Akt 4
Katy hatte es mit der Hilfe von Charles zum Sofa geschafft. Die Wasserreserven neigten sich allmählich dem Ende zu.
"Wie lange denkt ihr, haben wir noch?", fragte Katy. Ihr Atem beruhigte sich ein wenig, wenn auch nur gelinde.
"Wahrscheinlich bis morgen", antwortete Brian. Er lehnte gegen den Küchentresen - sein Blick starr zur Glaswand gerichtet. Draußen stürmte es unverändert. Weder Regen noch Wind ließen nach.
"Wir sollten George untersuchen", fügte Brian nach einer Pause hinzu. "Eventuell finden wir Hinweise auf die Dinge, die hier geschehen. Selbst wenn's lediglich eine weitere Notiz wäre."
Katy verzog ihr Gesicht. Sie war alles andere als erpicht darauf, den verkrümmten Leichnam zu inspizieren. Brian schauderte der Gedanke nicht weniger. Sein Blick wanderte zu seinen Händen, dessen Haut noch rot gefärbt war.
"Ich kann mich darum kümmern", bot Charles an. "In eurem Zustand wärt ihr eher eine Behinderung für euch selbst."
Katy warf ihm vernichtende Blicke zu, wusste jedoch, dass er Recht hatte, weswegen sowohl sie als auch Brian zustimmten.
Charles trank seinen Cognac aus, stellte das Glas ab und verlies den Wohnbereich durch den mit Vorhängen versehenen Durchgang. Auf der anderen Seite wartete bereits die nächste Überraschung auf den Schauspieler.
Seine Augen weiteten sich minimal. Wenig später rief er: "Ich denke, ihr solltet euch das selbst ansehen!"
Es kostete Brian und Katy etwas Zeit, sich Arm in Arm aus dem Wohnbereich zu schleppen. Als sie neben Charles zum Stehen kamen, rissen sie ihre Augen auf.
"Was zur...", hauchte Brian.
Wäre das Blut an seinen Händen und seinem Hemd nicht gewesen, hätte er geglaubt, sich alles eingebildet zu haben.
Von Georges Leichnam fehlte jegliche Spur. Selbst die riesige Blutlache war bis auf den letzten Tropfen verschwunden. Anstelle seines Körpers lag ein kleiner Zettel auf jener Stelle.
Charles ging langsam in die Hocke und hob den Post-It auf. Katy schloss aufgrund schlimmer Vorahnung die Augen und Brian starrte weiterhin regungslos auf den Fleck Marmorboden.
"Was ist damit gemeint?", hauchte Katy stimmlos.
Charles starrte auf die Buchstaben und überlegte. Doch es war Brian, der die Antwort brachte.
"Der Glockenturm!", rief der Musiker.
Es dauerte, bis es allen dämmerte. Am Ende waren sie sich einig, dass es lediglich diese Option geben könnte. Leider gab es ein Problem. Egal wie oft sie das Haus absuchten, sie fanden keinen Weg auf den Turm.
"Es gibt hier nicht einmal einen Dachboden...", murmelte Katy - gefolgt von einem Hustenanfall. Das Kratzen in ihrem Hals schien schlimmer zu werden. Ihre Lippen bekamen Risse und ihr Atem ging schwer.
"Wahrscheinlich liegt all das im Verborgenem", meinte Charles und tastete die Wände ab. "In alten Häusern gab es immer Geheimgänge."
Brians Stimme drang aus dem Büro. "Leute?"
Die Schauspieler machten sich auf den Weg in den quadratischen Raum, wo der Musiker sie auf ein Detail aufmerksam machte. Der Raum war nicht quadratisch. Er sollte lediglich wirken wie der Salon unter dem Büro. Letzteres maß jedoch dreißig mal vierzig Fuß.
"Wie konnten wir das übersehen?" Brian tastete gemeinsam mit Charles die Wände ab, während Katy sich am Schreibtisch abstützte.
"Der Schock und das Gift würde ich behaupten", antwortete Charles. Plötzlich ertönte ein leises Klick.
Die beiden hielten inne und starrten auf ein rechteckiges Feld, dass sich vor Charles gebildet hatte. Die Wand hatte sich in Form einer schmalen Tür einen Zentimeter nach innen geschoben.
Charles legte seine Hände kurzerhand gegen besagte Stelle und drückte. Die Geheimtür gab nach und ließ sich nach innen hin aufschwingen.
Zum Vorschein kam ein schmaler - äußerst schmaler - Gang und eine Treppe, die nach oben führte.
"Schätze, wir haben die Dienstbotentreppe gefunden und das Geheimnis gelüftet", raunte der Schauspieler, ehe er den Gang betrat und vorsichtig Stufe für Stufe nach oben ging.
Brian half Katy und gemeinsam folgten sie Charles' Beispiel. Niemand sollte mehr zurückgelassen werden. Wer wusste, was demjenigen sonst geschehen würde. An dieser Stelle der Geschichte hatten die Gäste tatsächlich noch einen kleinen Funken Hoffnung in sich, diese Insel lebendig zu verlassen.
Die Treppe verlief schachtartig und brachte die drei direkt in den Glockenstuhl, dessen Fläche fünf mal fünf Meter maß. Mittig dessen fanden sie eine bewusstlose Susan.
Charles kniete sich vorsichtig hin, während der starke Wind sie beinahe vom Turm fegte und Regen ihnen kalt ins Gesicht peitschte. Er tastete die Influencerin vorsichtig nach einem Puls ab.
Plötzlich fuhr die zierliche Frau erschrocken hoch und schnappte keuchend nach Luft.
"Oh, Gott, Susan!", rief Katy mit einer Hand vor dem Mund.
Susan bemerkte die drei, sprang völlig verstört und schwankend auf ihre Beine und rief: "Lasst mich in Ruhe!"
Charles wollte nach ihr greifen, um sie daran zu hindern, auszurutschen, doch Susan schreckte deswegen zurück und schlug mit ihren Händen panisch um sich.
Gefangen in ihrer Halluzination steuerte sie rückwärts auf den Rand des Turms zu. Ehe sie sich versah, stürzte sie in die Tiefe.
Katy schrie sich die Seele aus dem Leib. Charles hatte versucht, Susan zu erwischen - erfolglos.
Susan schlug auf dem Dach weit unter ihnen auf, rollte die Schräge hinunter und blieb an einer Zinne hängen.
Beinahe hätte der Sturm den Schauspieler mit in die Tiefe gerissen, weswegen Brian verzweifelt beide seiner Kollegen mit zur Treppe riss.
Zurück im Haus verschloss er die Luke zum Glockenstuhl. Katy setzte sich auf die schmale Stufe und schluchzte in ihre Handflächen.
"Fuck!", brüllte Brian. Er schlug mit seiner Faust gegen die Steinwand. Seine Knöchel fingen an zu bluten, aber er konnte dem nicht weniger Beachtung schenkten.
"Was ist das hier für ein krankes Spiel?", knurrte der Musiker außer sich.
Die Gäste machten sich allmählich auf den Weg hinunter. Dabei wagte es keiner, ein Wort zu sagen - nicht, dass sie es wirklich gekonnt hätten, denn ihre Münder und Kehlen waren ausgetrocknet, ihre Sicht verschwommen und ihr Gleichgewichtssinn durcheinandergebrach.
Am Fuß der Treppe bemerkten sie, dass der schmale Gang sie weiterführte bis hin zu einer weiteren Treppe - diese führte sie zwei Stockwerke tiefer.
Sie kamen lediglich langsam voran. Das Delirium setzte bei Brian und Katy bereits ein. Charles stützte Katy, so gut es ging. Im Alkohol schien kein Gift gewesen zu sein. Ansonsten wäre er bereits tot - vermutete er.
"Hier ist nichts", stellte Brian als Erster fest, kaum, dass sie die Treppe verlassen hatten.
Theoretisch müssten sie sich nun in einem unterirdischen Gewölbe befinden, doch im Moment standen sie in einem weiteren schmalen Gang direkt vor einer Felswand.
Charles drängte sich an den beiden vorbei, um die Wand abzutasten. Just als er aufgeben wollte, trat er auf eine erhöhte Bodenplatte und ein leises Klick ertönte.
Die Felswand vor ihnen schob sich zurück. Hinter ihr kam eine kleine Höhle zum Vorschein. Die Dunkelheit nahm den Gästen jegliche Sicht. Katy bemerkte, dass sie zu wenig Akkuladung hatte, weswegen Brians und Charles' Handys ausreichen mussten.
Kaum erhellte der schwache Strahl Licht den höhlenartigen Raum, schnappte Katy erschrocken nach Luft und hielt sich die Hände vor den Mund - ihre Augen weit aufgerissen.
Vor ihnen lag ein lebloser Körper.
Die Gäste erkannten ihn als den Hausherrn - der Mann, der sie vor wenigen Tagen auf einer Jachtparty hier her eingeladen hatte. Er hatte sich als Nicolas T. Rinolds vorgestellt, besaß schwarzes, modisch geschnittenes Haar mit einigen grauen Strähnen und einen gepflegten Vollbart mit Moustache.
Jetzt lag er blass vor ihnen - kalt und steif.
Charles torkelte langsam vor, kniete sich hin und tastete den Mann nach einem Puls ab. Schließlich ließ er den Kopf hängen und stieß die Luft lange aus.
"Er ist tot", teilte er den anderen mit, ehe er sich wieder erhob.
Katy schnappte abermals nach Luft, jetzt lag ein leises Wimmern darin.
Brian schloss für einen Augenblick die Augen. "In unserem derzeitigen Zustand schaffen wir es mit der Leiche niemals die Treppe hinauf.", meinte er. "Wir müssen ihn hier lassen."
"Hatte er eine Notiz dabei?", fragte Katy - ihre Stimme ein tonloses Hauchen.
Charles ging erneut in die Hocke und suchte des Mannes Taschen durch. Der Schauspieler zog einen kleinen Zettel aus der Westentasche und hievte sich schwankend auf die Beine.
Der Musiker ließ Katy an der Wand gelehnt stehen, um sich mit Charles anzusehen, was auf dem Stück Papier geschrieben stand, obgleich es ihm schwer fiel, sich auf die Buchstaben zu konzentrieren. Sie schienen sich zu bewegen, in den Raum zu schweben und um ihn herumzutanzen wie Musiknoten.
Charles haderte nicht lange und steuerte die Treppe an. Hinter ihm rief Brian: "Das ist doch verrückt! Hey, Charles! Warte!"
Katy torkelte den Männern leicht benommen hinterher, die Stufen hinauf bis zur Tür des Büros. Zum ersten Mal seit Susans Sturz betraten die drei übrigen Gäste den Raum wieder.
Jeder erstarrte noch vor der Geheimtür.
Mitten im Büro - welches einzig allein durch das Licht am Flur beleuchtet wurde - lag ein weiterer regungsloser Körper.
"Bernard?", wisperte Katy im ersten Augenblick. Ihr gesamter Körper bebte.
Die Männer waren sich unschlüssig, ob dies lediglich eine Halluzination war oder die beinharte Realität.
"Das kann nicht Bernard sein", raunte Brian. "Der war nicht so dürr."
Es wagte keiner, ihre Handys anzuheben. Stattdessen blieben die kleinen Lichtstrahlen auf ihre Füße gerichtet. Selbst Charles fühlte sich kaum noch in der Lage, seinen Arm endlich zu heben, um den Körper zu beleuchten.
"Der... Butler?" Brian trat ungläubig einen Schritt näher, richtete das Licht aus seinem Handy auf den Mann am Boden und beugte sich hinunter.
Seine zittrige Hand tastete Hals und Armgelenke des Butlers ab. Die Hoffnung auf Leben war vergebens gewesen. Brian taumelte einige Schritte rückwärts und stieß gegen den Schreibtisch.
"Wenn das der Butler ist...", kam es leise von Katy. Sie stand weiterhin im Durchgang zur Dienstbotentreppe. "Wer steckt dann hinter all dem?"
Charles blickte auf die Notiz in seiner Hand. "Denkt ihr, mit Geschichte ist der Grund für all das hier gemeint?", fragte er in die Runde.
Brian wandte seinen Blick von dem Toten ab und atmete schwer ein und aus. Charles fand es eigenartig, dass sich Brian vorhin in den Weg hatte stellen wollen. Aus welchem Grund könnte er verhindern wollen, dass man sein Gepäck durchwühlt?
Charles musste es herausfinden. Er sah keinen anderen Weg, aus dieser Sache eventuell lebend herauszukommen. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, eilte er an Brian und dem Butler vorbei.
Der Raum schien sich zu drehen, weswegen er beinahe über den Arm des Toten gestolpert wäre. Trotz all der Umstände ließ er sich nicht beirren und torkelte zu Brians Zimmer. Der Musiker bemerkte es erst zu spät und holte Charles ein, als dieser bereits den Raum betreten hatte.
"Charles!", keifte er mit röchelnder Stimme.
Der Schauspieler stand in der Tür und starrte auf einen Fleck am Boden. Irritiert warf Brian einen Blick über die Schulter des Mannes, der nur wenige Zentimeter kleiner war als er selbst. Da entdeckte auch Brian es.
Der violette Teppich war durch einen Schwarzen ausgetauscht worden.
Auf dem Kunstfell lag ein weiterer Post-It. In der Farbe, die der Teppich einst gehabt hatte.
Man musste die Notiz nicht aufheben, um in der Lage zu sein, zu lesen, was dort geschrieben stand. Selbst Katy, die sich keuchend an den Männern vorbeizwängte, um es mit ihren eigenen Augen sehen zu können.
Ehe Brian ihn hätte aufhalten können, lief Charles auf dessen Gepäck zu und entleerte den Inhalt am Bett. Der Laptop rutschte heraus und landete auf einem Haufen Kleidung.
"Lass das!", zischte Brian gefolgt von einem Hustenanfall.
"Willst du irgendwie überleben oder nicht?!", entgegnete Charles und sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Anschließend öffnete er den Laptop und startete das Gerät. Es war binnen weniger Sekunden hochgefahren war.
"Passwort?"
Brian presste seine Lippen aufeinander. "Das ist doch verrückt!"
"Passwort?!", wiederholte Charles dieses Mal lauter und mit Nachdruck.
Nur widerwillig trat der Musiker an Charles' Seite, um sich am Laptop anzumelden. Charles schob ihn nahezu sofort weg, kaum dass der Home-Bildschirm erschien.
Mit flinken Fingern durchforstete er das Gerät, bis er auf einen verschlüsselten Ordner stieß. Charles deutete mit seinem Finger auf den Bildschirm. "Entsperr' das!"
Seine Stimme duldete keinen Widerspruch. Dennoch blickte Brian kurz zu Katy, die sich auf der anderen Seite des Raumes gegen die Tür lehnen musste. Letzten Endes gab der Musiker klein bei und entschlüsselte den Ordner.
Videos kamen zum Vorschein.
Videos wie man sie lediglich im Dark Net bekam.
Charles nahm seine Finger langsam von der Tastatur. Er sagte kein Wort. Kein Kommentar, kein Blick, keine Geste.
"Ich schätze, es ist offiziell, dass wir alle hier sind, weil wir scheiße gebaut haben", raunte er nach einer gefühlten Ewigkeit. "Und deswegen werden wir vermutlich sterben."
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