Kapitel 12
Als ich am nächsten Tag aufwache fühlen sich meine Augenlider schwer und geschwollen an. Aber auf eine gute Art und Weise. Auf diese ich-habe-alles-rausgelassen Art und Weise.
Obwohl ich mich, wenn es nach mir ginge, genauso gut umdrehen und noch eine Runde schlafen könnte, strample ich mich von meiner Decke frei und setze mich auf, bevor meine Augen mir doch einfach wieder zufallen. Wann bin ich gestern überhaupt ins Bett gekommen? Es hat sich wie eine Ewigkeit angefühlt, die Noah und ich in dem Kissenmeer mitten in unserem Vorgarten verweilt sind. Dabei haben wir kein Wort miteinander gesprochen, während er mir den Halt gegeben hat, von dem ich mir gar nicht bewusst gewesen bin, wie dringend ich ihn benötigt habe.
Ich weiß nicht, ob ich bei der Erinnerung lächeln oder mir peinlich berührt die Hände vors Gesicht schlagen soll. Aber was feststeht, ist dass ich ihm ein Dankeschön schulde. Zum einen, da er mich vor einem gebrochenen Bein oder sonst was gerettet hat, zum anderen für... naja alles andere.
Ich will mich gerade Richtung Bad schleppen, um mit einem Schwung Wasser im Gesicht richtig wach zu werden, bevor ich doch noch zu spät für den Rave dran bin, als es mir siedend heiß einfällt. Das Dach!
Obwohl ich schon weiß, welcher Anblick mich erwartet, haste ich zum Fenster und stöhne verzweifelt, als ich die verrutschten Ziegel sehe. Wie in Gottes Namen soll ich das Mom erklären? Vielleicht mit einem Brief, während ich im Flieger nach sonst wo sitze.
Aufgewühlt reibe ich mir über die Stirn, aber mir fällt nichts ein, wie ich das verbergen kann. Das Dach ist von der Straße gut einsehbar. Selbst wenn Mom es nicht selbst entdeckt, werden es ihr die Nachbarn sagen. Und kann ein Dach undicht werden, wenn die Ziegel verrutscht sind?
Das Einzige, was noch schlimmer wäre, als Mom zu beichten, dass ich aufs Dach geklettert bin und ein Loch hinterlassen habe, ist ihr das Ganze zu erklären, während wir einen Wasserschaden im Wohnzimmer haben.
Unruhig tigere ich im Zimmer auf und ab, aber letztendlich hat es keinen Sinn. Ich muss mit ihr reden. Da ich aber auch in zwei Stunden bei Max sein muss, wenn ich mit den anderen auf das verlassene Airfield fahren will, entscheide ich mich, erstmal duschen zu gehen, um dem ganzen zumindest wach und bei vollem Verstand entgegentreten zu können. Außerdem erscheint es mir sinnvoll, fluchtbereit zu sein, für den Fall, dass Mom einen Tobsuchtanfall bekommt.
Es ist wohl aber auch etwas Zeit schinden dabei, als ich mich besonders gründlich dusche, mir ausführliche Gedanken über mein Outfit mache und mich sogar schminke und die Haare glätte, bevor ich auch nur einmal nach unten gegangen bin. Aber irgendwann gibt es keine Ausreden mehr und ich schaue mich selbst mit einem Seufzen aufmunternd im Spiegel an. Mit dem schwarzen korsettartigen Oberteil, kombiniert mit einer zerrissenen schwarzen Shorts und einer Netzstrumpfhose sehe ich so aus, als könnte ich es mit jedem aufnehmen. Dazu noch meine Dr. Martens und ich bin bereit für den Rave. Für meine Mom allerdings trotzdem nicht.
Ich verziehe meinen Mund, der in ein dunkles Rot gefärbt ist, und zwicke mich einmal selbst. Los geht's, May.
Ich fühle mich tatsächlich fluchtbereit, als ich mit meiner Tasche nach unten laufe und in meine Schuhe schlüpfe, bevor ich das Wohnzimmer betrete. Mein Magen ist zu einem ängstlichen Knoten zusammengeballt und obwohl es über zwölf Stunden her ist, dass ich etwas gegessen habe, bin ich Welten davon entfernt Hunger zu haben. Mom wird ausrasten. Selbst wenn ich den Teil mit dem vom Dachfallen weglasse.
Jetzt gerade sitzt sie allerdings entspannt auf dem Sofa und blättert in einem Magazin. Sie hat ein süßes Sommerkleid an und mir schießt sofort ihr Satz von gestern in den Kopf. „Ich verhalte mich nicht nur wie eine verbitterte Exfrau, ich sehe auch wie eine aus."
„Oh Schatz, ich habe mich schon gefragt, wo du bleibst."
Mom schaut auf und reißt mich aus meinem gedankenvollen Starren. Sie hat etwas Makeup aufgelegt und strahlt auf eine Art und Weise, die ich sie schon lange nicht mehr an ihr gesehen habe. Früher hat Mom den Sommer immer geliebt. Ich kann mich an kaum einen Tag erinnern, an dem die Sonne geschienen hat und sie nicht fröhlich war. Diesen Sommer war das anders. Umso schöner ist es, sie jetzt so... losgelöst zu sehen. Sie erinnert mich an die Mom, mit der ich Shopping Touren gemacht und Eiskaffees geschlürft habe.
Ein kleines Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht und erlischt dann sofort wieder. Und ich muss ihr diese Stimmung jetzt wieder kaputt machen.
Zittrig hole ich Luft. Los geht's. Wie ein Pflaster. Einfach abreißen.
„Hey Mom, ich muss dir da was erzählen..."
Ich sehe, wie Mom sich in Alarmbereitschaft aufrichtet und fühle mich sofort schlecht, da klingelt es plötzlich an der Haustür. Erschrocken zucke ich zusammen, so unerwartet kommt der Laut und Mom deutet mir mit einem deutlich angespannteren Lächeln als noch vor ein paar Sekunden an, kurz zu warten.
Ich folge ihr halb raus in den Flur, unsicher ob ich den Besucher küssen oder verfluchen soll für meine Galgenfrist. Wahrscheinlich eher zweiteres...
„Oh Noah! Was für eine schöne Überraschung."
Mein Blick schießt nach oben. Und tatsächlich steht da Noah, mit seinem besten Zahnpasta-Lächeln auf den Lippen und in bester der-gute-Kerl-von-nebenan-Manier. Ich weiß, dass er Mom von Sekunde eins um den Finger gewickelt hat. Und mich auch in der schwarzen Cargohose und dem beigegrünen Shirt samt dieser verdammten Hundemarke um seinen Hals.
„Hallo Susanne. Ich hoffe dir geht es gut?"
Noahs Blick richtet sich kurz auf mich und ich habe das Gefühl, als wolle er mir damit etwas sagen, aber dann gilt seine Aufmerksamkeit wieder voll meiner Mutter. Was will er hier?
„Ach, ich kann mich so weit nicht beklagen. Wie kann ich dir helfen? Du wirst ja nicht für einen kleinen Plausch geklingelt haben."
Mom kichert wie ein Teenie und ich muss mir ein Stöhnen verkneifen. Das ist doch nicht ihr Ernst?
„Nein, nein, ich brauche keine Hilfe." Wieder ein Zahnpasta-Lächeln von Noah und selbst aus einigen Metern Entfernung verfehlt es nicht seine Wirkung. „Tatsächlich wollte ich dir nur Bescheid geben, dass ich gestern gesehen habe wie ein Tier", der Blick, den ich dieses Mal von Noah kassiere, verstehe ich laut und deutlich, „über euer Dach gelaufen ist. Ich schlafe gerne mit offenen Fenstern und habe es gehört." Auch diesem Seitenhieb bin ich mir nur zu bewusst. „Deswegen habe ich heute Morgen Mal rausgeschaut und gesehen, dass sich ein paar Ziegel verschoben haben. Ich denke, das sollte nichts Schlimmeres sein, ich kann sie euch gerne wieder zurechtschieben. Aber ich dachte das solltest du vielleicht wissen."
Ich weiß nicht wer von Mom und mir verdutzter schaut, aber ich weiß, dass meine Wangen feuerrot leuchten müssen, so warm ist mir geworden. Noah ist gerade dabei mir zum zweiten Mal sprichwörtlich den Arsch zu retten. Und ich bin zur Salzsäule erstarrt.
„Oh wow." Mom räuspert sich und scheint schneller als ich wieder ihre Fassung zu gewinnen. „Danke, fürs Bescheid geben und das Angebot. Wenn es dir nicht zu viel ausmacht, würde ich darauf zurückkommen. Obwohl ich nicht weiß, was ich davon halten soll, dass ein Tier nachts über unsere Köpfe schleicht und ich nichts davon mitbekommen habe." Moms Lachen fällt etwas hysterisch aus, aber das ist wohl verzeihbar, bei dem Gedanken, dass ein Tier, groß genug, um die Ziegel zu lösen, über unser Dach klettert. Sie kann ja nicht wissen, dass es sich bei diesem Tier um ihre Tochter handelt.
„Nun, ich bin mir sicher, dass das allzu bald nicht nochmal vorkommen wird."
Dieses Mal ruhen Noahs Augen länger auf mir und wenn es möglich ist, laufe ich noch etwas röter an, bevor ich abgehackt nicke. Nachricht angekommen. Das Dach ist ab sofort tabu. Um ehrlich zu sein verspüre ich nach gestern selbst nicht mehr das größte Verlangen danach, dort raus zu klettern.
„Es ist auf jeden Fall beruhigend zu wissen, dass wir einen so aufmerksamen und besorgten Nachbarn haben." Mom tätschelt Noah liebevoll den Arm und ich fühle mich ein bisschen wie mit sechs, wenn unsere frühere Babysitterin hier war. Oh je, ich hoffe meine Gesichtsfarbe normalisiert sich jemals wieder.
„Sehr gerne."
Ein verschmitztes Lächeln huscht über Noahs Gesicht und auch wenn er dieses Mal nicht zu mir schaut, weiß ich, dass es eigentlich mir gilt. Ich kann gerade so ein Schnauben unterdrücken, bevor es mich verrät. Irgendwas sagt mir, dass mir diese kleine Heldenaktion noch länger unter die Nase gerieben wird. Aber den Ruhm hat sich Noah wohl auch verdient.
„Wenn es okay ist, würde ich mich um die Ziegel morgen kümmern. Ich werde gleich von Freunden abgeholt, um auf dem alten Airfield zu einer kleinen Veranstaltung zu gehen."
Während Mom sofort zustimmend nickt, durchfahren mich Noahs Worte wie einen Blitz. Er geht auch auf den Rave?
Mir ist nicht mal bewusst, dass ich vor Überraschung die Worte laut ausgesprochen habe, bis ich von beiden angeschaut werde.
„Ja, du etwa auch?"
„Was ist denn ein Rave?"
Moms und Noahs Worte vermischen sich, sodass ich einmal den Kopf schütteln muss, um sie auseinander zu klamüsern.
„Ach, ein paar Leute spielen da Musik und es wird getanzt." Arglos lächle ich meine Mom an, wohlwissend, dass sie das Wort googlen wird, sobald ich außer Haus bin. Aber dann kann sie mich nicht mehr zurückzerren und hierbehalten.
Noah muss sich bei meiner harmlosen Beschreibung hinter dem Rücken von Mom ein Grinsen verkneifen und ich schieße ihm einen warnenden Blick zu.
„Oh, das hört sich cool an! Ich wusste gar nicht, dass das Airfield für sowas genutzt wird. Vielleicht muss ich auch Mal auf so einen Rave gehen."
Mom schwingt die Hüften und sieht in ihrem geblümten Kleid absolut nach dem Gegenteil einer Rave-Gängerin aus. Allein der Gedanke, sie könne da plötzlich auftauchen... mein Gesicht war endlich wieder bei seiner normalen Farbe angekommen, jetzt glühen meine Wangen erneut.
„Mom...!"
„Alles gut, war doch nur ein Scherz." Mom rollt mit den Augen, aber ich kenne das Lächeln auf ihren Lippen. Ein Fünkchen Wahrheit hat in ihren Worten gesteckt.
„Also wenn du willst, meine Freunde müssten jede Sekunde hier sein. Wir können dich gerne mitnehmen."
Ich weiß nicht, wie oft Noah mich heute noch überraschen will, aber ich schaue ihn sprachlos an, während er einladend lächelt. Ich soll mit ihm zu seinen Freunden?
Mein Gehirn hat einen Aussetzer und wie so oft mischt sich Mom nur zu gerne ein. „Ein sehr liebes Angebot von dir! Das wird May bestimmt gerne annehmen, so abgelegen wie das Airfield liegt."
Keine Ahnung, weshalb mich beide nun erwartungsvoll anschauen. Ich war darauf vorbereitet, Mom das mit dem Dach zu beichten und dann schnellstmöglich die Beine in die Hand zu nehmen. Nicht darauf, von Noah zu seinen Freunden eingeladen zu werden. Wie viele Jahre habe ich davon geträumt?
„Ähm..."
„Wir würden noch kurz zu einem Kumpel fahren, das Event geht ja erst in zwei Stunden los, aber du kannst wirklich gerne mit. Ich bin mir sicher, du wirst dich blendend mit den anderen verstehen."
Ich weiß die Situation absolut nicht zu deuten, während ich in Noahs blauen Augen versinke. Er schaut mich so unvermittelt und offen an, dass ich die Einladung gar nicht anders verstehen kann als das, was sie ist. Ein freundschaftliches Treffen. Die Frage ist nur, kann ich ignorieren, was mein dummes Herz sonst noch alles will?
Eine Frage über die ich mir dringend einmal Gedanken machen sollte. Aber für den Moment übernimmt mein Körper das Antworten, bevor sich mein Kopf überhaupt darüber im Klaren ist.
„Cool, danke für das Angebot."
Als hätten sie auf meine Antwort nur gewartet, erklingt ein Hupen von der Straße und Noah wird von einem Chor aus Stimmen gerufen. Überfordert schaue ich an mir herunter, ob ich alles habe. Tasche, Schuhe, Sonnenbrille. Ich bin startklar und fühle mich trotzdem alles andere als bereit.
„Na dann, viel Spaß den jungen Leuten. Pass mir gut auf meine Kleine auf, Noah."
Natürlich muss Mom mich ausgerechnet in einem solchen Moment wie eine fünf Jährige behandeln und mir einen Kuss auf die Stirn drücken. Ich zwinge mich zu einem Lächeln, während Noah nett wie eh und je lacht. „Natürlich. Dir auch einen schönen Tag, Susanne."
Von mir bekommt Mom nur ein kurzes Winken. Der Rest von mir ist zu sehr darauf konzentriert, den SUV zu mustern, aus dem zwei Jungs und ein Mädchen den Kopf herausstrecken, sobald wir uns nähern. Ich meine sie wage wiederzuerkennen, als die Leute mit denen Noah auch im Connect war.
„He Noah, ich dachte du wohnst in dem Haus?"
Mit einem breiten Grinsen, dass die Ränder seiner Sonnenbrille erreicht, begrüßt uns der Beifahrer und deutet auf Noahs Elternhaus.
„Schön, dass du dir zumindest das merken konntest, Pat. Das ist May. Sie geht auch auf den Rave und ich habe ihr angeboten, dass wir sie mitnehmen."
Schlimm genug, den Leuten unter die Nase zu treten, die mich das letzte Mal gesehen haben, während meine beste Freundin ihnen vor die Füße gekotzt hat. Aber als Noah mir sanft eine Hand ins Kreuz legt, bringt er mich damit endgültig aus dem Gleichgewicht. Anstatt also cool und selbstbewusst aufzutreten, fällt mein „Hi" etwas wackelig aus.
„He, das ist doch die, deren Freundin...", bevor Pat weitersprechen kann, hat das Mädchen von der Fahrerseite ihm einen Schlag gegen die Schulter verpasst.
„Hey May. Schön dich kennenzulernen. Dein Outfit ist der Hammer! Ich bin Kathi."
Ein Lächeln zupft an meinen Mundwinkeln. Okay, sie ist cool.
„Danke, ich mag deine Frisur."
Als Antwort spielt Kathi an den zwei geflochtenen Zöpfen, die ihre vordersten Haarsträhnen einfassen und klopft zweimal gegen das Auto.
„Los einsteigen! Es ist Zeit für ein bisschen Party."
Jetzt grinse ich über das ganze Gesicht und werfe Noah einen Blick zu, in der Hoffnung auf... naja ich weiß nicht so genau was. Aber womit ich nicht gerechnet habe, ist ihn dabei zu erwischen, wie er mich mustert. Dabei liegt in seinen Augen etwas, das ich am ehesten als Bewunderung bezeichnen würde, aber... nein, das bilde ich mir nur ein. Die Wahrscheinlichkeit, dass Noah auf diese Art und Weise gefällt, was er sieht, ist verschwindend gering. Mein hormongesteuertes Herz schlägt trotzdem einen Schlag höher.
Mit einem kleinen Räuspern ziehe ich Noahs Aufmerksamkeit wieder aufs Hier und Jetzt und verkneife mir ein Schmunzeln, als er sich verlegen durchs Haar fährt.
„Einsteigen?" Es löst eine gewisse Befriedigung in mir aus, dieses Mal diejenige zu sein, die ihn spöttisch anschauen kann, während er sich sichtlich sammelt.
„Ja, klar." Noahs Lächeln blitzt etwas zu schnell auf und ist etwas zu breit, um als normal durchzugehen, als er einen Schritt vormacht und mir die Autotür aufhält. Ich rutsche durch in die Mitte, neben den Dritten von der Partie, und Noah lässt sich neben mich fallen.
„Hi, ich bin Gabriel."
Mir wird freundlich die Hand hingestreckt und auch wenn die Geste etwas altbacken ist, bin ich froh der peinlichen Situation entkommen zu sein, nicht zu wissen, wie ich den aschblonden Mann neben mir begrüßen soll. So nehme ich lächelnd die Hand an und wiederhole meinen Namen, während Pat sich von vorne zu uns dreht.
„Und ich bin Pat, falls du das noch nicht mitbekommen hast. Ich sag so ungefähr alles, was mir in den Kopf kommt, und wurde von gewissen Personen", Pats Blick macht nur allzu deutlich, dass er damit die hier anwesenden meint, „darauf aufmerksam gemacht, dass nicht alles davon angebracht ist. Sei also vorgewarnt und nimm es einfach nicht persönlich." Pat wedelt mit der Hand, als würde er eine Nichtigkeit davonwischen wollen und ich lache auf.
„Kein Problem, ich bin mit zwei Pappnasen befreundet, die dir da in nichts nachstehen, versprochen."
Na also, May. Ein gerader Satz. Geht also doch.
Allerdings lässt mich die Erwähnung von Rico und Max daran denken, dass ich meinen Freunden noch Bescheid geben muss, dass wir uns erst dort treffen werden. Also verfasse ich schnell einen Zweizeiler, bevor ich das Handy direkt wieder wegpacke. Ich bin mir sicher, mein Handy wird gleich vor neugierigen Nachrichten von Eva explodieren. Aber wenn ich sie nicht sehe, nun dann muss ich auch nicht antworten.
In der Zwischenzeit hat Pat sein Handy mit dem Auto verbunden und versorgt uns mit den passenden Beats, um in die richtige Stimmung zu kommen. Die Art, wie er dabei mit dem ganzen Körper mitwippt, passt wie die angegossen zu ihm.
Gabriel scheint wiederum der eher ruhige in der Gruppe zu sein, während Noah und Kathi sich über irgendeinen DJ austauschen, der wohl heute auftritt. Es ist angenehm, wie die anderen einfach weiter machen, anstatt aus meiner Anwesenheit ein großes Ding zu machen. Vielleicht ist es auch kein großes Ding und Noah bringt ständig jemanden mit. Der Gedanke versetzt mir einen kurzen Stich ins Herz, aber dann quatscht mich Pat an und für wie unverblühmt man manche seiner Kommentare auch halten will, er ist eine gute Ablenkung.
Ich bekomme nicht Mal mit, wo wir sind, bis Kathi vor einem großen Einfamilienhaus hält und sich zu uns umdreht. „So, aussteigen meine Kinder. Jetzt wird vorgeglüht!"
Neugierig schaue ich raus, während die anderen bereits aus dem Auto springen. Das Haus muss Kathis Eltern gehören. Es ist modern, dunkelgrau gestrichen und mit Holzpaneelen verziert. Oh Mann, ich bin zu ihnen eingeladen und habe nicht Mal was zu trinken mitgebracht. Irgendwie habe ich in all der Aufregung verdrängt, was zum guten Ton gehört.
Als eine Hand sich warm auf meine Taille legt, zucke ich überrascht zusammen. Aber es sind Noahs Worte, die mir einen angenehmen Schauer über den Rücken jagen, bevor ich ebenfalls aussteige.
„Kathi hat recht. Du siehst toll aus."
Es ist beruhigend zu sehen, dass ein Vorglühen bei Anfang zwanzig Jährigen sich im Großen und Ganzen nicht von einem Vorglühen bei Achtzehnjährigen unterscheidet. Es gibt Bier, Mischen und einen eklig sauren Shot, den ich nur mit verzerrtem Gesicht runterbekomme. Dazu wird über alles und nichts geredet.
Ich erfahre im Laufe der Zeit, dass Kathi eine Ausbildung zur Einzelhandelsverkaufsfrau macht und dabei in einem großen Gartencenter hier in der Nähe arbeitet. Damit hat sie innerhalb einer Sekunde meine volle Aufmerksamkeit und die nächste halbe Stunde vertiefen wir uns in Fachsimplereien über verschiedene Pflanzen, wie man sie am besten pflegt und welche in unserem eigenen Besitz sind. Dabei ist ihre Sammlung deutlich beeindruckender und auf mein zerknirschtes Gesicht klopft sie mir aufmunternd auf die Schulter. „Das ist der Vorteil, wenn man sein eigenes Geld verdient. Meine Eltern können mir nicht vorschreiben, was ich damit anfange. Komm, wenn du willst, kann ich dir mal mein Zimmer zeigen!"
Es ist keine Frage und ich habe auch kein Problem damit, als mich Kathi auf die Füße zieht und wir kichernd vom Wintergarten, in dem wir mit den anderen sitzen, hoch zu ihrem Zimmer gehen. Dort drin bin ich erstmal erschlagen von dem satten Grün, dass mir aus allen Ecken entgegenschlägt. Mein Zimmer ist nichts im Vergleich zu diesem Dschungel. Die Wand hinterm Bett ist in einem schlichten grün gehalten, das jedoch kaum zur Geltung kommt, weil die ganze Wand mit Pflanzen bewachsen ist. Da ist eine Kletterpflanze, die sich an einem Gitter hochwindet und zig Topfpflanzen, die auf naturbelassenen Holzregalbrettern stehen. Es ist wunderschön.
Kathi lässt sich mit einem Seufzen auf ihr Bett fallen und ich tue es ihr nach.
„Du lebst meinen Traum, ich schwöre."
Sie lacht über meine verträumten Worte und schüttelt dann den Kopf. „Das würde nicht jeder so sehen. Aber wenn ich schon vierzig Stunden in der Woche mich mit etwas beschäftige, dann soll es zumindest etwas sein, für das mein Herz schlägt."
Ich drehe den Kopf und schaue sie von der Seite an. Um Kathis Mund liegt ein verkniffener Zug und ich weiß, hinter den Worten steckt mehr. Aber wir kennen uns erst ein paar Stunden und sind beide nicht mehr nüchtern. Ich will ihr nicht die Stimmung verderben, in dem ich nachbohre. Also drücke ich nur kurz ihre Hand.
„Gute Entscheidung. Ich habe keine Ahnung, was ich nach dem Abi machen will. Aber das hier", mit einer Hand schließe ich den Raum um mich ein, „hat mir etwas Hoffnung gegeben."
Und das stimmt. Ich habe noch nie daran gedacht, aus meiner Faszination für Pflanzen mehr zu machen. Mom tut es immer als ein Hobby ab, so wie das Tanzen. Aber vielleicht gibt es ja Möglichkeiten einen vernünftigen Job zu haben und mich mit dem zu beschäftigen, das mir am Herzen liegt.
„Und du hast mir Hoffnungen gemacht, dass Noah vielleicht doch noch Geschmack entwickelt, was Mädchen angeht."
Grinsend wendet sich Kathi mir zu und ich blinzle perplex. Wie bitte?
„N...nein, so ist das nicht zwischen uns. Wir haben als Kinder viel Zeit miteinander verbracht. Aber um ehrlich zu sein, kennen wir uns kaum noch."
Kathi zieht ungläubig eine Augenbraue nach oben. „Oh glaub mir, ich weiß, wer du bist. Das wusste ich schon zu Schulzeiten, weil Noah immer einen Blick auf darauf hatte, ob es dir gut geht. Kann sein, dass ihr früher nur Sandkastenfreunde wart. Aber ihr seid beide erwachsen geworden. Und du bist äußerlich und innerlich ein Hauptgewinn."
Ihre Worte lassen mir das Blut in den Kopf steigen. Sowas hat von Eva abgesehen noch nie jemand zu mir gesagt. Und um ehrlich zu sein weiß ich nicht, damit umzugehen. Das scheint Kathi auch zu merken, denn sie grinst mich an und knufft mich in die Seite. „Schon gut. Lass uns einfach wieder zu den anderen gehen. Aber versprich mir, versuch es, wenn sich eine Chance ergibt. Noah kann stur sein. Manchmal muss man ihn etwas schubsen, damit er sein Glück findet."
Das mit dem stur sein, muss sie mir nicht erzählen. Aber ich bin dankbar, das Thema fallen lassen zu können, als wir wieder nach unten in den Wintergarten gehen. Trotzdem kann ich es nicht vermeiden, Noah nachdenklich zu mustern, als wir ein Trinkspiel beginnen. Er sitzt gegenüber von mir und ärgert Gabriel. Doch als er meinen Blick bemerkt, wirft er mir ein breites Lächeln zu, das Schmetterlinge in meinem Bauch freisetzt. Vielleicht stimmt es gar nicht mehr, was ich vorhin zu Kathi gesagt habe. Mir kommt es so vor, als würde ich Noah Tag für Tag auf eine neue Art und Weise kennenlernen.
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