Kᴀᴘɪᴛᴇʟ 24
Nebelschwaden erfüllen meine Gedanken und lassen meine Sicht verschwimmen. Ich sehe nichts, und doch habe ich das Gefühl alles sehen zu können. Dort ist es wieder. Das Plätschern des Gedankenflusses, das warme Licht, das ich niemals erreichen könnte. All das hier kenne ich schon.
Claires warme Seele strahlt aus der Ferne, ich spüre das Licht bis in die tiefsten Nischen meines Kopfes. Alles in mir schreit danach, sie zu erreichen, wie damals auch, als ich Claires Seele zum ersten Mal gespürt habe.
Gib mir mein!
„Letztes Mal hast du gesagt, dass es uns zerstören würde, wenn wir uns nähern“, flüstere ich, ohne zu wissen, ob diese Worte nur in unseren Seelen zu hören sind.
„Ich habe lange darüber nachgedacht“, erwidert Claires weiche Stimme. “Du bist jung und gesund, ich bin mir sicher, dass du es überleben wirst.“
Ich will mich wehren, meine Seele aufhalten, um Claire zu schützen, doch ich kann nicht. Denn dieses Mal lässt Claire es zu, dass ich mich ihr nähere. Ihre leuchtende Seele entfernt sich nicht mit jedem Schritt, den ich auf sie zu trete. Nein, auch sie schwebt auf mich zu. Mein Herzschlag dröhnt laut in meiner Brust und vermischt sich mit dem Rauschen des Flusses. Ich sehe nichts. Ich spüre.
Näher. Jeder Schritt, den ich hinter mich lege, erweckt noch mehr Gier in mir. Noch mehr Kraft in meiner Seele. Und langsam, ganz langsam schwindet meine Macht über meinen Körper. Ich versinke in den Tiefen meiner Seele, meine Wahrnehmung verschwimmt und wird schummriger.
Einzig und allein mein steigender Puls erfüllt mich. So laut.
Claires Seele nähert sich mir.
Nur noch wenige Schritte!
Ich schnappe nach Luft, wo keine ist. Das Tosen des Flusses ist so unglaublich laut.
Bald bin ich wieder ganz! Bald habe ich das, was mir zusteht! Bald kann ich ruhen!
Ich bin nicht mehr die Herrin meiner selbst.
Bald! Bald!
Wer bin ich? Bin ich noch ich? Oder bin ich längst verloren gegangen. Versunken in meinem eigenen Meer?
Das Licht kommt näher! Das, wonach wir so lange gesucht haben, rastlos und sehnsüchtig.
Ich ertrinke. Das Licht ist kurz vor mir, so nah, dass sich die Wärme bereits in meinem Körper ausbreitet. Kurz vor dem Zusammenprall. Mein Atem ist rasend schnell.
Kurz vor der Kollision. Kurz vor...
"Es wird wehtun", waren Claires Worte. Doch der Schmerz, der mit einem Schlag durch meinen gesamten Körper schießt ist nicht mit diesen drei Worten zu vergleichen.
Ich ertrinke nicht mehr in meiner Seele, nein, ich verbrenne.
Ein heiserer Schrei entweicht meinen Lippen, ich sehe nichts mehr außer einem Flimmern in meinen Augen, das sich in meine Augenhöhlen einzugravieren scheint. Mit jedem Atemzug, mit jedem Wimpernschlag, wenn ich denke, es könnte nicht schlimmer werden, wächst der Schmerz.
Ich spüre, wie ich auf den Boden sinke, ganz langsam, als würde mein Körper noch die Hoffnung haben, auf den Beinen zu bleiben. Doch wie soll ich stehen können, wenn meine Gedanken in Flammen stehen?
Mehr Schreie. Mehr heiße Tränen, die sich in meine Wangen einbrennen. Ich spüre Claires Seele in meinem Kopf. In meinen Gedanken. In meinen Adern. Überall.
Wer bin ich? Wo bin ich? Schluchzer, Schreie, Blut.
Bilder flammen in meinem Kopf, durchbrechen alles, was sie nur können. Die Augen einer Frau, mit Tränen gefüllt. Ihre geweiteten Augen spiegeln mich wieder, ein kleines, frisch geborenes Mädchen, das so stumm und leise auf die Welt gekommen ist. Noch mehr Schreie.
Ma?
Die Frau weint. Sie ist wunderschön. Und mit ihr weint die Welt. Der tosende Fluss meiner Gedanken weint. Claires Seele weint. Und ich weine. Meine Tränen sprudeln nur so hinaus, vermischen sich mit den starken Wellen, die plötzlich überall sind. Mein Kopf steht unter Wasser. Und doch verbrenne ich.
Meine Seele schreit. Erinnerungen, von denen ich nie wusste, dass sie existieren, vermischen sich. Meine Seele zerrt und reißt. Sie weint. Sie fleht. Scherben ihrerselbst bohren sich in mich und suchen nach den richtigen Teilen. Ich weiß nicht mehr, was mir gehört und was Claire gehört. Spüre ich gerade meine Angst oder sind es Claires Gefühle?
Die Hitze bildet Schweißperlen auf meinen Wangen.
Meine Seele bohrt ihre Krallen in alles, was ihr in den Weg kommt, in der Hoffnung, ihre verlorenen Scherben zu finden.
Nur dumpf spüre ich den kalten Boden unter mir, denn es fühlt sich an, als wäre ich unter Wasser und gleichzeitig hoch oben zwischen den Wolken. Meine glühende Stirn legt sich kraftlos auf den Boden, sodass ich nur noch Dunkelheit vor mir sehe. Ich will die Augen schließen, vielleicht verschwindet der Schmerz dann. Ich will bloß ein bisschen schlafen...
Ich nehme die quälende Hitze, die Flut an Gedanken, die ich nicht ertragen kann, nur noch leicht wahr. Die Wärme verraucht, der Strahl, der von Claires Seele ausging, verglimmt.
Langsam verklingt das Rauschen des Flusses, denn ich sinke immer tiefer. Ich höre nur noch das dumpfe Plätschern des Wassers, die Dunkelheit verschluckt mich. Die Verlockung, meine Augen zu schließen, ist so unglaublich groß. Nur eine kurze Pause, danach werde ich wieder hochtauchen und Luft holen. Nur noch ein wenig Ruhe...
Das Wasser schmiegt sich an mich, legt sich sanft um mich. Wie ein schützender Mantel geleitet es mich, während ich schwebend in Richtung Meeresgrund sinke.
Meine Gedanken schwimmen, lösen sich von mir, flüstern nur noch zaghafte Worte. Und meine Seele, sie ist verstummt. Sie hat ihre verlorenen Scherben gefunden, fühlt sich wieder komplett.
Die Stille in meinem Kopf ist friedlich und beängstigend zugleich. Nichts als das leise Plätschern meiner Gedanken ist zu hören. Ich will doch nur schlafen..., nur eine kleine Pause noch... .
Ich höre dumpfe Worte, die auf mich einreden, doch sie sind weit weg. Sie kommen von oben, von der Meeresoberfläche, die jedoch zu weit vom Meeresgrund entfernt ist, als dass ich diesen Worten Bedeutung schenken könnte. Es ist mein Name, das weiß ich. Eileen. Aber wer bin ich sonst? Was macht mich aus, jetzt wo meine Seele schweigt? Bin ich nur noch eine leere Hülle? Eine junge Frau, charakterlos und bedeutungslos?
Ich spüre Wärme, die mich einlullt. Etwas rüttelt an mir, ruft, fleht.
Aber ich will doch nur eine Pause. Ein wenig schlafen.
„Eileen“, erklingt es erneut aus der Ferne. „Bitte wach auf!“
Unwillkürlich erzittere ich. Das Wasser ist so unglaublich kalt. Vielleicht ist es nicht der richtige Ort, um zu schlafen. Es benebelt meine Gedanken, und doch beginne ich mit kräftigen Zügen in Richtung Oberfläche zu schwimmen. Die Wellen schlagen mir entgegen, doch das stetige Schütteln starker Arme und und die Wärme, treiben mich voran.
Dort. Das matte Licht der Sonne strahlt mir bereits entgegen. Dort ist die Wasseroberfläche. Bald entkomme ich dem Strudel meiner Gedanken.
„Eileen, bitte, ich flehe dich an!“
Ich beiße meine Zähne zusammen, versuche das Pochen an meinen Schläfen zu ignorieren. Ich kann nicht atmen, nicht schreien. Noch ein paar kräftige Züge, nur noch ein wenig Kraft.
Mit einem tosenden Geräusch wird die friedlich plätschernde Wasseroberfläche durchbrochen und ich schrecke auf.
Mein Kopf fährt herum, suchend und verwirrt. Der dunkle Gang, mit den kleinen Fenstern kommt mir so vertraut vor. Der harte Boden drückt in meinen Rücken und ich richte mich ächzend auf, sodass ich im Sitzen einen Überblick habe. Sofort bleibt mein Blick an David hängen, der direkt neben mir sitzt. Seine Augen sind immer noch weit aufgerissen, doch kurz darauf umspielt ein wunderschönes Lächeln seine Lippen. Ich kann mich nicht von diesem Anblick trennen. Mit einem warmen Gefühl senke ich den Blick und entdeckte Davids Hände in meinen.
„Ich...ich dachte, du wärst tot“, durchbricht David schließlich die Stille, woraufhin ich meinen Kopf wieder hebe, um ihm in die Augen blicken zu können. Seine Stimme klingt verletzlich, so anders als sonst. Ich löse meine Finger sanft aus seinem Griff und schmiege sie, ohne nachzudenken, an seine warme Wange.
Davids Augen lösen sich nicht von mir und wandern langsam zu meinen Lippen.
Wie gerne ich ihn küssen würde...
Aber dafür ist jetzt nicht der Zeitpunkt. Wir werden immer noch gesucht, wir könnten schließlich jeden Moment entdeckt werden. Außerdem will ich diesen Moment nicht genießen, während Claire zusieht.
Ich reiße meine Augen auf.
„Claire!“ Davids Augen weiten sich ebenfalls und er rappelt sich zeitgleich mit mir auf, um blitzschnell herum zu fahren.
Dort liegt sie. Im Schatten des Gangs wirkt sie klein und zerbrechlich.
In wenigen Sätzen stehe ich bei ihr. Ich kann meinen Blick nicht von ihrem zierlichen Körper, der in einem luftigen Nachthemd steckt, reißen. Eine gähnende Leere macht sich in mir breit, als ich auf meine reglose Tante hinabsehe.
Ich nehme kaum wahr, wie David sich hinkniet, um an ihrem Puls zu spüren, denn ich kann nur auf ihre weit aufgerissenen Augen blicken, die glanzlos in die Leere starren. Als würden sie an der Decke des Korridors etwas sehen, das ich nicht sehen kann. Als würden sie in dem Himmel aufblicken und nicht an eine kahle, weiße Decke.
David erhebt sich und spricht kurz darauf das aus, was ich bereits weiß.
„Sie ist tot.“
Tot. Wegen mir. Einzig und allein wegen mir.
„Nicht wegen dir“, sagt David sanft, als hätte er meine Gedanken gehört. Aber wahrscheinlich widerspiegeln meine Augen genau das, was ich gerade gedacht habe. Die Erkenntnis, das ihr Tod einzig und allein meine Schuld ist.
David legt seine Hände an meine Wangen und zwingt mich, ihn anzusehen.
„Eileen. Sie wäre eigentlich vor zwanzig Jahren gestorben. Dank dir hat sie zwanzig Jahre länger gelebt, als sie eigentlich sollte. Sie wäre sowieso bald gestorben.“
Auch wenn die Worte plausibel sind, kann ich sie nicht akzeptieren. Nicht, wenn ich diejenige bin, die Claire soeben das Leben genommen hat.
Davids Augen liegen auf mir und betrachten den Lauf meiner salzigen Tränen, die mir stumm über die glühenden Wangen sickern. Ich will sie wegwischen, doch David hält meine Finger sanft fest.
„Weißt du, jede Träne trägt ein wenig vom Schmerz weg. Lass sie fließen und du wirst spüren, das mit jedem winzigen Tropfen, etwas Last von dir genommen wird.“
Also lasse ich sie fließen. Als hätten wir Ewigkeiten Zeit, stehen wir einfach nur mit verschränkten Fingern da und lauschen den Tropfen, die kaum hörbar auf dem Steinboden landen.
„Wir müssen weiter“, flüstere ich schließlich mit belegter Stimme und vermeide es, meine Augen zu Claire schweifen zu lassen. Tot. Tot. Verdammt nochmal tot.
David nickt und wir beginnen den Gang entlangzulaufen, ohne unsere verschränkten Finger voneinander zu lösen. Ich fühle mich so unglaublich zerbrechlich. Kaputt. Die Stille in meinem Kopf, nach der ich mich so sehr gesehnt habe, lässt jedoch nur zu, dass meine eigenen Gedanken umso lauter schreien können.
Ich drücke Davids Hand noch fester und spüre, wie er mir Halt und Stärke gibt, die ich sonst nicht aufbringen könnte.
„Was ist mit Nora?“, will ich schließlich wissen, als wir in einen schmaleren Korridor abbiegen. Ich verfluche mich selber für meine weinerliche Stimme, die nichts als Schwäche ausstrahlt.
„Sie ist bei Juliett“, erwidert David knapp, ohne den Blick vom Gang zu lösen. „Sie weiß, wo der Ausgang ist und wird Nora hinbringen.“
Seine Worte sollen beruhigen, doch erzielen nicht die gewollte Wirkung. Denn ich weiß nicht, ob Juliett für Noras Sicherheit garantieren könnte. Noch vor wenigen Tagen hat sie mir schließlich mit ihrem Tod gedroht...
Doch ich schlucke meine Bedenken hinunter und kaue stattdessen nervös auf meiner Unterlippe herum.
„David?“ Meine Stimme zittert leicht. Wir biegen erneut ab und ich erblicke einen mir bekannten Gang.
„Ja?“
„Ich...danke. Für alles. Dafür, dass du für mich da warst und dein Leben für mich riskierst. Ich weiß nicht, wie ich das jemals wieder gut machen soll.“
Ein Schmunzeln erscheint auf Davids schönen Lippen und er wirft mir einen raschen Blick zu.
„Ich würde sagen, wir sind quitt. Ich war schließlich derjenige, der dich entführt hat. Du solltest dich nicht dafür bedanken, dass ich meinen Fehler wiedergutmache. Außerdem...“, er zögert kurz und schüttelt schließlich den Kopf.
„Los, wir sind fast da!“, sagt er und wir lösen unsere Hände voneinander, um schneller laufen zu können.
Besorgt runzele ich die Stirn, als ich auf die Eingangstür blicke. Müssten hier nicht viele Wachmänner stehen, um unsere Flucht zu verhindern? Wieso zu Hölle lassen sie die Eingangstür einfach unbewacht? Ist das hier wieder eine Falle?
David scheint meine Zweifel zu bemerken, denn er schüttelt entschieden den Kopf. „Wir gehen nicht durch die Eingangstür“, raunt er und öffnet die Tür rechts von ihm. Rasch schiebt er mich in den Raum und verschließt die Tür hinter uns.
Es ist dunkel und mir wird flau im Magen. Ohne meine Seele, die all das Unbekannte in der Dunkelheit, identifizieren konnte, fühle ich mich nackt und schutzlos. Einzig und allein Davids Atemzüge, die dicht an meinem Ohr erklingen, beruhigen meine aufgewühlten Gedanken, die sich alles mögliche in der Finsternis ausmalen.
Davids Arm legt sich um meine Hüfte und leitet mich durch die komplette Schwärze, in der wir nicht einmal unsere eigenen Füße sehen können.
„Vorsicht, ich öffne jetzt das Fenster“, murmelt David und etwas knarrt leise, nur wenige Zentimeter vor mir.
Frische Nachtluft schlägt mir entgegen und ein Seufzer entweicht meinen Lippen. Es duftet nach Regen, was nichts besonderes in England ist, doch mein Herz geht auf. Wann war ich das letzte Mal an der frischen Luft? In meinem Kopf entstehen Fantasien von wunderschönen Rapsfeldern, die ich bald wieder sehen werde. Bald kann ich wieder mitten im Regen vor einer Landschaft stehen und den Auslöser meiner Kamera drücken, um den Moment festzuhalten. Bald kann ich wieder Louis in den Armen halten und mit ihm Kinderlieder singen...
Ich spüre Davids auffordernden Blick auf mir, weshalb ich mich zusammenreiße und alle Gedanken der Freiheit beiseite schiebe. Denn noch bin ich nicht frei.
Meine Finger krallen sich in das Fensterbrett, das ich nach wenigen Sekunden ertaste. Ich ziehe mich hoch und schwinge meine Beine auf die andere Seite. Im blassen Licht des Mondes kann ich Gestrüpp unter mir erkennen, was den Sprung um einiges angenehmer machen wird. Denn auch, wenn wir uns im Erdgeschoss befinden, kommt mir der Fall tief vor.
„Wieso hat niemand die Tür bewacht?“, frage ich ihm Flüsterton, während ich mich vorsichtig an dem Fensterbrett hinunterziehe.
„Sie wurde bewacht. Die Wächter haben sich wahrscheinlich in einem der schmalen Korridore versteckt, um uns auf dem Weg festzuhalten“, erklärt David. „Hier nimm meine Hand, dann kannst du besser springen.“ Er reicht mir seine Hand, die ich ohne zu zögern ergreife, um mich schließlich noch tiefer an der Außenmauer hinabzulassen.
„Werden Juliett und Nora herausfinden?“
David nickt. „Ja, das werden sie. Und jetzt lass los. Der Sprung dürfte nicht allzu tief sein. Du brauchst bloß...“
Viele, laute Fußtritte unterbrechen David und er lässt meine Hände los. Mit einem Keuchen lande ich in dem kratzigen Gestrüpp. Panisch richte ich mich auf.
„Los, David! Spring!“, rufe ich mit rasendem Herz. Schreie durchbrechen die Stille und ich höre, wie die Tür des Zimmers, in dem sich David befindet, aufgerissen wird.
Ich erblicke Davids geweiteten Augen und kurz darauf seinen ganzen Körper, der sich über das Fensterbrett schwingt und mit einem dumpfen Aufprall neben mir landet.
„Halt! Oder wir schießen!“, erklingt es, doch David und ich drücken uns bereits an die Mauer des Hauses und beten, dass man uns nicht aus dem Fenster sehen kann. Mit leisen Schritten schleiche ich hinter David her, den ich in dem spärlichen Licht des Mondes kaum erkenne.
Mein Puls rast und ich schnappe nach Luft.
Nach einigen Metern löst sich David von der Mauer und steuert vom Haus weg. Die Silhouetten der Stadt kommen mir nicht wirklich bekannt vor. Außer der einen Mission, die ich hier einmal mit David durchführen musste, bin ich noch nie in dieser Stadt gewesen.
Entschlossen läuft David zu einem kleinen Parkplatz, an dem sich bereits ein paar alte Häuser mit zersplitterten Fensterscheiben befinden. In den Fenstern ist kein Licht zu sehen, was bei dieser Uhrzeit nicht wirklich ungewöhnlich ist.
„Hier“, David reicht mir einen Autoschlüssel. „Setz dich schon einmal rein!“ Ich widerspreche ihm nicht, doch mein skeptischer Blick folgt ihm, als er auf den Kofferraum zusteuert und ihn aufreißt.
Ich schiebe meine Zweifel beiseite und öffne die Autotür, um mich kurzerhand auf dem Beifahrersitz niederzulassen. Ungeduldig drehe ich mich zu David um, der leise fluchend ihm Kofferraum hantiert.
„Was machst du da?“, will ich wissen, doch David antwortet nicht.
Schließlich lächelt er triumphierend und hebt einen kleinen, rot blinkenden Metallklumpen hoch.
„Jetzt können wir fahren“, teilt er mir mit zufrieden mit. „Ohne, dass sie uns orten können.“
Verstehend lächel ich und öffne meinen Mund, um etwas zu sagen, doch erneute Schreie und ein Schuss ertönen. Schockiert reiße ich meinen Kopf herum.
„Fahr los, Eileen!“, ruft David nervös und schließt hinter sich die Kofferraumtür.
„A...aber ich bin das letzte Mal vor zwei Jahren Auto gefahren! Ich weiß gar nicht, ob ich das überhaupt noch...“ „Egal!“, unterbricht mich David und deutet auf ein Dutzend vermummte Personen, die sich unserem Auto nähern.
Panisch wechsele ich vom Beifahrersitz zum Fahrersitz und starte den Motor. Fast wie von selber drückt mein Fuß das Gaspedal, während David versucht, aus dem Kofferraum zu mir nach vorne zu klettern.
Wie gebannt liegt mein Blick auf der dunklen Straße. Nur wenige Straßenlaternen erhellen den Asphalt, weshalb ich nervös auf das Lenkrad trommel.
Mit einem Seufzer landet David auf dem Beifahrersitz und fährt sich durch seine zerzausten Haare. Rasch schnallt er sich und mich an, da ich es bei unserer gehetzten Abfahrt nicht geschafft habe.
„Du kannst doch fahren!“, stellt er mit einem Blick zu mir fest. Ich zucke mit den Schultern. „Ich schätze, dass ich es nur kann, weil es gerade um unser verdammtes Leben geht“, erwidere ich. „Bei meiner Fahrprüfung vor zwei Jahren konnte ich es jedenfalls nicht.“ David grinst und dreht sich um, um zu überprüfen, ob wir verfolgt werden.
„Bieg hier rechts ein“, sagt er schließlich und ich nicke, ehe ich das Steuer herumreiße, um in eine schmale Gasse zu preschen.
„Was ist mit Juliett und Nora?“, frage ich nervös und wahrscheinlich zum hundertsten Mal. „Wo treffen wir sie wieder?“
„Bei deinem Neffen“, erwidert David und ich blicke ihn verwirrt an. Auch er richtet seine Augen auf mich und legt den Kopf leicht schief.
„Dein Neffe ist nicht mehr sicher bei seinen Großeltern“, erklärt er und schluckt. „Und wir sind auch nicht mehr sicher. Nirgendwo.“
Ich bohre meine Finger ins Steuer, um nicht loszuschreien. Das hätte mir klar sein müssen. Wieso war ich so naiv zu glauben, alles könnte so sein wie früher? Ich unterdrücke die Tränen und richte meinen Blick wieder auf die Straße.
„Und was machen wir dann?“, frage ich leise.
Davids Augen verdüstern sich. „Erst einmal holen wir deinen Neffen. Nimm die vierte Straße links.“ Ich folge seiner Navigation stumm und beginne langsam, mich zu entspannen. Ich fahre wirklich nicht so schlecht, wie ich dachte.
„Wir sind nicht weit von deiner Heimatstadt entfernt“, meint David schließlich nach einigen Minuten des Schweigens. „Brenow, richtig?“
„Berrow“, erwidere ich und denke an die Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin. „Wie heißt diese Stadt hier?“, frage ich. „Ist es Bleadon?“
„Nein, aber nicht weit von Bleadon. Hutton. Sind nur zwanzig Minuten mit dem Auto“, meint David und reibt sich erschöpft die Augen. „Ich kann auch fahren, wenn du willst.“
Ich schüttel den Kopf. „Du bist müde“, antworte ich abwinkend. „Außerdem hatte ich nicht in Erinnerung, dass ich so gut Auto fahren kann“, füge ich mit einem matten Grinsen hinzu. „Das muss ich jetzt auskosten.“
David lächelt und mustert mich von der Seite, was Nervosität in mir weckt.
„Du bist schön“, sagt er schließlich und ich weite meine Augen überrascht. David lacht leise, während ich etwas vor mich hin stammel. „Das ist mir bereits am ersten Tag in der Waldhütte aufgefallen“, sagt er, eher zu sich selber, und wendet schließlich den Blick ab.
Die nächsten Minuten verlaufen schweigend, außer Davids kurzen Anweisungen, wo ich lang fahren muss. Die Äste der Bäume, die am Straßenrand in den Himmel ragen, bewegen sich stetig im Wind und je näher wir der Küste und somit auch Berrow kommen, desto stürmischer scheint es zu werden.
Abgebrochene Baumstücke prallen gegen die Scheibe und mir wird noch unwohler, als ein leichter Regen einsetzt.
Was werden wir tun, wenn wir Louis abgeholt haben? Wo sind wir überhaupt noch sicher?
Ich blicke zu David, dessen Augen starr auf der Landstraße vor uns liegen. Eine Falte hat sich zwischen seinen Augenbrauen gebildet, was meine Besorgnis noch mehr steigert.
„Ich frage mich, ob wir das hier üerleben werden“, sagt David leise und ich bemerke, wie sich ein Kloß in meinem Hals formt. Ich will ihn beruhigen, ihm versichern, dass wir bald wieder unser gewöhnliches Leben haben werden.
Doch ich kann es nicht. Denn unser Schicksal ist genauso ungewiss, wie die dunkle, breite Straße, die sich vor uns in einem Meer der Finsternis ergießt.
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