Kᴀᴘɪᴛᴇʟ 12

„Du fechtest nicht schlecht", gibt David zu, als wir uns nach einem Unentschieden auf eine Bank gesetzt haben, um uns auszuruhen. Ich lächele verlegen und streiche mir durch meine verschwitzten Haare.

„Du wirkst wie ein anderer Mensch, wenn du fechtest. Fast schon glücklich", meint David, während er mich betrachtet, woraufhin ich mich zu ihm drehe. „Ich bin auch eigentlich ein glücklicher Mensch, David", erwidere ich. „Aber weißt du, ich finde meine aktuelle Situation nicht gerade schön. Du kannst nicht von mir erwarten, dass ich hier glücklich bin."

Davids Augenbrauen schießen in die Höhe. „Achja? Du bist normalerweise glücklich, Eileen? Trotz deiner Seele, die dich jeden Tag belastet?" Er nähert sich meinem Gesicht und schmunzelt, als ich zurückweiche. „Vielleicht bist du auch glücklich, weil du gerade neben jemandem sitzt, dessen Seele du nicht lesen kannst."

Ich lache ironisch auf und erwidere Davids starren Blick. „Ich bin glücklich, weil ich gerade fechten konnte und in diesen Momenten auch meine verdammte Seele vergessen kann."

„Und weil du mit mir reden kannst, ohne von deiner Seele tyrannisiert zu werden."

„Nein! Ich bin nicht glücklich, dass ich mit meinem Entführer reden kann!" Empört funkele ich ihn an, sodass er schief grinst.

„David!", erklingt es vom anderen Ende des Ganges, woraufhin sich Davids Gesichtszüge sofort wieder verhärten. Erschrocken beobachte ich, wie seine Augen jegliche Emotion verlieren. Hastig erbeben wir uns beide und blicken in Richtung der Tür.

Meine Augen verschmälern sich augenblicklich, als ich die Person erkenne. David wirft mir einen kurzen Blick zu und wendet sich dann an Juliett, die soeben auf uns zu geht.

Ihre Augen glühen förmlich, sobald sie mich erblickt, doch ihr Blick ist schon kurz darauf wieder nur auf David gerichtet. „Juliett", begrüßt David nun seine Komplizin. Ich bin erstaunt über die Kälte in seiner Stimme, da er gerade eben sogar ein wenig mit mir gelacht hat. Plötzlich schäme ich mich dafür. Wieso mache ich Witze mit meinem Entführer? Er ist durch und durch böse. Und daran wird sich wohl nichts ändern.

„Wir besprechen in einer Stunde die Sache wegen dem Labor in Plymouth", informiert Juliett David. „Der Chef wird mit uns noch einmal eine explizite Lagebesprechung durchführen." Sie wirft mir einen kurzen, kühlen Blick zu. „Und ich würde gerne ein kurzes Wort mit Eileen wechseln. Unter vier Augen."

Irritiert blicke ich ihr in die Augen und dann zu David. Er mustert mich skeptisch. „Ich glaube kaum, dass das eine gute Idee ist. Eure letzte Begegnung hatte ein eher weniger schönes Ende."

„Wieso? Ich mochte das Ende", sagt Juliett unschuldig und grinst mich höhnisch an. „Oder hast du etwa noch Bauchschmerzen?" An David gewandt fügt sie noch hinzu: „Außerdem weiß ich, wo ihre Schwester lebt. Es wäre mir eine Freude, ihrem kleinen Neffen höchstpersönlich die Kehle durchzuschneiden."

Ich balle die Fäuste und öffne bereits meinen Mund, um Juliett ein hässliches Wort entgegenzuwerfen, doch plötzlich spüre ich Davids Hand auf meiner Schulter. Ich zucke zusammen und schaue ihn misstrauisch an. „Ich gehe jetzt", erklärt er. „Eileen, wage es nicht, Julietts Seele zu lesen, während ich weg bin. Und Juliett, lass die Finger von deinem Messer. Wir brauchen sie lebend."

Die Kühle in seiner Stimme scheint selbst Juliett zu überraschen, doch als David den Raum verlassen hat, fasst sie sich wieder. „Ich hoffe, du nimmst mir den Messerstich in deinem Bauch nicht persönlich", sagt Juliett, doch ihr Bedauern ist genauso falsch wie das entschuldigende Lächeln, das sie aufsetzt.

Ich schweige, da ich Angst habe, ich – oder meine Seele – könnte die Kontrolle verlieren und sie angreifen.

„Ich möchte mit dir über den Grund sprechen, wieso ich dich an die Organisation verraten habe."

Verwirrt sehe ich sie an und entdecke zum ersten Mal Ehrlichkeit in ihren Augen. Vielleicht ist sie aber auch eine sehr gute Schauspielerin.

„Als du mich damals mit deiner Seele verletzt hast, war ich geschockt. Ich wusste bereits von meinem Chef, dass so etwas wie Seelenlesen möglich ist, aber ich hätte nie gedacht, dass mich jemand tatsächlich auf diese Weise angreifen könnte. Ich war zu diesem Zeitpunkt bereits mental zerstört, aber als du mir mithilfe deiner Seele all diese schlimmen Erinnerungen wieder ins Gedächtnis gerufen hast, war ich einfach nur noch am Ende."

Ein stichartiger Schmerz macht sich in mir breit und ich schlucke. Julietts Augen wirken abwesend, als würde sie diese Nacht noch einmal durchleben, jeden Moment erneut verspüren. Sie scheint diesen Schmerz niemals vergessen zu haben. 

Ich habe sie verletzt. Niemand verdient so etwas. Niemand. Nicht einmal Juliett.

„Ich wusste in dieser Nacht nicht, was ich tun sollte. Wohin ich so gebrochen gehen konnte. Also bin ich zu David gefahren." Sie hält einen Moment inne, während sie in die Ferne blickt. Tausende von Gedanken schwirren durch meinen Kopf.

„David war für mich da und hat mir geholfen weiterzuleben. Er hat mich aufgebaut. Ohne ihn hätte ich niemals wieder glücklich sein können. Er wirkt immer kalt und emotionslos, aber in Wirklichkeit fühlt er. Genauso wie du und ich."

Schweigend lausche ich ihren Worten. David. Er hat sie unterstützt. Er war für sie da. Ein wohliges Gefühl macht sich in mir breit. Unbewusst erscheint ein Lächeln auf meinen Lippen, als hätte ich schon immer gewusst, dass David sich um Menschen sorgen kann.

„Und als ich ihm erzählt habe, wer mir das angetan hat, ist er wütend geworden. Er hat darauf bestanden, es unserem Chef zu sagen. Das wäre die einzige Möglichkeit, hat er gesagt, die uns weiterhelfen würde. Er hat geschworen, diesen Menschen, der mir das angetan hat, zu entführen und alles dafür zu tun, weitere Angriffe zu vermeiden."

Das Lächeln auf meinen Lippen schwindet. Mein Herzschlag dröhnt rasend in meiner Brust. Ich kann es nicht fassen.

David ist Schuld daran, dass ich hier bin? ER wollte, dass ich entführt werde?

Aber ich weiß ganz genau, dass das nicht der einzige Grund ist, wieso plötzlich Schmerz in meiner Brust aufflammt. Es ist der Fakt, dass David mich trotz des gemeinsamen Lachens, trotz der Spaziergänge im Wald, als Monster sieht. Er hasst mich und seine Seele, da ich Juliett verletzt habe. 

Es überrascht mich nicht. Jemand, der bereit ist, mich die ganze Zeit zu belügen, ist auch bereit dazu, mich an Kriminelle auszuliefern. Und obwohl es so logisch klingt, spüre ich die Enttäuschung. Schon wieder. Ich will es nicht akzeptieren, denn es ist falsch einem Verbrecher wie David zu vertrauen. Aber dennoch habe ich es getan. Irgendwie. 

Und es war ein Fehler.

„Wieso erzählst du mir das? Was spielt es für eine Rolle, wer Schuld an meiner Entführung ist?", frage ich leise, stets bedacht darauf meine Gefühle nicht zu zeigen. Aber Juliett sieht den Schmerz in meinen Augen. Sie sieht genau, wie mich ihre Worte verletzen. Doch es genügt ihr nicht.

„Ich erzähle dir das, um dir zu zeigen, dass er dich hasst", flüstert Juliett und ich zucke zusammen, als ich den Hohn in ihrer Stimme höre. Dennoch blicke ich ihr starr in die Augen.

Er hasst mich. In seinen Augen bin ich ein Monster. 

„Ich erzähle dir das", fährt Juliett fort, „um dir zu zeigen, wie sehr David dich und deine Gabe verabscheut. Er mag es dir vielleicht nicht zeigen, aber das liegt daran, dass er verschlossen ist. Ich möchte nur, dass du weißt, dass du von niemandem hier akzeptiert oder toleriert wirst. Denn du bist ein Monster." Julietts zorniger Blick durchbohrt mich und fügt mir unglaubliche Schmerzen zu. Tränen bilden sich in meinen Augen.

Nein, ich bin kein Monster! 

Doch, das bin ich. Ich verletze und zerstöre. 

„Du", faucht Juliett bedrohlich. „Du bist Abschaum. Und ich schwöre dir, dass ich deine Schwester eigenhändig umbringen werde. Denn das verdienst du. Und David stimmt mir in diesem Punkt zu. Er hasst dich."

Meine Seele möchte angreifen und die ihre in tausend Stücke reißen. Ihr Qualen zufügen und ihre Gefühle verletzen. Ich möchte sie Leiden sehen. Doch ich lasse es nicht zu. Ich werde meine Seele nicht wieder angreifen lassen. Diesmal nicht.

Meine Füße beginnen zu rennen, irgendwohin. Einfach nur weg von hier. Mein Atem erklingt laut in meinem Kopf, ich höre aus der Ferne meine eigenen Schluchzer. 

Ich möchte nach Hause. Ich möchte mich mit Nora versöhnen, mit Louis Spiele spielen, mit Kyla im Café quatschen und Zuhause mit einem spannenden Buch in der Hand Kamillentee trinken. Ich möchte wieder das Rapsfeld vor Noras Haus sehen und mich in den gelben Blüten verlieren. Ich möchte all das wieder haben. Ich möchte zurück in die Zeit, in der meine Adoptivmutter noch gelebt hat, denn ich will wieder ihre Umarmungen und ihre Liebe spüren. Ich will weg von hier. Einfach nur weg von hier. Weg von David. Weg von Juliett.

Meine Füße tragen mich irgendwohin, raus aus dem Fecht-Zimmer, durch den breiten Gang. Tränen laufen an meiner Wange hinab und verschwimmen meine Sicht.

Es ist mir egal. Egal. Egal. Egal.

Eine Stimme ruft mich. Egal. Ich renne weiter. Biege ab, durch einen weiteren Korridor. Schritte hinter mir, sie holen mich ein. Davids Stimme ruft erneut meinen Namen. Ich bleibe nicht stehen, denn ich will einfach nur rennen. Weg von hier. Ich renne so schnell wie noch nie. Ich spüre meinen rasenden Herzschlag in meiner Brust. 

Ich bekomme keine Luft. 

David holt mich ein. Er ist schnell. Ich blicke ihm nicht in die Augen, während er neben mir her rennt. Ich schäme mich für meine Schwäche. Aber das ist jetzt egal. Er hat die Tränen sowieso schon gesehen, ihm ist mein Schmerz sowieso egal. Egal.

„Bleib jetzt stehen, Eileen!", ruft David. Ich ignoriere ihn, weiche seinen Blicken aus. Er ist Schuld. An allem. Ich will weg von ihm. 

Ich kann nicht atmen. Panik kommt in mir hoch, frisst sich in mich rein. Aber ich bekomme kein Wort heraus. 

Er packt meine Hand, ich reiße mich los. Die Tränen fließen unaufhörlich aus meinen roten, verquollenen Augen. 

David hält meine Arme fest und bleibt stehen. Sein Griff ist fest und bestimmt, er dreht mich zu ihm. Ich zerre und ziehe so fest ich kann, während meine Tränen stumm fließen. Ich kann nicht mehr. Meine Kräfte verlassen mich. David zwingt mich ihn anzusehen. Aber ich sehe ihm nicht in die Augen. 

Ich stehe stumm da. Nicht in der Lage etwas anderes als diese unglaubliche Panik in meiner Brust zu spüren. Ich bekomme keine Luft mehr, ich will atmen. Die Tränen hören nicht auf zu fließen. 

Ich wehre mich nicht mehr, lasse mich von David durch die Gänge ziehen, zurück auf mein Zimmer. Ich lasse seinen festen Handgriff zu, ich beachte die Blicke der Menschen nicht. Es ist mir egal. Ich kollabiere direkt vor meinem Bett. 

Ich kann nicht atmen. Die Tränen ersticken mich. 

Ich lasse zu, dass David mich auf mein Bett hebt. Ich wehre mich nicht, als er mir mein T-Shirt auszieht und mich mit einer Wolldecke zudeckt. Ich lasse zu, dass er mir die Haare zusammenbindet und mir kühles Wasser auf die Stirn tupft. Ich lasse zu, dass er zu mir spricht, mich beruhigt. 

Aber ich blicke ihm nicht in die Augen. Ich ignoriere seine Worte, denn sie bedeuten mir nichts.

Nichts.

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