Kapitel 10
Drei Stunden später sitze ich erschöpft im Raumschiff von Noahs Eltern und bin auf ausgelaugte Weise sehr zufrieden. Es macht mir nicht einmal etwas aus, allein mit Noah im Auto zu sitzen, da Eva und Allie mit den Jungs zurück in die Stadt fahren. Wahrscheinlich fehlt mir einfach die Energie, um mir Gedanken über die Situation zu machen. Stattdessen schaue ich nur stumm aus dem Fenster und genieße die angenehme Schwere meines Körpers.
„Deine Freunde sind echt cool drauf."
Noah bricht die Stille, seitdem wir losgefahren sind, und ich wende träge den Kopf zu ihm.
„Danke. Du hast dich aber auch gut integriert."
Das stimmt. Egal, was wir gemacht haben, Noah war auf eine angenehme unaufdringliche Art und Weise dabei, sodass er kaum als der Neue aufgefallen ist. Aber um ehrlich zu sein, hätte mich auch alles andere gewundert. Noah hat schon immer schnell Freunde gefunden. Bei ihm sieht es so leicht aus, einfach man selbst zu sein und damit gut anzukommen. Dabei wirkt er noch selbstbewusster und gefestigter in sich als vor ein paar Jahren. Das Studium hat ihm eindeutig gut getan und ich komm nicht darum, mich zu wundern, was ihn wieder hier her verschlagen hat. Ich würde nichts lieber tun, als die Ferne zu suchen. Eine Sache, die ich wohl mit meinem Vater gemein habe.
„Wieso bist du hier?" Die Worte sind mir über den Lippen, bevor sie ganz in meinem Kopf angekommen sind. Allerdings wird mir schon eine Sekunde später klar, dass die Frage ohne Kontext ziemlich dumm ist. Und dass ich ihn fast das gleiche schon vor ein paar Tagen auf dem Dach gefragt habe.
„Meinst du generell hier oder in diesem Auto? Ich meine nämlich, dass du auf beides die Antwort kennst." Noahs Mundwinkel zucken, aber er hält den Blick auf die Straße gerichtet, was es etwas angenehmer für mich macht, während ich rot anlaufe.
„Ich meine, weshalb besuchst du deine Eltern einen ganzen Monat? Du scheinst dich größtenteils zu langweilen und ich kann mir nicht vorstellen, dass du in deinem Studium keine Freunde gefunden hast, mit denen du deine Semesterferien besser verbringen könntest."
Stattdessen sitzt du hier mit mir in einem Auto, und bringst alles in meinem Leben noch mehr durcheinander, als es eh schon ist. Die letzten Worte kann ich mir zum Glück gerade so verkneifen. Dafür schlägt mein Herz so laut, dass ich befürchte, es könne mich verraten. Aber Noah scheint mit ganz anderen Dingen beschäftigt als mit meinem kleinen Hysterieanfall. Sein Gesicht wirkt seltsam ernst, während er weiter stur geradeaus schaut, und es kommt mir vor, als würde er das Lenkrad etwas fester umklammern.
„Keine Ahnung, ich habe zu Hause... vermisst." Seine Stimme klingt schwer, als würden die Worte noch mehr Bedeutung beinhalten als auf den ersten Blick ersichtlich. Ich weiß nicht, ob es zu aufdringlich ist, nachzufragen, also gebe ich nur ein leises „Oh" von mir und schelte mich innerlich, so was Intimes gefragt zu haben. Wir hatten es immerhin endlich so weit geschafft, Zeit in angenehmem Schweigen miteinander zu verbringen. Jetzt legt sich die Stille erdrückend über uns und lässt mich die Hände ineinander krallen.
Dumm, dumm, dumm, May. Wie...
„Hier zu sein fühlt sich wie ein kleiner Urlaub vom Erwachsensein an." Mein Kopf schießt zu Noah herum, als dieser mit gesenkter Stimme fortfährt.
„Klar, Mama und Papa machen erstmal ein großes Ding draus, wenn ich hier bin." Ein belustigtes Schnauben entkommt ihm. „Aber irgendwann beruhigen sie sich und dann ist alles... wie vor ein paar Jahren."
Mit einem Schulterzucken und einem Schmunzeln, richtet Noah den Blick auf mich und die Ehrlichkeit in seinen Augen reißt mir den Boden unter den Füßen weg.
„Alles ist so vertraut und doch so anders und egal wohin man schaut, findet man eine unbeschwerte Erinnerung. Versteh mich nicht falsch, ich liebe mein jetziges Leben und die Freiheit, die man hat. Aber manchmal wird mir auch alles zu viel. Der Stress in der Uni, das verantwortlich sein, für was passiert. Es ist schön herzukommen und eine Auszeit zu haben. Auch wenn das heißt zu merken, was alles nicht mehr Teil meines Lebens ist."
Ich weiß, ich sollte den letzten Satz nicht auf mich beziehen. Ich weiß, dass er ihn nicht so meint. Aber mein Herz schlägt hoffnungsvoll höher, egal wie sehr ich mich über mich selbst aufrege. Aber wie soll ich mich dagegen wehren, wenn seine blauen Augen mich festhalten, als gäbe es in diesem Moment nur uns beide? Als wäre alles außerhalb dieses Autos unwirklich. Als würde er mich als Teil seines Lebens vermissen.
„Das kann ich verstehen." Meine Stimme klingt so belegt, dass ich sie im ersten Moment kaum wiedererkenne. Ein Räuspern löst den Kloß in meinem Hals. Allerdings bleibt die komisch ehrliche Stimmung, die uns umgibt.
„Seitdem Dad weg ist, fühlt sich alles beängstigend gleich und anders zur selben Zeit an. Wie kann es sein, dass man sich so schnell an dieses neue andere Leben gewöhnt? Und wie lange dauert es auf der anderen Seite, bis man all die Erinnerungen endlich mit neuen überschrieben hat?"
Mit einem Mal fröstle ich, trotz der Sonne, die durch die Fenster einfällt. „Es ist so schwer, alles hinter sich zu lassen."
Mir ist nicht Mal aufgefallen, dass ich den Blick gesenkt habe, bis Noahs warme Hand sich auf meinen Oberschenkel legt und ich überrascht aufblicke.
„Ich will in keinster Weise runterreden, was in deinem Leben das letzte Jahr passiert ist." Das sanfte Lächeln auf seinem Gesicht, hätte mich auch nie etwas anderes glauben lassen. „Aber vielleicht geht es gar nicht darum, das Alte hinter sich zu lassen. Vielleicht muss man lernen Neu und Alt zu vereinen und zu akzeptieren, dass das Ganze ausmacht, wer man ist."
Es sind schöne Worte, trotzdem spüre ich einen Widerstand in mir. Widerstand dagegen zu akzeptieren, dass die Handlungen meines Dads mich geprägt haben, auch wenn es lächerlich ist, es zu leugnen. Ich will nicht das Gefühl haben, in irgendeiner Weise von ihm abhängig zu sein. Das macht es nur noch unerträglicher, dass er uns verlassen hat.
„Ja, vielleicht hast du Recht." Ich muss den Blick abwenden, um dieses Eingeständnis über meine Lippen zu bekommen. Aber Noahs Berührung hat etwas überraschend Beruhigendes an sich und nach einigen Sekunden zum Sammeln, schaffe ich es mit einem tiefen Atemzug seine Hand zu drücken und ihm ein Lächeln zu zuwerfen.
„Solltest du das nächste Mal genug vom in Erinnerungen schwelgen haben und deiner Langeweile entkommen wollen, kannst du auf jeden Fall wieder mit uns mitkommen. Ich bin mir sicher, solange du Bier mitbringst, bist du bei den Jungs herzlich willkommen."
Ich bin dankbar, dass Noah sich direkt auf den Themen- und Stimmungswechsel einlässt, indem er laut lacht.
„Alles klar, ich merke es mir. Besteht die Chance dann nochmal Eva singen zu hören? Sie ist wirklich talentiert..."
Und als lägen nicht Jahre ohne Kontakt hinter uns, fangen Noah und ich an über unsere Freunde zu quatschen. Es geht um verrückte Geschichten, heimliche Talente und peinliche Momente, bis wir zu Hause ankommen und uns mit einer Umarmung verabschieden, die mir einen wohligen Schauer über den Rücken jagt. Mir wird erst Stunden später klar, dass ich den ganzen Abend nicht zu grinsen aufhöre.
Ich hatte schon fast vergessen, dass ich mit Mom auf einen Mädelsabend verabredet bin, als sie am Donnerstag anfängt davon zu sprechen. Es ist später Nachmittag und der Schultag war lang und anstrengend. Es gab einen unangekündigten Vokabeltest in Englisch, übers Wochenende muss ich als Abiturvorbereitung eine Gedichtsanalyse verfassen und alles, was ich will, ist meine Ruhe zu haben. Mom wiederum ist selten energetisch nach der Arbeit. Sie wuselt durch die Küche und richtet einen Salat an, während sie aufgeregt erzählt: „Also ich habe mir gedacht, du wählst den Film für morgen aus und ich besorge uns alles was es so an Beauty-Produkten braucht. Dafür muss ich gleich noch in den Drogeriemarkt und danach gehe ich einkaufen. Was hältst du von Schokofondue mit Früchten? Ich habe noch dieses süße kleine Fondue, bei dem man nur eine Kerze darunter stellen muss, welches du mir Mal zum Muttertag geschenkt hast. Das ist doch eigentlich perfekt für unseren Mädelsabend."
Mir schwirrt der Kopf von all den Worten und beinahe hätte ich aufgestöhnt, weil die anderen sich für morgen zu einem Horrorfilmeabend verabredet haben. Aber ich verkneife es mir in letzter Sekunde. Ich will Mom nicht verletzen, wenn sie sich so viel Mühe gibt. Stattdessen lächle ich und nicke, obwohl Mom wahrscheinlich auf gar keine Antwort gewartet hat. Sie rührt ein Dressing an und steht halb mit dem Rücken zu mir.
„Auf Popcorn habe ich auch Lust und einen Wein hole ich natürlich auch. Ich hab da schon einen im Sinn, der dir bestimmt schmecken wird. Zumindest habe ich ihn als junge Frau gerne getrunken."
Gegen das Augenverdrehen bei dem Ausdruck „junge Frau" kann ich wirklich nichts tun. Aber Mom sieht mich ja glücklicherweise nicht. Ich wende auch nicht ein, dass ich ihr meinen Lieblingswein einfach nennen könnte. Irgendwie will ich ihr die Illusion nicht nehmen, dass der Wein etwas Besonderes für mich sei. So gern ich etwas mit meinen Freunden machen würde, es ist schon süß, wie viel ihr daran zu liegen scheint. Eigentlich kann ich doch wirklich dankbar sein, dass sich zumindest ein Elternteil so um mich bemüht, egal wie oft Mom mich auch in den Wahnsinn treibt. Sie gibt ihr Bestes.
„Oh, Spätzchen, könntest du mir den Gefallen tun und durchsaugen, während ich alles besorge? Das würde mir wirklich eine große Last abnehmen." Mom stellt die Frage in unverändertem Tonfall, sodass sie erst bei mir ankommt, als sie bereits an der Küchentür steht und laut nach Tim fürs Essen ruft. Dabei hat sie wieder keine Antwort von mir abgewartet und in meine positiven Gedanken sickert Resignation. Super, das ist genau, was ich mir an Pause vorgestellt habe, bevor ich meine Hausaufgaben für morgen erledigen muss. Ich ringe mit meinen Widerworten, ob sie es wert sind, wenn sie doch sowieso nichts ändern. Und irgendwie verstehe ich es ja auch. Dass Mom einen genauso langen Tag hatte. Dass jeder von uns seinen Beitrag leisten muss. Nur wo ist der Beitrag der Nervensäge, die gerade mit der Nase im Smartphone die Küche betritt?
„Aber Tims Zimmer sauge ich nicht." Mein Bruder schaut überrascht auf und etwas schäme ich mich für die Wut, mit der ich mich auf meinem Stuhl zurücklehne und die Arme verschränke. „Da müsste erstmal ein Aufräumkommando durch, bevor man den Fußboden auch nur sieht."
„Boah May, was ist eigentlich dein Problem? Es zwingt dich niemand in mein Zimmer zu kommen."
Doch, ich werde dazu gezwungen. Indem man mir die Verantwortung dafür gibt, dass du etwas Gescheites zu essen hast und nicht an deinem eigenen Dreck erstickst! Ich wäre auch lieber die große coole Schwester als deine zweite Mama.
Ich schreie die Worte in meinem Kopf, doch über meine Lippen kommt nichts. Am Ende würde ich doch sowieso nur zu hören bekommen, dass ich nicht so übertreiben soll.
„Kinder", seufzt meine Mutter und die Energie, die sie die ganze Zeit verströmt hat, wirkt auf einmal deutlich gedimmt. „Jetzt streitet euch doch nicht direkt wieder. Du kannst Tims Zimmer auslassen", Moms Blick richtet sich kurz auf mich, springt dann aber weiter zu Tim. „Und du räumst heute Mal wieder auf und saugst dein Zimmer."
Ein kleines schadenfrohes Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht, als Tim gequält „Mom!" sagt. Er setzt seinen Dackelblick auf, der ihm sein ganzes Leben schon eine Sonderbehandlung verschafft hat. Aber glücklicherweise ist er deutlich ineffektiver geworden, seitdem Tim Mom und mich um einen halben Kopf überragt.
„Keine Widerrede, Tim. Das ist mehr als überfällig und ich habe wirklich nicht die Energie für Diskussionen!"
Mom stellt geräuschvoll die Salatschüssel auf den Esstisch ab und lässt Tim mit einem Blick den Mund wieder schließen. Trotzdem wirkt er mehr als nur stoffelig, als er sich neben mich auf einen Stuhl fallen lässt, und ich sehe es als meine schwesterliche Pflicht, Salz in die Wunde zu streuen.
„Deine Freunde werden eine halbe Stunde ohne dich verkraften. Obwohl... bei dem Chaos dauert es vielleicht auch den ganzen Nachmittag."
Die Antwort ist ein demonstrativer Mittelfinger und ich lass mich zufrieden auf meinem Stuhl nach hinten fallen.
Mom kommentiert unser Verhalten nicht weiter. Allerdings ist von ihrer guten Laune nichts mehr zu sehen, als sie zwei Baguettes aus dem Backofen holt und sich zu uns setzt. Es macht mich vielleicht zu einer schlechten Tochter, aber damit komme ich deutlich besser zurecht, als ihr übertrieben glückliches Ich. Es kommt mir deutlich echter vor.
Das Saugen und die Hausaufgaben nehmen den Rest des Donnerstags ein und ich bin mehr als dankbar, als Eva und ich mit dem Wochenende in Aussicht am Freitag die Schule verlassen.
„So schade, dass du heute Abend nicht dabei bist. Ich werde mir bei den Filmen bestimmt in die Hosen machen."
Eva schüttelt sich und ich muss lachen, weil meine beste Freundin wohl zu den schreckhafsten Menschen der Welt gehört. Sie kann bis heute nicht Harry Potter schauen, ohne jemanden an ihrer Seite, an den sie sich klammern kann.
„Tut mir leid, dass ich dir nicht beistehen kann. Aber mit ein bisschen Wimpernklimpern opfert sich bestimmt Rico als dein menschliches Schutzschild."
Ich grinse Eva an, die ihrerseits resigniert seufzt. „Darauf läuft es wohl hinaus. Allie lacht mich eher aus, als dass ich ihre Hand halten darf."
Oh, ganz sicher sogar und als sich unsere Blicke treffen, müssen wir beide über den Gedanken lachen.
„Das schaffst du. Oder wir tauschen und du machst dir einen Mädelsabend mit meiner Mom."
Jetzt bin ich diejenige, die verzweifelt schaut. Meine Lust auf heute Abend sinkt von Sekunde zu Sekunde und ich kann nicht Mal genau sagen, woran es liegt. Eigentlich ist es doch schön, ein enges und freundschaftliches Verhältnis mit seiner Mutter zu haben. Wir können über alles quatschen, gemeinsam Wellness machen. Trotzdem klemmt mir ein resigniertes Stöhnen im Hals.
„He, ich mache sowas regelmäßig mit meiner Mama und es ist toll! Sie holt immer diese leckeren und sündhaft teuren Pralinen und dann heulen wir gemeinsam, wenn Mr Darcy so schroff von Elizabeth abgewiesen wird."
Eva strahlt über das ganze Gesicht und macht einen kleinen Hüpfer neben mir. Das bringt mich prustend zum Auflachen, denn Stolz und Vorurteil passt deutlich besser zu ihr als Horrorfilme. Trotzdem beruhigen mich ihre Worte etwas. Wahrscheinlich wird der Abend wirklich schön. Ich sollte mir nicht so viele Gedanken machen.
„Und Hauptsache du bist morgen dabei! Max und Rico haben von diesem Rave auf dem alten Airfield gehört und ich glaube das wird das Ereignis des Jahres! Es beginnt schon um 15 Uhr, nicht vergessen." Eva drückt ein letztes Mal meine Hand, als wir an den Fahrradständern ankommen und sie ihr mintblaues Fahrrad mit Blumenkorb aufschließt. „Und wehe ich will dich in deinem Outfit nicht auf der Stelle vernaschen!"
Ich grinse und winke ihr zur Antwort, als sie sich auf den Sattel schwingt und davon düst. Ihr „Hab dich lieb!" schallt über den halben Schulhof und lässt mich lachend den Kopf schütteln. Eva ist und bleibt unverbesserlich. Und ich beneide sie um ihr Fahrrad. Ich im Gegensatz muss mich Mal wieder in den Bus quetschen, dessen Klimaanlage zumindest ausnahmsweise funktioniert.
Das Wetter ist etwas weniger drückend geworden als die restliche Woche, sodass ich den Weg von der Bushaltestelle nach Hause bei Sonnenschein genießen kann. Ich muss an letzte Woche denken, als ich durch die Straßen geschlendert bin und an meine Kindheit mit Noah denken musste. Wie ironisch, dass ich ihm ausgerechnet an dem Abend begegnet bin. Und wie... schön, dass es sich inzwischen auf diese Art und Weise entwickelt hat. Ich verstecke mein Lächeln hinter einem vorgeschobenen Gähner, während mir in den Sinn kommt, wie vertraulich es sich im Auto zwischen uns angefühlt hat. Ich spüre jetzt noch die Berührung seiner Hand auf meinem Bein und der Teil in mir, der nie älter als Vierzehn geworden ist, macht einen kleinen Freudentanz.
Ein bisschen hoffe ich darauf, ihm zufällig zu begegnen, als ich an dem Haus seiner Eltern vorbei zu unserer Haustür schlendere. Aber die Rollläden sind zum Schutz gegen die Sonne halb runtergelassen und auch wenn es eine schöne Fantasie ist, steht Noah nicht oberkörperfrei in der Auffahrt und wäscht das Auto. Obwohl mir das schon sehr gefallen würde. Ich beiße mir auf die Lippen, um nicht wie eine Verrückte zu grinsen.
An unserer Haustür holt mich die Realität dann aber doch wieder ein und das Grinsen wird von einem Seufzen von meinen Lippen gewischt. Mom dürfte schon da sein, also werde ich mit ein bisschen Pech bereits mit Gesichtsmasken empfangen. Wieder macht sich dieser komische Knoten in meinem Magen bemerkbar. Ich brauche auf jeden Fall noch etwas Zeit für mich, bevor ich mich dem Ganzen stellen kann.
Steif schließe ich die Tür auf und schlüpfe aus meinen Schuhen. Kurz bin ich sogar am überlegen, ohne Hallo in mein Zimmer zu huschen. Aber auf der ersten Treppenstufe reiße ich mich dann doch zusammen. Das ist lächerlich. Ich kann ja wohl meine Mutter normal begrüßen. Also drehe ich um und spaziere so lässig wie möglich ins Wohnzimmer hinein, auch wenn das Lächeln auf meinen Lippen, sich gezwungen anfühlt.
Mom sitz auf der Couch und liest angestrengt einen Brief, sodass sie mich gar nicht bemerkt, bis ich „Hi, Mama" sage. Sie blickt überrascht auf und die steile Falte auf ihrer Stirn glättet sich, als sie mir ein Lächeln zu wirft. Das beruhigt meinen Bauch etwas, der sich beim Anblick des Emblems unserer Bank auf dem Brief weiter verkrampft hat. Geht es um unser Haus? Müssen wir es verkaufen?
„Hallo Spätzchen. Na, wie war dein Schultag?"
Wahrscheinlich wäre nun das Geständnis angebracht, dass ich den Vokabeltest vorhin ziemlich versemmelt habe. Aber ich habe so schon das Gefühl, aus meiner Haut fahren zu müssen. Also entscheide ich mich, das unvermeidliche noch etwas hinauszuzögern.
„Ganz gut. Aber ich habe ziemlich viel zu tun. Ich würde mich noch etwas an meine Hausaufgaben setzen, bevor wir unseren Abend starten."
Ich komme mir ziemlich lächerlich dabei vor, wie ich mit dem Daumen Richtung Treppe deute. Als würde ich einen Fluchtweg anzeigen wollen. Aber das Hausaufgaben-Argument verfehlt seinen Zweck nie. Obwohl ich kurz Enttäuschung über Moms Gesicht huschen sehe, sagt sie natürlich nicht nein, wenn ich etwas für die Schule machen will.
„Oh, ja klar. Ich dachte zwar wir setzen uns etwas in den Garten, solange die Sonne noch da ist, aber du kannst ja Bescheid sagen, wenn du soweit bist. Tim übernachtet auch bei einem Freund, wir sind also ganz für uns."
„Super, mache ich." Mit einem letzten gestellten Lächeln drehe ich mich um und verschwinde so schnell wie möglich.
Zumindest bringt mich mein schlechtes Gewissen dazu, wirklich etwas für die Schule zu machen, sodass die erste Hälfte meiner Gedichtsanalyse steht, als ich mich seufzend in meinem Schreibtischstuhl nach hinten fallen lasse. Mein Schädel brummt und selbst wenn ich weiter produktiv sein wollte, würde ich es nicht mehr schaffen. Also drehe ich mich in meinem Stuhl um mich selbst, während meine Gedanken doppelt so schnell an mir vorbei rasen.
Ich könnte einfach zu Mom runtergehen und es hinter mich bringen. Wie bei einem Pflaster, es einfach abreißen. Aber dann bleibt mein Blick an der Herzblattblume hängen, die etwas ihre Köpfe hängen lassen und ich verbringe die nächste Viertelstunde damit, meine Pflanzen so richtig zu verwöhnen. Mit Gießkanne und Wassersprühflasche bewaffnet, lasse ich jeder von ihnen zukommen, was sie brauchen, notiere mir, welche Pflanze ich Mal wieder umtopfen muss und betrachte die Philodendren, von welchen ich bald Ableger ziehen kann. Ich schicke sogar Eva ein Foto, um zu fragen, ob sie einen davon will, bevor es mir selbst zu bunt mit meiner Prokrastination wird. Los jetzt May, so schlimm ist das nicht!
Mit einem entschlossenen tiefen Atemzug öffne ich meine Zimmertür und tapse die Treppenstufen runter. Mom sitzt immer noch auf der Couch, einen Ordner voller wichtiger Dokumente vor sich und ihre Lesebrille schief auf der Nase. Verwirrt runzle ich die Stirn, bis ich sehe, dass ihr die Augen zugefallen sind. Ein leises „Oh" entkommt mir, während Moms Kopf noch etwas tiefer sackt und auf der Sofalehne aufkommt. Ich wünschte, ich könnte sagen sie sieht entspannt und ausgeruht aus. Aber tatsächlich ist selbst jetzt noch eine kleine Falte zwischen ihren Augenbrauen sichtbar und ihr Gesicht wirkt abgeschlagen und eingefallen.
Das schlechte Gewissen trifft mich mit voller Wucht. Mom ist so fertig und wollte trotzdem ihren freien Abend mit mir verbringen. Und ich drücke mich vor ihr, als wäre sie die böse Hexe aus Hensel und Gretel. Bedrückt schleiche ich zur Couch und breite eine Kuscheldecke über ihr aus. Sie bewegt sich kurz, wacht aber nicht auf. Allerdings rutscht damit der Ordner mit all den Dokumenten gefährlich nah an die Kante des Sofas und bevor ich von meiner Position danach greifen kann, fällt er polternd auf den Boden.
Obwohl ich es kommen sehe, zucke ich heftig zusammen und auch Mom schreckt mit einem Japsen hoch.
„Heilige Mutter..."
Eine Hand auf ihre Brust gedrückt schaut Mom sich für einen Moment irritiert um, bis sie mich entdeckt und der Schreck sich legt.
„Oh je, ich bin eingeschlafen, nicht wahr? Entschuldige Spätzchen."
„Kein Problem, ich wollte es dir nur gemütlicher machen, aber dann ist der Ordner vom Sofa gerutscht."
Mom runzelt die Stirn, als sie die verstreuten Papiere auf dem Boden entdeckt, und seufzt müde. „Dieses verfluchte Ding verfolgt mich auch noch in meinen Träumen."
Ihr Lachen folgt eine Sekunde zu spät und ist etwas zu trocken, um den Worten die Schärfe zu nehmen. Ich bin hin und her gerissen, zwischen meiner Sorge und dem Wunsch, gar nicht genauer zu wissen, um was es geht. Also zögere ich und dann streckt sich Mom, um alles aufzuheben, und der geeignete Moment nachzufragen ist vergangen. Dafür ist das Unbehagen wieder mit voller Wucht zurück. Vielleicht, weil es sich anfühlt, als würde jede Sekunde mit Mom das Risiko erhöhen, die nächste Hiobsbotschaft zu erhalten.
„Also wenn du so fertig bist, können wir das mit dem Mädelsabend auch verschieben." Unsicher beiße ich mir auf die Lippe, aber Mom schüttelt vehement den Kopf, auch wenn sie gleichzeitig ein Gähnen unterdrücken muss.
„Was? Niemals! Heute ist perfekt. Ich habe gedacht, wie können uns was Nettes zusammen kochen und dann kuscheln wir uns mit Maske und allem Drum und Dran auf die Couch."
Ich frage mich, wie viel von der Freude in ihrer Stimme vorgetäuscht ist. Aber wenn sie diesen doofen Ordner einfach hier hinter sich lassen kann, will ich sie davon nicht abhalten. Also nicke ich nur und folge Mom in die Küche.
„Ich habe an einen Nudelauflauf mit Spinat und Lachs gedacht, was hältst du davon?"
Mom schaut sich kurz zu mir um und ich zucke mit den Schultern. Wenn sie dafür eingekauft hat, werden wir es so oder so machen, egal was ich sage.
„Dann setz du doch schon mal Nudelwasser auf und ich suche die restlichen Sachen zusammen."
Ohne ein Wort komme ich ihrem Vorschlag nach und fülle einen Topf mit Wasser, während Mom im Kühlschrank kramt. Die Stille zwischen uns fühlt sich unnatürlich an, aber mir will nichts einfallen, über das wir quatschen könnten. Glücklicherweise ist meine Mutter jedoch die letzte Person, der kein Thema einfällt. Genau genommen wirkt ihr Grinsen, mit dem sie mich betrachtet, als sie mit dem Lachs und den Spinat in der Hand zu mir an den Herd tritt, als läge ihr die Frage schon den ganzen Tag auf der Zunge.
„Jetzt erzähl doch mal Spätzchen. Was gibt es bei dir so Neues? Ich habe das Gefühl, als wüsste ich kaum noch etwas von dir."
Sie rempelt mich kumpelhaft mit der Schulter an und ich zwinge mich zu einem Lächeln. Vielleicht liegt das daran, dass du tatsächlich kaum etwas von mir weißt.
„Gibt nicht sonderlich viel zu erzählen. Schule nimmt momentan ziemlich viel Raum ein." Ich zucke mit den Schultern und schütte Salz ins Wasser, als dieses zu kochen beginnt.
„Ach komm, das glaube ich dir nicht. Wenn ich mich an dein Alter zurückerinnere... Nun ja, da ist so einiges passiert."
Die Art wie Mom sich auf die Lippe beißt hat etwas Mädchenhaftes an sich und ohne das ich es will, entschlüpft mir ein kleines Prusten. „Ja? Was ist denn damals so passiert?"
„Oh, es gab auf jeden Fall ein paar nette Bekanntschaften." Als Mom nun auch noch anfängt bedeutungsvoll mit den Augenbrauen zu wackeln, ist es um mich geschehen und ich muss laut lachen.
„Bitte verschone mich mit Details!" Abwehrend hebe ich einen Kochlöffel zwischen uns und auch meine Mom lacht losgelöst auf.
„Jaja, ich verstehe schon. Aber du kannst mir doch nicht erzählen, dass du seit David niemand Interessanten kennengelernt hast."
Wieso steht mir nur sofort ein Bild von Noah vor Augen? Ich presse die Lippen fest aufeinander und vertiefe mich in die Aufgabe, die Nudeln ohne zu spritzen ins Wasser fallen zu lassen. „Niemand erwähnenswerten."
Mom gibt ein frustriertes Seufzen von sich und verzieht traurig das Gesicht. „Okay, ist schon in Ordnung, wenn du das nicht mit deiner alten Mutter teilen willst. Das war es wohl mit Abwechslung von meinem tristen Leben als fast-Geschiedene. Dabei könnte ich die momentan wirklich gut gebrauchen."
Innerhalb von einer Sekunde verschwindet das kleine Lächeln auf meinen Lippen, während meine Schultern sich verspannen. Ich werde nicht fragen, was sie damit meint. Weil ich nicht hören will, was sie zu Dad zu sagen hat. Ich weiß, wie sie zu ihm steht. Ich verstehe, weshalb sie so über ihn denkt. Habe nach der Enthüllung Tage mit ihr im Bett verbracht, ihr Tempos gereicht und mir angehört, was Dad ihr angetan hat. Aber ich will es nicht schon wieder hören. Das scheint meine Mom jedoch nicht zu verstehen.
„Dein Dad bringt mich wirklich mal wieder um den letzten Nerv. Da sitzt er schon mit ihr auf Hawaii, schert sich um nichts als den nächsten Margarita, und besitzt dann auch noch die Frechheit, mich darum zu bitten Verständnis zu zeigen, wenn sich seine Unterhaltszahlungen verspäten. Sehe ich etwa wie eine Bank aus? Ich bin auf das Geld angewiesen! Wie denkt er denn, finanziere ich alles für unsere beiden Kinder."
Mir ist etwas übel, während ich beobachte, wie Mom mit wütenden Handgriffen den Auflauf vorbereitet. Doch meine Kehle ist so fest zugeschnürt, dass ich kein Wort rausbringe. Stattdessen stürzen ihre Worte wie die Sintflut auf mich ein.
„Ich weiß nicht, wie man so dreist sein kann. Und dann beruft er sich immer auf alles, was wir gemeinsam hatten. Dass ihn niemand so gut kennt, wie ich ihn. Dass ich ihn deswegen doch verstehen muss. Dabei hat er das alles doch weggeschmissen. Ich wollte nie eine verbitterte alte Ex-Frau sein. Und jetzt sieh mich an?" Mit einem trockenen Auflachen deutet sie auf ihre ausgetragene Trainingshose und das weiße Top, auf dem einige verwaschene Flecken zu erkennen sind. „Ich verhalte mich nicht nur wie eine, ich sehe auch wie eine aus."
Ich bleibe immer noch stumm, rühre mich nicht. Alles, was ich schaffe, ist Moms Blick zu begegnen, als diese mich mit einem entrückten Grinsen anschaut. „Mach es schlauer als deine Mutter, May. Nimm den Spaß mit, aber binde dich nicht an jemanden, der dich am Ende sowieso nur enttäuscht. Heiraten, Familie... das alles ist überbewertet. Werde lieber erfolgreich, bereise die Welt und lasse dich von niemanden klein machen."
Mom macht eine allumfassende Geste, als würden die Küche, das Haus, wir sie gefangen halten. Und immer noch bekomme ich kein Wort heraus. Dabei würde ich am liebsten schreien. Schreien, dass ich den Gedanken schön finde, irgendwann mit einem Mann zusammen ein Haus zu kaufen. Kinder, vielleicht auch einen Hund zu haben. Dass ich nicht ein schlechtes Ende erwarten will, bevor es überhaupt angefangen hat. All das tobt in meinem Kopf, während Mom mit einem seufzen abwinkt und sich bedankt, dass ich ihr immer zuhöre. Ich lasse es über mich ergehen, wie sie mir über die Haare streicht und mich dann fragt, was für einen Film ich rausgesucht habe. Irgendwie schaffe ich es den ganzen Abend im Autopiloten hinter mich zu bringen, während mein Hals vor all den unausgesprochenen Worten schmerzt. Und als ich gegen elf nach oben in mein Zimmer gehe, frage ich mich, ob es meiner Mom überhaupt aufgefallen ist, dass ich kaum mehr als zehn Wörter gesprochen habe, während sie mit jedem Glas Wein gesprächiger wurde. Über die Arbeit, auf der sie völlig unterbesetzt sind, bis zu Tim, an dem sie verzweifelt.
Ich fühle mich bis obenhin mit ihren Sorgen und Befürchtungen gefüllt. Sie lassen meine Beine ganz schwer werden, während mein Herz wild gegen meine Rippen pocht, als würde es am liebsten aus mir ausbrechen, um all den dunklen Gedanken zu entkommen. Doch ansonsten herrscht erstaunliche Taubheit in mir, als ich die Zimmertür hinter mir schließe. Ja, Mädelsabende mit meiner Mom sind wirklich fantastisch.
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