Dad weiter nachgehakt, versucht mir mit den Themen zu helfen, die mir schwerfallen, auch wenn dafür ein ganzer Sonntag draufgeht. Ich weiß nur nicht, ob ich diese neue entspannte Version von Dad mehr oder weniger mag.

„So oft wie sie bis nachts weg ist, hat May ganz sicher genug Ablenkung." Tims Stichelei holt mich aus meinen Gedanken und ich schaue meinen kleinen Bruder böse an.

„Wenigstens hat einer von uns beiden ein Sozialleben. Wenn du nicht zur Schule müsstest, würdest du dieses Zimmer gar nicht verlassen."

Anscheinend habe ich genau einen Nerv getroffen, denn Tim sitzt innerhalb einer Sekunde kerzengerade da und macht sich so groß wie möglich. „Ich habe sehr wohl ein Sozialleben! Ich mache jeden Tag was mit meinen Freunden."

Mit einem Augenverdrehen wende ich mich demonstrativ wieder Dad zu. „Online zählt nicht."

„Natürlich zählt online...!", bevor die Streiterei ausarten kann, unterbricht uns Dads Lachen. „Ich sehe schon, es ist alles beim Alten geblieben. Ihr habt es schon geschafft zu streiten, da konnte Tim noch nicht sprechen."

„Kein Wunder bei so einer Nervensäge."

„May war halt schon immer eine Zicke."

Unsere Antworten kommen wie aus der Pistole geschossen und als mein Blick auf Tim fällt, kann ich mir das Lachen nicht mehr verkneifen. Er ist echt gut darin geworden, Konter zu geben. Früher habe ich ihn oft gestichelt, einfach weil es Spaß gemacht hat zu sehen, wie ihm die Erwiderungen ausgehen. Heute ist er ein Gegner auf Augenhöhe und auch wenn es wohl bessere Geschwisterbeziehungen gibt, mag ich es, wie wir uns immer gegenseitig einen Spiegel vorhalten.

„Okay, okay, Waffenstillstand. Du hast Freunde und da ihr miteinander reden und euch sehen könnt, gilt meinetwegen sich online treffen als soziale Aktivität."

Eindeutig nicht überzeugt von meinem Sinneswandel beäugt mich Tim kritisch, aber ich meine es ernst. Ich will nicht streiten. Stattdessen wende ich mich zu Dad und frage so fröhlich wie ich es schaffe: „Und wie geht es dir, Dad?"

Erneut schaffe ich es ihn zu verblüffen. So interpretiere ich zumindest die Pause, bevor er seine Stimme wiederfindet. „Oh, es ist gerade etwas chaotisch, aber im Großen und Ganzen will ich mich nicht beschweren. Tatsächlich wollte ich heute mit Tim... mit euch reden", er versucht es zwar mit einem Räuspern zu vertuschen, aber ich merke Dads Ausrutscher. Und ich fühle mich schlecht, weil er absolut recht hat. Im Normalfall hätte er nur mit Tim sprechen können, weil ich ihm gar nicht die Möglichkeit dazu gegeben hätte. Aber ich lasse mir nichts anmerken, sondern lächle tapfer, während Dad sich an der Stirn kratzt.

„Nun ja, kommen wir einfach zur Sache. Judie und ich müssen frühzeitig von hier abreisen." Judies Name lässt mir einen Schauder über den Rücken laufen. In diesem Haus wird dieser Name gewöhnlich nicht ausgesprochen, als wäre sie Voldemort und wir Teenager-Zauberer, die die Welt rettten. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz und es fällt mir schwer, mir meine Abneigung nicht anmerken zu lassen. „Sie ist krank geworden und so schön Bali auch ist, würden wir uns doch beide besser fühlen, wenn sie in Deutschland behandelt wird."

Das hört sich ernst an und mir wäre beinahe die Frage herausgerutscht, was sie denn hat. Aber ich will es gar nicht wissen oder mich besorgt um sie geben. Ich wünsche niemandem etwas schlechtes, doch ich werde auch keine Energie darauf verschwenden, mich um die Frau zu kümmern, die meine Familie zerstört hat.

Dad seufzt schwer und gibt gleichzeitig sein bestes, sorglos zu wirken, als er weiterspricht. „Entsprechend werde ich nächste Woche wieder in Deutschland sein und ich würde mich sehr freuen, euch zwei zu sehen. Vielleicht können wir am Wochenende einen Ausflug machen, hm?"

Tim nickt sofort begeistert. Die beiden waren schon immer ein Herz und eine Seele und auch wenn ich weiß, dass Tim das letzte halbe Jahr ebenfalls schwer getroffen hat, hat es für ihn nie etwas daran geändert, wie er zu Dad steht. Ich wiederum zögere. Mit Dad sprechen ist das eine. Aber einen ganzen Tag zusammen verbringen? Ich weiß nicht, ob ich schon so weit bin, gleichzeitig sehnt sich etwas in mir, nach dem Anschein von Normalität. Und normal bedeutet, mit seinem Dad Zeit verbringen zu können.

Alle Augen sind auf mich gerichtet, als ich schließlich zögerlich nicke. Vielleicht wird es ja ganz cool. So wie früher, wenn Mom mit ihren Freundinnen verreist war und Dad der Allein-Entertainer für uns sein musste.

Dad freut sich auf jeden Fall sehr. Er strahlt die nächsten Minuten durchgehend, bis wir uns verabschieden und sein Bild verschwindet. Selbst Tim schenkt mir ein Lächeln, als er sich zu mir umdreht. „Cool, dass du mal wieder bei einem Anruf dabei warst."

Mein Herz schmerzt, als mir klar wird, dass auch er darunter gelitten hat, wie negativ Mom und ich auf Dad zu sprechen waren. Er ist jetzt der einzige Mann im Haus und ich bin mir sicher, das ist nicht immer einfach. Hat er jemanden zum Reden? Weiß er, dass er jeder Zeit zu mir kommen kann, wenn etwas ist? Ein Teil von mir würde ihn gerne all das fragen. Der andere fürchtet sich vor der Antwort und den Konsequenzen dieser.

„Fand ich auch." Um von meinem Unbehagen abzulenken wuschle ich Tim durch die Haare, bevor ich aus seinem Zimmer verschwinde, gefolgt von seinem empörten: „He!"

Einige Stunden später finde ich mich in meinem Zimmer wieder, im semi-erfolgsreichen Versuch, meine Hausaufgaben schnell hinter mich zu bringen. Dafür hätte ich wahrscheinlich mein Handy aus dem Zimmer verbannen sollen, denn so lasse ich mich von jedem Aufblinken ablenken, in der Hoffnung von Noah eine Nachricht erhalten zu haben. Was bisher nicht der Fall ist.

Als ich ein weiteres Mal vergeblich auf mein Handy schaue, nur um ein Reel von Eva zugeschickt bekommen zu haben, lasse ich mich mit einem Seufzen nach hinten fallen. Ich bin so gut wie durch mit der Gedichtsanalyse und auch die kleineren Aufgaben in den anderen Fächern sind bereits abgehakt.

Das hört sich für mich so an, als hätte ich mir eine kleine Belohnung verdient, also lasse ich wohl etwas zu eifrig meinen Stift auf den Schreibtisch fallen und laufe nach unten. Mom ist draußen auf der Terrasse, weshalb ich ungestört zum Tiefkühlschrank gehen und mir ein Eis rausnehmen kann. Tims Lieblingssorte: Mango-Kokos. Ich rümpfe die Nase – meiner Meinung nach geht nichts über Schokolade – da klingelt es an der Tür.

Darauf konzentriert, dass Stieleis aus seiner Verpackung zu holen, watschle ich zur Tür und rufe gleichzeitig: „Ich geh schon!", ohne mir wirklich Gedanken zu machen, wer an einem Sonntagnachmittag etwas von uns wollen könnte. Im Nachhinein hätte ich das vielleicht Mal tun sollen. Dann hätte ich meine Haare aus dem unordentlichen Dutt gelöst, anstatt mir das halbe Eis in den Mund zu schieben, bevor ich die Tür öffne und Noah davor entdecke.

„Was machst du denn hier?" In dem Versuch das Eis runterzuschlucken und zu reden, kommt mehr ein Gurgeln als richtige Worte aus meinem Mund. Womit ich anscheinend ganz herrlich zu Noahs Amüsement beitrage.

„Erst kauen, dann schlucken, May."

Er lacht und ich versuche nicht am Hirnfrost zu sterben, als ich den Bissen Eis endlich runtergewürgt habe. Aber wenigstens schaffe ich es, mir ein Lächeln abzuringen. „Sorry, mit dir habe ich nicht gerechnet."

Das Funkeln in Noahs Augen, als er für eine Antwort ansetzt, setzt meinen ganzen Körper in Aufruhr. Aber wie immer hat Mom das schlechteste Timing der Welt.

„Noah! Wird es zur Gewohnheit, dass du vor unserer Tür stehst?" Es ist Mom anzusehen, dass ihr es absolut nichts ausmachen würde, wenn Noah jeden Tag vorbeischauen würde. Immerhin war sie als er noch ein Kind war, fast wie eine zweite Mutter für ihn.

„Mal sehen, bisher haben die Besuche immer schön geendet."

Noahs Blick lässt mich erschaudern, denn ich weiß nur zu gut, auf was er anspielt. Seine Lippen auf meinen. Federleichte Berührungen. Bei Gott, es war schön. Aber ich hoffe es war noch nicht das Ende.

„Na dann, geben wir unser Bestes, dass sich daran nichts ändert." Mom lacht, völlig unwissend, was eigentlich gemeint ist, und mir schießt das Blut ins Gesicht. Oh Gott. Und Noahs frechem Grinsen nach, ist er sich nur zu bewusst, in was für eine Lage er mich gebracht hat.

„Willst du reinkommen und vielleicht ein Eis haben?"

Mom greift über mich nach der Tür, die ich nur halb geöffnet habe, und lässt sie weiter aufschwingen. Aber Noah schüttelt schon den Kopf und sein Gesichtsausdruck wird ernster.

„Nein, nein. Tatsächlich bin ich wegen den Dachziegeln hier. Laut Wetterbericht soll es kommende Woche regnen, deswegen dachte ich, es wäre gut, das zeitnah zu richten."

„Oh", Mom scheint die ganze Sache mit dem Loch im Dach ähnlich wie ich vergessen zu haben. Zumindest schaut sie ziemlich überrascht, bevor sie eifrig nickt und wir beide Noah Platz machen, um ihn eintreten zu lassen. „Natürlich! Das ist sehr vorausschauend von dir. Die Leiter steht im Gartenschuppen, ich kann sie dir zeigen."

Ganz in ihrem Element will Mom bereits vorgehen, da hält sie Noah zurück. „Nicht notwendig. Ich glaube über Mays Zimmerfenster sollte ich ganz einfach aufs Dach kommen."

Mir stockt der Atem und ich gebe mein Bestes, nicht anklagend zu Noah hochzuschauen, als er neben mir stehen bleibt. Das hat er nicht gesagt, oder? Angespannt schaue ich zu Mom rüber, ob sie eins und eins zusammenzählt und ihr klar wird, dass kein Tier, sondern ihre Tochter übers Dach gelaufen ist. Aber sie wirkt völlig ahnungslos und als mich zwei Finger neckisch in die Seite zwicken, wird mir bewusst, dass Noah seine selige Freude daran hat, mich in Verlegenheit zu bringen. Was ihm leider sehr gut gelingt.

„Oh, darüber habe ich noch nie nachgedacht. Aber wahrscheinlich hast du Recht. Ist doch in Ordnung, wenn Noah kurz durch dein Zimmer geht, oder May?"

Ich bin viel zu sehr damit beschäftigt, nicht schuldig auszusehen, um mir eine schlagfertige Antwort einfallen zu lassen. Also nicke ich nur einfältig und bemühe mich um ein normales Lächeln. Wahrscheinlich sieht es aber eher nach einer Fratze aus. Ganz sicher werde ich Noah keine Sekunde mit Mom allein lassen. Wer weiß, auf was Noah noch so kommt, meiner Mom zu stecken. Also setze ich mich mit den zweien in Bewegung. Das Eis in meiner Hand ist dabei völlig vergessen.

Oben angekommen schaut sich Noah neugierig in meinem Zimmer um. Immerhin hat er es das letzte Mal gesehen, als ich noch in einem rosa Himmelbett geschlafen habe. Mir nur allzu bewusst, dass ein BH mitten auf meinem Bett liegt und es auch sonst schon ordentlichere Zustände meines Zimmers gegeben hat, gebe ich mein Bestes, nicht rot anzulaufen. Trotzdem hebe ich hinter Noah ein paar der Kleidungsstücke auf dem Boden auf und schmeiße sie unauffällig auf meinen Schreibtischstuhl.

„Brauchst du irgendetwas an Werkzeug? Ich kenne mich da wirklich nicht aus, aber ich bin mir sicher, wir finden alles Nötige." Mom öffnet mein Fenster, während sie Noah verlegen anlächelt, aber dieser schüttelt nur freundlich den Kopf.

„Ich denke nicht. Ziegel sind ineinander verhakt, das sollte ich ohne Werkzeug hinbekommen."

Um ehrlich zu sein, habe ich noch nie darüber nachgedacht, wie Ziegel befestigt sind. Irgendwie bin ich einfach davon ausgegangen, dass sie angeklebt sind oder so. Aber Noah scheint tatsächlich genau zu wissen, was er tut, als er sich vorsichtig raus aufs Dach schwingt und sich vor den losen Ziegeln hinkniet. Mom und ich gehen synchron einen Schritt vor und beobachten ihn beeindruckt, als er Ziegel für Ziegel wieder an seinen Platz legt und sie ineinander verankert. Allerdings bin ich mir ziemlich sicher, dass Moms Aufmerksamkeit dabei auf dem Dach liegt, während ich mich nicht vom Spiel der Muskeln lösen kann, das durch Noahs weißes Shirt gut sichtbar ist. Mir war nie klar, dass handwerkliches Geschick so sexy ist. Oder, dass ich mich noch mehr zu Noah hingezogen fühlen könnte. Aber als er nach getaner Arbeit zu uns aufblickt und grinst, hätte ich am liebsten mein Handy gezückt, um diesen Moment für immer verewigen zu können.

„Schon fertig."

Voller Erstaunen machen Mom und ich wieder Platz und Noah klettert mit geschickten Griffen ins Zimmer zurück. Bei mir sieht das auf jeden Fall nie so elegant aus. Aber den Kommentar kann ich mir zum Glück gerade so verkneifen, bevor ich mich selbst verraten hätte.

„Vielen Dank, Noah. Woher kannst du denn sowas?"

Das Verblüffen ist Mom anzuhören. Wahrscheinlich denkt sie sich insgeheim, wieso ihre Kinder nicht so talentiert sind. Übelnehmen könnte ich es ihr nicht.

Noah zuckt mit den Schultern und lächelt. „Ich habe ein Praktikum auf dem Bau gemacht. Da lernt man so einiges."

Ohje. Ich sollte das Bild von Noah oberkörperfrei auf einer Baustelle lieber ganz schnell los werden, so lange meine Mom in der Nähe ist. Tatsächlich ist das aber unheimlich schwer, wenn er mich so ansieht, wie gerade. Mit funkelnden Augen und einem humorvollen Zug um den Mund. „Hoffen wir Mal, dass nicht allzu bald wieder ein Tier vor Mays Fenster herumklettert." Oder übersetzt: Hör auf aus dem Fenster zu klettern.

Es macht mich verrückt, Noah kein Konter geben zu können, während Mom herzlich auflacht. Diese ganze Scharade scheint jeden zu amüsieren, außer mich.

„Das hoffen wir aber wirklich. Immerhin bist du in zwei Wochen wieder weg. Was sollen wir dann nur tun?"

Die Worte sind wie ein Kübel Eiswasser und ich zucke regelrecht zusammen. So bald schon? Mir war klar, dass Noah nur begrenzte Zeit hier ist, doch wie begrenzt die Zeit ist, hatte ich mir nicht bewusst gemacht. Und jetzt, wo sich nach all den Jahren endlich mehr zwischen uns zu entwickeln scheint... Ich schlucke schwer, tapfer darum bemüht, einen neutralen Gesichtsausdruck aufrecht zu erhalten.

„Solltet ihr Hilfe brauchen, bin ich versprochen immer nur einen Anruf entfernt."

Ich weiß nicht, ob die Worte insbesondere an mich gerichtet sind, weil ich Noahs Blick ausweiche. Ich will nicht, dass er sieht, wie sehr es mich trifft, ihn so bald schon wieder zu verlieren. Und ich befürchte, er würde in meinen Augen lesen wie in einem offenen Buch.

Ich zweifle keine Sekunde, dass sein Versprechen aufrichtig ist. Aber ich weiß auch, wie das Leben einen dazwischen spielt, wenn man räumlich voneinander getrennt ist. Dads neue Wohnung ist nur eine halbe Stunde von hier entfernt und trotzdem ist er, selbst wenn er in Deutschland ist, kaum Teil von unserem Leben.

„Das ist wirklich sehr lieb von dir, Noah. Du bist zu einem tollen jungen Mann herangewachsen."

Ich sehe nur Moms Füße, als sie zu Noah rübergeht und ihn umarmt, weil ich den Kopf krampfhaft gesenkt halte. Mein Herz fühlt sich wie ein malträtierter Klumpen Fleisch an und am liebsten würde ich mich einfach aufs Bett schmeißen und den restlichen Abend weinen. Wie kann Noah mir nur so schnell wieder so wichtig geworden sein? Zumal ich es doch hätte besser wissen müssen. Es hat mich Jahre gekostet über ihn als Freund hinwegzukommen. Ich kann mir gar nicht ausmalen, wie es jetzt sein soll, auch wenn ich nicht genau weiß, was wir eigentlich gerade sind.

Mom schlägt vor, dass wir uns alle noch in den Garten setzen und zwingt Noah geradezu ein Eis als Dankeschön auf. Ich kann nicht nein sagen, ohne mich zum Affen zu machen, also sage ich einfach nichts, was wohl als Zustimmung aufgefasst wird.

Ich merke, wie Noah versucht mir auf dem Weg nach unten näher zu kommen. Einmal sagt er sogar leise meinen Namen, wahrscheinlich weil ich ihn seit mehreren Minuten nicht mehr ins Gesicht schauen kann. Oder er spürt die Distanz, die sich durch die Worte meiner Mutter wie ein Graben zwischen uns aufgetan hat. Aber ausnahmsweise bin ich für Moms redselige Art dankbar, denn sie verwickelt Noah sofort in ein Gespräch, sodass er sich mit einem letzten Blick, den ich auf der Haut prickeln spüre, von mir abwendet.

Da mein Eis inzwischen mehr auf meiner Hand klebt als auf dem Stiel, schmeiße ich es in der Küche einfach weg. Der Appetit ist mir sowieso vergangen.

„Ach herrjemine", ruft da Mom plötzlich aus und bringt mich damit erstmals dazu, den Blick vom Boden zu lösen. Sie steht an der Tiefkühltruhe, eine Hand vor die Stirn geschlagen. „Ich habe ja ganz vergessen die Wäsche aufzuhängen. Entschuldigt mich kurz, ihr Zwei. Setzt euch gerne schon raus, ich bin gleich wieder da!"

Wahrscheinlich das erste Mal in meinem Leben empfinde ich das Bedürfnis, meiner Mom anzubieten, mich für sie um die Wäsche zu kümmern. Aber bis ich den Mund auf bekommen habe, ist sie bereits aus der Küche geflitzt und lässt mich mit einem Noah allein, dessen Blick verrät, dass er die Chance nicht ungenutzt lassen wird.

Ich schlucke schwer, fieberhaft auf der Suche nach einem Ausweg. Ich will nicht mit Noah reden. Will nicht erklären, was in mir los ist. Er hat seitdem er hier ist schon so viel von meinen innersten und intimsten Gefühlen mitbekommen. Ich will mich nicht auch noch damit lächerlich machen, dass ich bereits jetzt um seine Abreise trauere.

„Du weißt ja, wo die Terrasse ist. Ich muss noch...", in einem schwachen Versuch zu entkommen, deute ich hinter mich. Aber da hat Noah auch schon mit wenigen Schritten die Entfernung zwischen uns überbrückt und keilt mich zwischen sich und dem Küchentresen in meinem Rücken ein.

Seine Nähe ist so plötzlich und überwältigend, dass mir ein kleines Keuchen anstatt der hastig zurechtgelegten Ausrede über die Lippen kommt. Aus einem Reflex schießt mein Blick nach oben. Ein Fehler wie sich herausstellt, als seine blauen Augen meine einfangen und nicht mehr loslassen.

„Was ist los, May?"

Noahs Blick versucht mich zu ergründen und unter seiner Aufmerksamkeit breche ich beinahe zusammen. Wie kann ich ihm sagen, dass ich nicht will, dass er geht, ohne wie ein kleines Kind zu klingen? Natürlich wird er wieder gehen. Sein Leben spielt sich schon länger nicht mehr hier ab. Er lebt in einer anderen Stadt, hat andere Freunde und andere Herausforderungen zu meistern. Ich bin kein Teil davon.

Als meine Unterlippe ohne meine Einwilligung zu zittern beginnt, beiße ich so heftig darauf, bis ich Blut schmecke.

„Nichts. Nur ein langer Tag." In dem Versuch die intensive Anspannung zwischen uns zu kappen, drehe ich den Kopf zur Seite. Aber Noahs Hand packt sanft mein Kinn und dreht es bestimmt zu sich.

„Ich glaube dir kein Wort. Also Versuch Nummer zwei: Was ist los?"

Sein Griff wird lockerer, sobald ich mich wieder in seinen Augen verliere, und sein Daumen beginnt zärtliche Kreise auf meiner Haut zu ziehen. Es ist eine unbewusste kleine Geste, aber sie bringt mich bedrohlich nah an den Abgrund meiner Gefühle.

„Du kannst nicht gehen." Die Worte entkommen mir als ersticktes Flüstern und dieses Mal bekomme ich das Zittern meiner Unterlippe nicht mehr unter Kontrolle. Vorsichtig fährt Noah mit seinem Daumen über sie.

„Wie meinst du das?" Forschend blicken seine blauen Augen in meine und lassen damit meine letzten Mauern einstürzen.

„Du kannst nicht gehen und mich hier wieder allein mit all dem lassen." Ich schnappe nach Luft, die mir plötzlich auszugehen scheint. Meine Gedanken sind reines Chaos und es fällt mir schwer, sie in sinnvolle Worte zu übersetzen. „Ich habe heute morgen mit Dad geredet und es war das erste Mal wieder... schön. Du kannst dich nicht in mein Leben schleichen, die Dinge endlich wieder etwas gerader rücken, und dann einfach wieder gehen."

Meine Augen schwimmen in ungeweinten Tränen, aber ich halte Noahs Blick, als mich dieser voller Mitgefühl anschaut. Er gibt die Position auf, mit der er mich eingekesselt hat, und kommt stattdessen noch ein Schritt näher, um mich in die Arme zu nehmen. Mein Kopf sinkt sofort an seine Brust und findet diesen einen Platz, der sich wie für mich gemacht anfühlt.

„Ich habe mein Versprechen vorhin ernst gemeint, May. Du kannst mich jederzeit anrufen. Und ich bin ganz sicher nicht das letzte Mal hier." Es ist lächerlich, aber mein Herz sinkt, als es die irrationale Hoffnung verliert, er würde mir versprechen, hier zu bleiben. Ich drücke das Gesicht noch etwas fester an seine Brust, als die ersten heißen Tränen über meine Wangen kullern.

„Und ich weiß, wie stark du bist, May." Noahs Worte sind ein leises Raunen, das nur für mich bestimmt ist. „Du schaffst das."

So fühle ich mich allerdings nicht, als ich mich stumm weinend an ihn klammere. Mir war es bis zu diesem Moment selbst nicht klar, aber Noah hat auf eine verquere Art und Weise Stabilität in mein Leben gebracht, die ich so dringend gesucht habe. Er war die eine Sache, um die ich mir in den letzten Tagen Gedanken machen konnte, wenn ich nicht an meine Eltern oder den bevorstehenden Schulabschluss denken wollte.

„Außerdem", er schiebt mich ein Stück von sich, um mit seinen viel größeren Fingern die Tränenspuren von meinen Wangen zu wischen, „gehe ich ja noch nicht morgen. Und ich würde die Tage viel lieber mit schönen Erinnerungen füllen, als dich weinen zu sehen."

Als ich blinzle löst sich eine letzte Träne von meinen Wimpern und es fühlt sich wie heilen und zerbrechen zu gleich an, als Noah sie mit seinen Lippen fängt. Egal wie, er löst damit in mir ein Brennen aus und mit einem Mal bin ich ganz seiner Meinung. Wenn ich nur noch zwei Wochen habe, dann will ich jede Sekunde davon ausnutzen.

Ich spüre das kurze Aufblitzen von Überraschung, als ich mich auf die Zehenspitzen stelle und Noahs Mund auf meinen ziehe. Seine Hände wandern zu meiner Taille und umklammern mich dort mit der Dringlichkeit, die auch ich in mir spüre, während unsere Zungen kämpfen.

Der Kuss ist nicht süß oder zärtlich. Es ist der Kuss von zwei Menschen, deren Zeit begrenzt ist. Genauso sind unsere Hände nicht die von Geliebten, sondern von Verzweifelten, die Halt aneinander suchen. Meine Finger gleiten unter den Saum von Noahs Hemd und ich weiß nicht, wer von uns beiden stöhnt, als ich seine warme Haut und die harten Muskeln unter meinen Fingerspitzen spüre.

Noahs Antwort besteht daraus, mich auf den Küchentresen zu heben, wodurch unsere Zähne unsanft aufeinander knallen, weil keiner von uns beiden den Kuss unterbrechen will. Und das macht es nur noch perfekter. Die Hände um Noahs Gesicht gelegt, ziehe ich ihn so nah wie möglich zu mir, spüre ihn, wie er dicht gedrängt an mir steht und...

„Oh Gott. Das gehört zu den zehn Dingen in meinem Leben, die ich am liebsten aus meinem Gedächtnis löschen würde."

Erschrocken fahren wir auseinander und ich weiß nicht, ob es Noah oder Tim, der eine Hand vor die Augen geschlagen in der Küchentür steht, zu verdanken ist, dass mein Herz galoppiert. Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem, genauso wie bei der Röte auf meinen Wangen.

„Sorry, Bro." In seiner typischen Geste kratzt sich Noah verlegen am Kopf und ich muss den unangebrachten Drang widerstehen, laut loszulachen. Dafür ist es viel zu traurig, als Noah meinem Bruder zu liebe einen weiteren Schritt Distanz zwischen uns bringt.

Eine Hand noch immer vor die Augen gehalten, winkt Tim nur ab, während er halb blind zum Kühlschrank läuft. „Ich will es gar nicht hören. Lasst uns einfach so tun, als wäre das nie passiert, klar?"

Noahs Blick trifft meinen und als ich sehe, wie seine Schultern unter lautlosem Lachen beben, wäre es beinahe auch um mich geschehen.

„Ich weiß nicht Mal was du meinst." Bringe ich gepresst heraus und erhalte dafür von meinem kleinen Bruder ein ironisches „Mhm", bevor er mit einer Milchschnitte in der Hand aus der Küche stürmt.

Seine Schritte sind auf der Treppe nicht Mal ganz verklungen, da bricht aus Noah das erste Lachen heraus und auch ich kann mich nicht mehr zurückhalten.

Es fühlt sich wie selbstverständlich an, als Noah, der vor Lachen kaum an sich halten kann, zu mir rübertaumelt und seine Stirn gegen meine Schulter lehnt. Und ich schwöre mir, jeden dieser Momente wie meinen kostbarsten Schatz zu hüten, als ich Noah durch seine weichen Haare streichle, während wir gemeinsam aus vollstem Herzen lachen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top