Akt 6 - Finaler Akt
Der Schauspieler ging einen Schritt näher an den Mann heran, hielt jedoch genügend Abstand.
"Nun?", fragte der Mann erneut.
Charles' Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit. So war es ihm möglich, zu erkennen, dass der Fremde einen feinen Anzug trug und ein kantiges Gesicht besaß. Zumindest stachen seine hohen Wangenknochen derart hervor, dass sie selbst bei diesen Lichtverhältnissen einzigartige Linien bildeten.
Charles' Augen weiteten sich, als ihm dämmerte, wen er vor sich hatte.
"Sie...", hauchte er. "Aber Sie sind... Wir haben sie dort unten gefunden ... tot. Sie hatten keinen Puls."
Ein raues Lachen hallte durch den länglichen Raum und klingelte unangenehm in Charles' Ohren. Kurz darauf folgte das Knarren des Stuhls, als der Mann sich erhob. Das Geräusch wäre beinahe von einem Donner verschluckt worden.
Instinktiv ging der Schauspieler einen Schritt rückwärts. Er wusste, dass er - sollte es dazu kommen - nicht in der Lage wäre, zu kämpfen, dennoch war der Überlebensinstinkt in ihm schlagartig erwacht.
"Wenn man einen Tischtennisball unter seine Achsel klemmt, ist es nicht möglich, einen Puls zu erfühlen", erklärte der Hausherr - seine Lippen zu einem schaurig schiefen Grinsen verzogen. "Schafft man es zusätzlich, mehrere Minuten die Luft anzuhalten, ist es ein Leichtes, vorzutäuschen man sei tot."
"Sie waren kalt und steif, verdammt!", argumentierte Charles fluchend. Er und Brian hatten ihn schließlich untersucht.
Der Mundwinkel des Mannes hob sich weiter an - Charles glaubte, gleich würde er des Mannes Auge erreichen. Das Grinsen wirkte verzerrt - wie aus einem Horrorfilm.
"Sehen Sie", fuhrt der Mann mit seiner Erklärung fort. "Belladonna ist ein äußerst praktisches Gift. Es tötet langsam und lässt das Opfer halluzinieren. Regt man diesen Effekt durch Stress und Panik an, erzielt man Effekte, die in dieser Lage nahezu perfekt waren."
Charles schüttelte den Kopf und ging einen weiteren Schritt zurück, woraufhin Nicolas T. Rinolds näher kam. Jetzt erreichte der schwache Lichtschein sein Gesicht. Das flüchtige Licht eines Blitzes schaffte es über den Flur bis ins Zimmer, erhellte seine Züge und hinterließ ein schauderhaftes Gefühl in Charles. Damit gab es für Charles keinen Zweifel mehr. Vor ihm stand der Herr dieser Insel, der die Gäste kurz zuvor persönlich eingeladen hatte.
Der Schauspieler schüttelte abermals seinen Kopf. "Das ergibt alles keinen Sinn.", entgegnete er - seine Stimme überschlug sich kaum merklich. "Wie war es Ihnen möglich, das alles so präzise zu planen? Die Leichen zu verstecken?"
Nicolas gluckste ein Lachen. "Wieso denn verstecken?", fragte er belustigt. Seine rechte Hand ruhte auf einem Flanierstock, dessen Kopf die Form einer Cobra hatte. Mit seiner Linken deutete er einmal ausschweifend in jede Himmelsrichtung. "Wir sind hier auf einer Insel. Normalerweise entsorge ich keinen Müll im Meer, doch in diesem Fall musste ich eine Ausnahme machen."
Charles lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Jeder Muskel in ihm erstarrte. Vor seinem inneren Auge sah er die leblosen Körper der anderen Gäste im Ozean treiben.
"Sie kommen damit niemals durch...", raunte er. "Man wird Sie verdächtigen."
Nicolas bettete seine zweite Hand auf die Rechte, den Flanierstock zwischen ihm und Charles. "Und weshalb sollte man dies tun?", wollte er wissen. Dabei legte er seinen Kopf gespielt ahnungslos schief.
"Niemand wusste von diesem Wochenende. Bis auf eure Agenten, die ich wissen ließ, dass ihr es euch anders überlegt habt und lieber auf der Jacht feiern wolltet. Eine Jacht, die tragischerweise im Meer versank aufgrund des Hurrikans, der in..." Nicolas zückte eine silberne Taschenuhr aus seiner Westentasche, ließ den Deckel aufspringen und nickte. "...in weniger als einer Stunde hier eintreffen wird.", beendete er den Satz.
Die Uhr ließ er zurück in seine Tasche gleiten. Seine Augen ruhten ausdruckslos auf Charles. "Doch Sie haben mir nicht gesagt, ob sie den Grund für all das erkannt haben.", fügte er hinzu.
Der Schauspieler zuckte irritiert mit den Brauen. "Dann kommen Sie eben so wenig von dieser Insel wie ich", sagte er. "Und nein, ich kenne den Grund nicht, weshalb Sie genau uns sechs auserkoren haben."
Nicolas ließ ein leises Tz Tz Tz verlauten und schenkte seinem gegenüber einen enttäuschten Blick. "Vielleicht habe ich wirklich zu viel von Ihnen verlangt.", seufzte er. "Sie erinnern sich an den Abend mit Mister Cooper, ja? Dann wissen Sie jetzt, dass diese Mädchen und Jungen unfreiwillig dort waren. Teenager, die man entführt hatte. Vermisste Kinder oder Waisen. Eines dieser Kinder hieß Marlene Steward. Sie ist eine Waise und verschwand eines Tages spurlos. Da ich sie mehrmals besuchte, weil ich dem Waisenhaus regelmäßig aushalf, recherchierte ich. Am Ende deckte ich den Ring auf, den Bernard Cooper führte. Ich ging nicht zur Behörde, weil Mister Cooper dort seine Finger im Spiel hatte. Es gibt leider viele Beamte, die sich an Minderjährigen vergreifen. Das nutzte Mister Cooper aus. Ich beschloss kurzerhand mich selbst um diese Angelegenheit zu kümmern."
Nicolas deutete mit seinem Stock auf Charles. "Ich räumte einen Beamten nach dem anderen aus dem Weg. Wenige von ihnen sind übrig und jene wird dasselbe Schicksal ereilen wie jenen zuvor. Sie, Mister Miller, bilden dabei keine Ausnahme. Bin ich mit Ihnen fertig, widme ich mich den übrigen Schändern dort draußen. Sie verstehen - ich kann nicht eher ruhen, bis jede Vergeltung beglichen ist."
Charles sank seinen Kopf und schwieg einige Atemzüge. Der Sturm, das Donnergrollen und der Wind, der durch die Löcher des Hauses pfiff, waren für einige Minuten die einzigen Geräusche, die den Raum erfüllten.
Schließlich nickte der Schauspieler. "Konnten Sie Marlene und die anderen retten?"
Nicolas hob seinen Flanierstock und griff ihn mit der Linken am Stiel. "Das konnte ich. Jedes Kind ist wieder zurückkehrt, doch die Narben, die sie in ihrem Inneren tragen, werden sie ein ganzes Leben begleiten.", antwortete er. Sein Blick ging von seinem Stock zurück zu Charles.
Schritt für Schritt ging er auf den Schauspieler zu. Dieses Mal wich der letzte Gast dieser Feier nicht mehr zurück. Charles blieb an Ort und Stelle stehen, seine Augen auf den Boden gerichtet.
"Es tut mir leid...", hauchte er. Seine Lider fielen langsam zu. "Ich schätze, ich blieb nicht am längsten am Leben, weil ich von der Sache wusste und mich beteiligte. Wäre dem so, stünde Bernard jetzt hier." Charles öffnete seine Augen wieder und hob seinen Kopf, bis sein Blick jenen des großgewachsenen Mannes vor ihm erreichte. "Ich war es, der mit Marlene geschlafen hat, oder nicht?"
Charles konnte erkennen, dass der Hausherr dieses Mal merklich sein Kiefer anspannte. Das und sein Schweigen reichten dem Schauspieler als Antwort, weswegen er den Kopf wieder sinken ließ. Dabei biss er sich auf seine Unterlippe, bis er den metallisch süßen Geschmack seines Blutes schmecken konnte.
"Bringen Sie's zu Ende", hauchte er.
Nicolas umfasste mit seiner Rechten den Griff des Flanierstockes und zog daran. Eine Klinge blitzte im schwachen Schein der Kerzen auf. Sie war lang wie Nicolas' Unterarm.
Ohne ein weiteres Wort zu verschwenden, stach er zu. Die Klinge war dünn und ließ sich präzise zwischen Charles' Rippen hindurch und in dessen Herz stoßen.
Der Schauspieler stöhnte keuchend auf, fasste sich instinktiv an seine Brust, taumelte zwei Schritte zurück und fiel schließlich auf die Knie - seine Augen weit aufgerissen. Anschließend kippte sein Körper zur Seite. Er röchelte einige Male vergebens nach Luft, ehe seine Muskeln jegliche Spannung verloren. Blut besudelte den Teppichboden und bildete eine Lache, die bis hin zu Nicolas' Schuhen floss.
Die Augen des Hausherren strahlten eine beängstigende Kälte aus. Sein Gesicht regte sich nicht, seine Augen blinzelten nicht. Ein tiefes Donnergrollen ließ das Haus erbeben. Wenige Sekunden später rüttelten die Wände und die Kronleuchter zitterten. Der Hurrikan näherte sich der Insel.
Nicolas ging in die Hocke und zog die Klinge aus Charles' Brust. Neben ihm stand plötzlich der Butler, ohne ein Geräusch erzeugt zu haben. Er reichte seinem Herrn ein Seidentaschentuch, mit dem die Klinge notdürftig gereinigt wurde.
Der Gastgeber erhob sich, ließ die Klinge in seinem Stock verschwinden und überließ den Rest seinem Butler.
"Danke, Barnaby, alter Freund", raunte er seinem Butler zu, bevor er den Raum verließ. Er hatte sein Ziel erreicht. Doch vor ihm lag noch ein weiter Weg.
"...Gestern Abend wurde bestätigt, dass sich unter den Opfern des Hurrikans Elise einige hohe Tiere befunden haben..."
"...Am Samstag Abend geriet die Jacht, auf der sich mehrere Prominente befunden haben sollen, direkt in den Hurrikan Elise. Auf dem Schiff wollten Susan K. Johnson, Katy Winsov, Brian O. Kennedy, George Davis, Abgeordneter Bernard Cooper und Charles Miller ein Wochenende verbringen. Bruchstücke der Jacht wurden in Bermuda angespült, von den Leichnamen fehlt allerdings jede Spur. Fans trauern, während andere bereits Verschwörungen nachgehen..."
"...Schockierende und schwerwiegende Beweise erreichten vor zwei Tagen die Presse und die Behörden von LA. Es ist bestätigt, dass der verstorbene Abgeordnete Bernard Cooper einen Ring von minderjährigen Prostituierten geführt hatte. Demzufolge ließ er Mädchen und Jungen entführen und sie anschließend an Freier verkaufen, unter denen sich mehrere Polizeibeamte befunden haben sollen..."
"...Unter den Opfern des Hurrikans Elise, der vor einer Woche über dem atlantischen Ozean, Bermuda und Teile Washington DCs fegte, befindet sich nach neuesten Untersuchungen der Milliardär Nicolas T. Rinolds, welcher sich laut Angaben auf seiner Privatinsel im atlantischen Ozean aufgehalten haben soll. Das Herrenhaus wurde bis auf sein Fundament zerstört und sowohl von Nicolas Rinolds als auch seinen Angestellten fehlt jede Spur. Er war der Führer mehrerer internationalen Unternehmungen. Aufgrund der dringenden Umstände in den Unternehmen wurde die Führung und der Besitz seinem treuen Freund Barnaby Willson überschrieben..."
Der Barkeeper schaltete das Radio aus und seufzte. "Jeden Tag dasselbe", brummte er. "Als würde es nichts Wichtigeres geben als reiche Schnösel." Er polierte mit angewiderten Blick weiter seine Gläser.
Die Bar war leer bis auf einen Gast, der an der Theke saß und an seinem Glas Whiskey nippte. Seine Lippen kräuselten sich kaum merklich zu einem Schmunzeln, als er seinen Drink abstellte.
Ein Siegelring an seinem kleinen Finger schimmerte golden. Die Buchstaben NR umschlangen sich auf kunstvolle Weise.
Seine Linke ruhte auf dem Kopf eines Flanierstockes, der eine Cobra formte.
Die schwarzen Haare hatte der Mann sorgfältig zurückgekämmt, wodurch die grauen Strähnen dazwischen herausstachen wie Blitze an einem düsteren Himmel.
Seine Lippen hoben sich weiter und weiter, formten ein schaurig unnatürliches Grinsen, bevor eine tiefe Stimme Wörter bildete.
"Sie denken doch nicht, das wäre das Ende gewesen?"
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