37

Ich stehe einfach nur da. Meine durchnässte Kleidung klebt an mir, während ich nach vorne blicke und auf den Sonnenaufgang warte. Vielleicht ist es mein letzter...
Als ich die ersten Strahlen entdecke, lächele ich. Die goldene Wärme lässt die Baumkronen orange glühen und gelbe Sonnenflecken tanzen verspielt auf dem Boden. Ich spüre, wie sich mein Herz erwärmt, als ich dieses wunderschöne Spektakel der Natur betrachte. Ich sehe Kalia vor mir, wie sie lacht. "Ich liebe Sonnenaufgänge. Sie bedeuten einen neuen Tag, eine neue Hoffnung. Eine neue Chance", flüstert sie mir ins Ohr.

Ich schließe die Augen, um die Wärme auf meiner blassen Haut zu spüren, um der Sonne näher zu kommen.

Ich höre friedliches Vogelgezwitscher und das sanfte Wispern des Windes erfüllt mich, während die Blätter der Bäume im Licht schimmern.

Es ist so friedlich. Noch gestern hätte ich mich darüber aufgeregt und gesagt, dass es zu friedlich wirkt. Ich hätte geschimpft, dass es hier gar nicht friedlich sein sollte, weil sich hier Kinder gegenseitig umbringen müssen.

Doch jetzt... habe ich mich verändert. Ich weiß nicht, ob die Erkenntnis an Catos Gespräch liegt oder, ob sie früher oder später sowieso gekommen wäre. Jetzt spüre ich Dankbarkeit in mir. Ich bin dankbar, noch diesen einen Sonnenaufgang betrachten zu dürfen. Ich habe die Wut hinter mir gelassen, den Hass habe ich aus meinem Kopf vertrieben. Das einzige, was ich jetzt noch will, ist...Hoffnung.

Nicht für mich, nein, für mich gab es sowieso nie Hoffnung. Ich will Hoffnung für die Menschen in Panem, in den armen Distrikten, sowie in den Reichen. Ich möchte Hoffnung für sie alle, Hoffnung auf ein Leben. Ich will, dass Menschen ohne Angst aufwachsen können, ohne von dem Kapitol ausgenutzt oder der Kinder beraubt zu werden. Ich möchte...ein neues Panem.

Auch wenn der Gedanke schmerzt, in diesem neuen Panem nicht selber leben zu können, bin ich bereit alles dafür zu geben. Alles.
Sogar mein Leben.

Es erschreckt mich, dass ich plötzlich so entschlossen bin und doch erfüllt es mich mit Stolz.

Nachdem die Sonne strahlend am blauen Himmel steht, der so rein und sauber wirkt, als hätte ihn der gestrige Regen gewaschen.

Lächelnd nehme ich den Apfel aus meinem Rucksack, um ihn zu essen, während ich durch den angenehm kühlen und nach Regen riechenden Wald gehe. Meine rechte Hand schmerzt nicht mehr so schlimm, doch mein Hals ist angeschwollen von Catos festem Griff.

Die Stille bringt mich zum Nachdenken, zum Träumen, sodass ich mich am liebsten hinsetzen und tagträumen würde. Doch dafür ist keine Zeit. Ich habe schließlich eine Aufgabe.

Entschlossen stapfe ich über den noch feuchten Erdboden, der jeden meiner Schritte schmatzen lässt. Das Geräusch ist witzig und ich fühle mich wie ein kleines Kind, das lachend durch den Matsch rennt.

Ich laufe unbeschwert weiter, eine Euphorie packt mich, während mich die Kraft nie zu verlassen scheint. Ich habe das Gefühl, ich bin unsterblich, unbesiegbar...und doch werde ich sterben.

Doch dieser Gedanke macht mir keine Angst mehr. Es ist fast so, als hätte sich dieser unbehagliche Knoten in meinem Bauch gelöst, der mir immerzu Bauchschmerzen bereitet hat, wenn ich daran gedacht habe zu sterben. Jetzt erfüllt mich Erleichterung, dass ich dem Tod so tapfer entgegen blicken kann.

Meine linke Hand ist zu einer Faust geballt, während die Rechte schlaff hinunterhängt.

Ich halte einen Moment inne, um die Augen zu schließen, meine Schultern sind entspannt. Ich fühle die schwüle Luft und den Duft nach Regen, die warme Brise umweht meine Ohren.

Ich fühle mich lebendig.

Ich lache auf, wenn ich wieder an die Ironie meines Lebens denke. Wie kann es sein, dass ich mich die ganze Zeit wie tot gefühlt habe, aber mich jetzt, wo ich mich entschieden habe zu sterben, lebendiger denn je fühle? Wie kann es sein, dass ich das Leben erst jetzt, kurz vor dem Tod, auskosten und wertschätzen kann?

Ich weiß es nicht. So wie ich vieles nicht weiß und nie wissen werde.

Ich beiße mir auf die Lippen, bis ich warmes Blut schmecke. Dieser Geschmack ist so normal für mich geworden. So oft habe ich jetzt hier schon Wunden gespürt und Blut gesehen. Blut an mir gesehen.

Ich öffne meine Augen einen Spalr breit und reiße die Augen überrascht auf.

Ein Sponsorengeschenk?!

Damit habe ich nicht gerechnet. Ich habe nicht damit gerechnet, dass Ivette und James überhaupt noch wissen, dass ich hier bin. Dass sie sich noch für mich interessieren, noch meinen Sieg wollen. Dass sie noch Hoffnung haben.

Es versetzt mir einen Stich ins Herz, denn ich weiß, dass ich sie enttäuschen werde. Dass ich sie enttäuschen muss.
Ich werde sterben, auch wenn Ivette und James, ja, ganz Distrikt 5 sich wünscht, dass ich gewinne. Alle beten für mich, denn unter den Top 4 ist schon lange kein Tribut mehr aus unserem Distrikt gewesen. Sie haben die Hoffnung, dass ich gewinne...

...Aber auch, wenn ich ihnen nicht diese Hoffnung erfüllen kann, ihren Traum von einem Sieger aus Distrikt 5, dennoch kann ich ihnen eine Hoffnung schenken.

Eine andere Hoffnung, eine...bessere Hoffnung. Auf ein besseres Leben.

Ich nicke und lächele bestimmt, während ich versuche die hoffnungsvollen Gesichter von Ivette und James aus meinem Kopf auszublenden.

Meine linke Hand greift nach dem Sponsorengeschenk und öffnet den kleinen Fallschirm umständlich. Es ist ungewohnt für mich, alles mit der linken Hand zu tun.

Als ich ihn endlich geöffnet habe, entdecke ich nichts außer einem Zettel.
Früher wäre ich enttäuscht gewesen, wäre wütend gewesen, dass sich Ivette und James nicht um mich sorgen und mir nicht die Chance geben zu gewinnen.

Doch jetzt bin ich beinahe erleichtert.

Ich brauche kein Essen, Medizin oder Trinken mehr. Worte ist das, was ich jetzt will. Worte von Ivette und James, meinen Mentoren, die mich an die Heimat erinnern. Ein paar letzte Worte.

Gespannt und lächelnd falte ich den kleinen Zettel auseinander. Das Rascheln des rauen Papiers erklingt in meinen Ohren wie Musik und ich streiche ein paar Sekunden lang nur darüber, um es in meinen Handflächen zu spüren.

Mein Blick richtet sich auf den Zettel, meine Augen schweifen gespannt über die Buchstaben.

Es ist nicht viel. Nur ein Satz. Vier Worte.

Tue es nicht, Sky.
~ I

Mein Herz setzt aus, als ich bemerke, dass Ivette ganz genau weiß, was ich vor habe. Sie weiß genau, was ich nicht vorhabe. Zu gewinnen.

Auch wenn es mich schockiert und beeindruckt, dass Ivette genau wusste, was in meinem Kopf vorging, was meine Worte an Cato wirklich bedeutet haben.

Ich schlucke schwer.

Ich will sie nicht enttäuschen. Ich will nicht, dass sie damit leben muss, erneut einen ihrer Tribute verloren zu haben. Ich will nicht, dass sie sich die Schuld daran gibt.

Aber ich muss. Ich muss es tun.

Ich schüttele den Kopf, während ich diesen Satz immer und immer wieder lese, als würden dadurch neue Worte sichtbar werden. Aber es bleibt dabei. Es bleibt bei einer Aufforderung, einer Bitte nichts Falsches zu tun.

Aber ich tue nichts Falsches. Ich tue das einzig Richtige für Panem, für mein Distrikt, für meine Heimat. Es ist nicht falsch.

Mein Blick wird abwesend, während ich die Bäume betrachte, als ich plötzlich innehalte. Meine Augen werden zu Schlitzen und ich greife instinktiv nach meinem Messer.

Schritte!

Eigentlich sollte ich nicht geschockt sein, keine Angst haben, denn ich habe doch sowieso vor zu sterben, oder?

... aber nicht so. Ich möchte nicht durch die Hand eines anderen sterben, jemanden, der mein Blut an seinen Händen kleben haben wird, der von meinem Distrikt verachtet und für meinen Tod verantwortlich gemacht wird, obwohl er doch nichts dafür kann.

Ich möchte durch mich selber sterben. Ich möchte durch meine Entscheidung sterben, freiwillig, so wie Katniss sich für ihre Schwester freiwillig meldete. Ich möchte ein Zeichen setzen.

Meine Schultern entspannen sich wieder ein wenig und ich schleiche zu dem Busch, aus dessen Richtung die Schritte erklungen sind. Ganz vorsichtig treten meine Füße auf dem Unterholz auf und ich blicke mit angehaltenem Atem zwischen den dichten Blättern hindurch.

Peeta.

Auch, wenn ich überrascht bin, dass Peeta schon wieder vollends gesund wirkt, lasse ich es mir nicht anmerken. Ich bleibe kalt.

Mein Blick mustert Peeta, seine Augen wirken müde und sein Gesicht eingefallen. Suchend schaue ich mich nach Katniss um. Die zwei haben den großen Vorteil, dass sie zu zweit gegen uns kämpfen, während Cato und ich auf uns alleine gestellt sind.

Aber wo ist Katniss? Wieso lässt sie Peeta alleine auf der Lichtung? Sie sollten immer zusammen bleiben, wenn sie gegen Cato eine Chance haben wollen.

...und was, wenn das eine Falle ist und Katniss gleich hinter mir steht, ihren Bogen auf mich gerichtet. So wie er auf Marvel gerichtet war...

Ein kalter Schauer überkommt mich und ich drehe mich um, auf alles gefasst.

Doch dort ist niemand.

Vielleicht sind Peeta und sie wirklich in andere Richtungen gegangen. Als mein Blick auf Peetas Hände fällt, bemerke ich die Beeren in ihnen. Er pflückt sie gerade, immer darauf bedacht sie nicht zu zerdrücken, damit noch möglichst viel Saft in ihnen ist. Deshalb haben sie sich aufgeteilt! Um auf Nahrungssuche zu gehen.

Ich grinse über meine verwirrten Gedanken und schüttele den Kopf.

Mein Blick ruht wieder auf Peeta und ich beobachte ihn amüsiert, während er etwas umständlich versucht, die bereits gepflückten Beeren in der Hand zu halten und gleichzeitig neue von dem grünen Strauch zu reißen. Die Blätter des Strauches verlaufen spitz zu, während an ihren hellgrünen Enden dunkelblaue, fast schwarze Beeren wachsen.

Interessiert betrachte ich den Busch genauer und lege den Kopf schräg.

Diese Beeren sehen ja fast aus wie die giftigen Nachtriegel, wenn man es nicht besser wüsste.

Ich lächele über seine Ungeschicktheit, während ich wieder zu Peeta hinüber sehe, wie dieser sorglos massenhaft Beeren pflückt.

Plötzlich gefriert mir das Lächeln auf meinen Lippen und ich reiße die Augen auf, völlig geschockt.

Völlig verwirrt blicke ich nochmal zum Busch, die Erkenntnis packt mich, als ich diese spitzen, hellgrünen Blätter erneut mustere.

Warte...das...SIND Nachtriegel!

Ich halte mir die Hand vor den Mund, um nicht laut aufzuschreien. Nachtriegel sind hochgiftig. Sofort stelle ich mir vor, wie Ivette vor mir steht und mich erwartungsvoll anblickt.

"Nachtriegel", flüstere ich atemlos. "Hochgiftig. Töten ehe sie im Magen sind."

Geschockt beobachte ich, wie Peeta immer mehr von ihnen pflückt und sorgfältig in seine Jacke auf dem Boden einbettet. Er weiß es nicht. Er weiß nicht, dass er gerade unwissend die giftigsten Beeren in der ganzen Arena pflückt. Ich sehe förmlich in seinen Augen, wie er mit der Versuchung kämpft, schon ein paar Beeren zu essen, um seinen Hunger ein wenig zu stillen, doch schließlich entscheidet er sich doch, mit dem Essen auf Katniss zu warten. Also seufzt er einmal laut auf und tritt durch ein paar Büsche, auf der Suche nach weiterem Essen. Er lässt die Lichtung zurück, nur noch seine Jacke und die Nachtriegel sind zu sehen und liegen dort friedlich, als hätte sie jemand dort vergessen.

Meine, immernoch weit aufgerissenen Augen, starren auf die Beeren.

Es wäre einfach, nicht wahr? So zu sterben. Kurz und schmerzlos.

Ich kann das nicht. Ich bin zu feige dafür. Ich kann mich nicht selber vergiften. Ich ... das geht nicht.

Was nützt es mir hier zu sterben? Was bringt es, wenn ich den Sieg Katniss und Peeta oder Cato überlasse? Was bringt es, wenn ich mich für jemanden opfere, der mich töten würde?

Mein Herz schlägt viel zu schnell, diesem Druck kann ich nicht standhalten. Peeta könnte jede Sekunde zurückkehren, dann ist meine Chance weg.

Ohne darüber nachzudenken, tragen mich meine Beine auf die Lichtung, wie in Trance trete ich zu den Beeren und habe eine Hand voll in der Hand. Es geht so schnell.

Meine Augen starren wie gebannt auf die kleinen, schwarzen Beeren.

Ich könnte ...

Nein, ich kann nicht.

Ich führe die Beeren zu meiner Nase und rieche daran. Ein saftiger Geruch tritt mir in die Nase und ich atme tief ein. Sie riechen so gut nach Erde und Heimat.

Ich kaue auf meiner Unterlippe herum, während in mir eine Uhr tickt. Peeta kommt bald zurück. Ich muss mich entscheiden.

Mein Herzschlag dröhnt laut und mein Atem ist flach und ungleichmäßig. Ich habe das Gefühl zu ersticken.

In meinem Kopf erscheinen Bilder, Erinnerungen von meinem Leben, das trotz der schlimmen Schicksalsschläge lebenswert war, weil es wunderschöne Momente gab. Ich denke daran, wie mein Vater mich anlächelt, er sitzt am Küchentisch und liest ein Buch. "Sky, gib auf dich Acht", sagt er, wie immer, bevor ich zu der Fabrik gehe. In seinen Augen strahlt Stolz und Liebe.

Ich spüre eine Träne an meiner Wange herunterlaufen.

Ich erinnere mich an meine Mutter, sie tritt zu mir und umarmt mich. Sie riecht gut,nach Lavendel. Ihre warmen Hände halten mein Gesicht, meine Unterlippe zittert, während mich ihr sanfter Blick mustert.
"Ich liebe dich, meine kleine Sky", flüstert sie mir ins Ohr und lacht unbeschwert, so wie sie immer lachte, bevor sie starb.

Noch mehr Tränen füllen meine Augen, sie laufen warm und salzig hinaus.

Ich denke an Marvel, spüre seinen Kuss. Seine Augen sind auf mich gerichtet, während er meine Hand mit seiner hält. Fest und liebevoll, als wolle er mir zeigen, dass er mich immer halten würde. Seine Finger streichen über meine Lippen und er nickt lächelnd. Das Gefühl geliebt zu werden ist wunderschön. Und doch zerbreche ich daran, denn alle, die ich liebte sind fort. Für immer.

Ich trete zurück, meine Augen sind rot und meine Hände zittern. Fassungslos lasse ich die Beeren fallen, sie landen auf dem Boden.

Ich kann das nicht.

Ich bringe weitere Schritte zwischen mich und die Beeren. Ich muss weg von ihnen. Sie werden mich umbringen. Ich möchte noch nicht sterben.

Voller Angst, als könnte ich aus Versehen die Beeren essen, verlasse ich die Lichtung. Meine Beine wollen weiter rennen, weit weg von den Beeren, weit weg von der Versuchung. Mein Gehirn befiehlt es mir auch, es schreit mich an, dass ich sofort weg muss.

...und doch bleibe ich stehen. Trotz den Befehlen und dem Flehen in meinem Kopf, kann ich nicht weg. Irgendwas hält mich fest, irgendwas sagt mir, dass ich bleiben muss.

Die Tränen der Erinnerungen fließen stumm aus meinen Augen und ich balle meine Fäuste. Ich...

Ich muss. Ich muss es tun.

Ich kann aber nicht! Ich will leben! Ich...

Aber ich muss.

Ich weiß nicht, was ich denke oder fühle, doch meine Beine tragen mich zurück. Zurück zu den Beeren. Schnell, unaufhaltsam rennen sie über den Waldboden, jeder Auftritt dröhnt und vibriert in meinem Kopf, so laut wie mein Herzschlag. Ich kann nicht mehr denken oder fühlen. Nein, das Einzige, was ich tun kann ist an das Leben zu denken. An meine letzten Minuten.

Ich hebe die Beeren erneut auf und betrachte sie.

Ich spüre, wie mich meine Mutter anblickt. Wie sie in meinen Erinnerungen ihre Augen auf mich richtet. Sie streckt ihre warme Hand nach mir aus, fordert mich auf, es ihr gleich zu tun. Ich stehe da, wie vom Blitz getroffen. Ich will nicht sterben. Ich will nicht.

Ich höre Schritte. Sie kommen näher.

Peeta.

Ich versuche gleichmäßig zu atmen, doch ich kann nicht. Nach Luft schnappend blicke ich die Beeren an.

Es ist so weit.

Nein, ich...

Doch.

Ich atme tief ein, während mir noch eine einzelne Träne an der Wange hinab läuft. Eine letzte Träne. Sie steht für all das, was ich hinter mir lassen werde. Für all das, was ich nicht mehr erleben kann. Für die Welt außerhalb von Panem, die ich nie sehen werde. Für das neue Panem, das hoffentlich bald in seiner Herrlichkeit erstrahlt und in dem diese grausamen Spiele der Vergangenheit angehören. Ich weine um Ivette, James und Distrikt 5, die ich jetzt enttäuschen werde. Ich weine um Marvel, der sich ein Leben für mich wünschte, um meine Eltern, die immer wollten, dass ich glücklich bin.

Und zuletzt weine ich um mich. Denn ich werde nie erfahren, was das Leben heißt. Ich werde nie erfahren, was es heißt glücklich zu leben, in einer friedlichen Welt, in der es kein Elend und keine Armut gibt. Ich werde all das, für das ich sterben werde nie selber leben.

Ich sterbe für das Leben anderer.

Und trotz den vielen Erinnerungen, dem Schmerz und der Angst vor dem Tod, der Angst diese tödlichen Beeren zu essen...trotz alldem, bin ich entschlossen.

Ich habe mich entschieden.

Die Blätter teilen sich und ich erkenne den Haarschopf von Peeta bereits zwischen den Zweigen.

Kurz schließe ich die Augen, um mich zu sammeln, um mir selber Kraft zuzusprechen und um mich zu verabschieden.

Langsam führe ich die Beeren zum Mund, ich rieche schon den süßlichen Duft des Saftes.

Ich werde jetzt sterben. Für Panem.

Ich möchte Hoffnung schenken, ein Zeichen setzen.

Ob das, was ich jetzt tun werde etwas bewirken wird? Das weiß ich nicht.

Aber ich weiß, dass es richtig ist. Dass das hier nötig ist, um die Welt zu verändern, auch, wenn diese Tat nur ein kleines Puzzlestück des Ganzen ist. Ein kleines Puzzlestück einer Bewegung. Einer Revolution.

Ich weiß, dass ich es tun werde.

Ich öffne die Augen, um Peetas verwirrtes Gesicht zu sehen, als er mich mit den Beeren sieht. Klar, er weiß nicht, dass sie giftig sind.

Ich nicke kaum merklich und lege mir eine Beere auf die Zunge.

Ich beiße zu.

Der süße Saft verteilt sich in meinem Mund, er prickelt angenehm auf meiner Zunge und sickert langsam in meine Speiseröhre.

Ich bereue es nicht.

Ich weiß, dass es richtig war.

Mein Blick schweift in die Ferne, sucht nach der Sonne, um noch einmal die warmen Strahlen zu spüren. Die angenehme Brise des Waldes kühlt meine trockene Haut und der moosige Geruch steigt in meine Nase. Es riecht ein wenig wie im Wald von Distrikt 5. Es ist ein Trost für mich.

Nun habe ich es tatsächlich getan.

Vielleicht wird allein meine Tat, mein Zeichen, nichts bewirken. Doch vielleicht wird es die Menschen dazu inspirieren gegen das Kapitol zu kämpfen. Vielleicht braucht es tatsächlich ein sechzehn-jährigesjähriges Mädchen, das sich lieber selber tötete, als andere umzubringen. Vielleicht braucht die Welt diese Art von Zeichen, damit die Menschen aufwachen und die Realität, die traurige Wahrheit, sehen.

Mein Blick verschwimmt etwas, meine Knie knicken ein und ich spüre den weichen Waldboden unter mir. Ich spüre Peetas fassungslosen Blick auf mir.

Ich fühle mich benebelt, kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ich sehe Bilder von meiner Mutter, die erneut ihre Hände nach mir ausstreckt. "Lass los, Sky", flüstert sie mir lächelnd zu. "Ich fange dich auf." Ich strecke meine Hände nach ihr aus, um in ihren warmen und sicheren Armen zu versinken. Sie streicht mir über den Kopf, sanft und liebevoll. Ich höre den Wind noch leicht wehen, ich spüre die warmen Strahlen noch leicht auf meiner Haut. Ich schaffe es zu lächeln, ganz leicht. Denn ich bin bereit.

Ich bin bereit zu sterben. Zu meinen Geliebten zu gehen, in Frieden zu ruhen. Neben ihnen.

"Es ist Zeit", flüstert meine Mutter dicht bei mir, als ich aus der Ferne einen Kanonenschuss höre, er erklingt wie der Schlag eines Richters, denn mein Urteil ist gefällt.

Ich nehme nichts mehr wahr, ich weiß nicht mehr, wo ich bin.

Ich fühle nur noch die Wärme meiner Mutter, dicht bei mir, ihre Hand in meiner. Und zusammen mit ihr, lebe ich ein letztes Mal, atme meinen letzten Atemzug, spüre ein letztes Mal den moosigen Waldboden unter mir und gebe mich der ewigen Geborgenheit hin, denn ich weiß, dass nun der Zeitpunkt gekommen ist, an dem ich die Welt verlasse, an dem mein Dasein endet.

Mit einem Lächeln auf den Lippen und der Wärme meiner Mutter, die mir wie die Sonne den Weg zeigt, trete ich den Weg in die Unendlichkeit an, glücklich und bereit, im ewigen Frieden wie die Blüte einer Rose zu erblühen.

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