Akt 3
Mittig im quadratischen Raum stand ein massiver Holzschreibtisch mit Stuhl. Dahinter deckenhohe Bücherregale. Links neben dem Tisch ein großer Globus, rechts vom Regal eine Büste von der Göttin Justitia. Kein Computer oder Laptop. Keine persönlichen Sachen und keine einzige Spur vom Hausherrn.
"Was ist das hier?", fragte Katy, die gerade ein Buch zurück ins Regal stellte.
Die Gäste hatten ihre Handys geholt, um mehr Licht zu haben. In der Hoffnung, hier zumindest ein Anzeichen oder einen Hinweis auf den Gastgeber zu finden.
"Wieso sollte jemand sein Büro auf präzise Weise versperren, wenn sich hier nichts weiter befindet?", fuhr Katy fort.
Susan hatte sich an den Schreibtisch gesetzt. Sie fühlte sich, als würde jede kleine Bewegung ihren Magen mehr und mehr herausfordern.
Charles tastete den Globus ab. Er hatte es zunächst für eine kleine Bar gehalten. Viele reiche Leute versteckten dort ihre besten alkoholischen Schätze.
Brian sah die Schubladen durch. Auf der Tischplatte lag zwar nichts, allerdings kam Katy eine Idee. Mit dem kleinen Lichtstrahl aus ihrem Handy suchte sie das Holz nach weiteren Einkerbungen ab.
George kam mit einer frischen Wasserflasche zurück, aus der er die Hälfte trank. Charles musterte ihn kurz, ging an ihm vorbei und suchte die Wände ab. Dabei torkelte er ein wenig zur Seite. Keiner hatte einen Überblick darüber, wie viel er bereits getrunken hatte.
Brian schob die letzte Schublade mit Schwung zu und fluchte. Keine geheimen Fächer, keine doppelten Böden und erst recht keine relevanten Hinweise auf den Hausherren.
Der Musiker richtete sich auf und wandte sich der Statue von Justitia zu. Etwas kam ihm eigenartig vor.
"Hatte Justitia schon immer eine kaputte Waage und ein flammendes Schwert?", fragte er in die Runde.
Charles drehte sich etwas zu schnell um und musste sich an der Wand abstützen.
George schüttelte als Antwort den Kopf und sagte: "Kann sein, dass manche Künstler sie mit flammendem Schwert darstellen, aber die Waage sollte stets gleich aussehen."
"Nun, die hier ist definitiv gerissen", meinte Brian und hielt sein Licht höher, damit alle es sehen konnten. Die linke Schale war abgerissen und die Waage dadurch ins Ungleichgewicht gebracht. Am Boden befanden sich weder Reste einer Büste noch die fehlende Schale. Bei genauerem Betrachten erkannte man, dass die Statue gewollt auf diese Weise gefertigt worden war.
Katy kam näher und untersuchte das Dekostück genauer. Sie tastete von Kopf bis Sockel alles ab. Diese Justitia maß beinahe ihre Größe.
"Hier klebt etwas", teilte sie den anderen mit, woraufhin alle bis auf die Influencerin einen Schritt näher kamen.
Es war eine weitere Notiz.
Die Blicke richteten sich auf das Bücherregal. "Ein Buch?", fragte Susan verwirrt und drehte sich am Stuhl um.
Katy strich mit ihren langen Nägeln über die Rücken der Lektüren. Brian spendete ihr mit seinem Smartphone etwas mehr Licht. Weiter oben fanden sie das gesuchte Werk.
Die Schauspielerin zog das Buch heraus und schlug es kurzerhand auf. Zwischen den Seiten lagen mehrere Bilder, die allesamt zu Boden segelten. Katy erstarrte an Ort und Stelle, während Brian die Luft zischend ausstieß.
"Schätze, das sind keine gewollten Pornografie-Aufnahmen.", raunte er.
Jedes Bild zeigte Katy Winsov im Bett mit bekannten Männern aus Politik, Musik und Schauspiel. Dem Winkel der Aufnahmen war zu entnehmen, dass die Bilder mit einer Drohne geknipst worden waren. Die Zahlen am unteren Rand datierten die Szenen lediglich wenige Wochen und Tage zurück - obgleich sich dazwischen ebenfalls ältere Bilder befanden, alles zeugte davon, dass Katy ihren Mann mehrmals betrogen hatte.
Charles nahm eines der Bilder, das auf der Tischplatte gelandet war und gluckste ein Lachen, woraufhin Katy sich mit tötenden Blicken zu ihm umdrehte. Auf der Fotografie in seiner Hand war die Schauspielerin gemeinsam mit Bernard abgelichtet worden.
"Wie's aussieht, hast du mit beinahe allen geschlafen, nur nicht mit mir", stellte Charles amüsiert fest. "Allerdings kaum ein schlimmes Geheimnis in unserer Branche."
"Ich sage es nur ungern, aber Charles hat Recht", meldete sich Susan. Sie wollte der Schauspielerin Mut zusprechen. "Bernard hat weitaus schlimmeres getan."
Katy wandte sich ab und ging ein paar Schritte. Ihr Mann war kaum Zuhause und ihr Sohn trieb sie in den Wahnsinn. Dass sie sich eines Abends in solche waghalsigen Bekanntschaften geflüchtet hatte, war das Ergebnis von innerer Unzufriedenheit gewesen. Bereits vor ihrer Heirat hatte es solche Momente gegeben. Allerdings hätte Katy niemals ausgesprochen, warum sie es getan hatte.
"Da!", rief George plötzlich. Er deutete mit der Wasserflasche in den Flur hinaus, wobei er einiges verschüttete.
Die anderen hoben erschrocken ihre Köpfe, da eilte George bereits hinaus in den Korridor. Donnergrollen ließ die Insel erbeben und das Haus erzittern, während der Politiker einem Geist nachjagte. Er eilte derart flink in Richtung Treppe, dass der Rest ihm kaum hinterher kam.
Die übrigen Gäste - alle bis auf Susan, die zu schwach war, um aufzustehen - eilten einer nach dem anderen aus dem Büro - nach einem Augenblick des Zögerns. Dieser Augenblick schien verheerend.
Georges Schrei hallte durch die Korridore, gefolgt von Poltern und einem harten Aufschlag. Brian nahm an Tempo zu und stürmte um die Ecke. Er rannte zum Gusseisengelände der Treppe und beugte sich mit Schwung darüber.
In der Eingangshalle lag ein deformierter George mit weitaufgerissenen Augen. Sein Gesicht war nach oben gerichtet. Seine Gliedmaßen zeigten alle auf unschöne Weise in eine andere Richtung. Dunkelrotes Blut breitete sich unter ihm aus wie zwei Flügel und ein Heiligenschein.
Das Gesamtbild schien völlig surreal, weswegen Brian einen Moment innehielt - unfähig sich von dem Gelände loszureißen.
Charles landete torkelnd neben ihm, was Brian aus seiner Trance riss und ihn dazu brachte, die Stufen hinunter zu eilen.
Katy kam um die Ecke. Charles drehte sich zu ihrem schockierten Gesicht um und drückte sie - so sanft es ihm möglich war - rückwärts, damit sie den schrecklichen Anblick nicht mit ansehen musste.
Währenddessen tastete Brian den verrenkten Körper von George nach einem Puls ab. Er rutschte auf Knien in dem vielen Blut aus und landete halb auf Georges Leichnam.
Der Musiker erhob sich nur mit Mühe aus der dickflüssigen Substanz, die in seinen Augen langsam einen ganzen See bildete. Er war von oben bis unten mit ihr besudelt. Sein Hemd getränkt und seine Gliedmaßen verfärbt.
Keuchend und unfähig, normal zu atmen, fuhr er sich übers Gesicht und durch die Haare, was lediglich bezweckte, dass Georges Blut auch dort landete.
Der Schrei von Susan weckte alle auf. Irritiert und außer Stande sich in Zeit und Raum zurechtzufinden, sahen sich die Anwesenden um.
Susan war noch im Büro, fiel ihnen ein.
Charles und Katy eilten als erste los, während Brian schwankend auf die Beine kam und sich seinen Weg zurück nach oben bahnte.
"Susan?!", rief Katy mit bebender Stimme.
Gemeinsam mit Charles durchleuchtete sie den Raum, doch von der Influencerin fehlte jegliche Spur.
Brian stieß schwer atmend zu ihnen, nur um diese Tatsache zu bestätigen.
Der Schrei war definitiv aus dem Büro gekommen. Zur Sicherheit sahen die übrigen drei Gäste in den naheliegenden Räumen nach. Als letztes steuerten sie Susans Zimmer an, das ebenfalls in der Nähe zum Büro lag.
Der Raum war leer. Bis auf ...
Dort wo einst der rosafarbene Teppich gelegen hatte, lag nun ein rosafarbenes Post-It.
"Wir haben all das Obst gegessen...", murmelte Katy.
Charles haderte nicht lange, ging an beiden vorbei und lief hinunter in die Küche. Dabei schenkte er dem Leichnam von George keinen Blick. Katy und Brian taten sich schwerer damit.
Die Schauspielerin hob ihren Kopf so weit an, dass der Tote aus ihrem Blickfeld verschwand.
Brian schien weitgehend in einer Trance festzustecken. In der Küche goss er sich als erstes ein Glas Cognac ein, wobei er die Bar und die Flaschen mit Blut beschmierte.
"Hier sind Äpfel", sprach Katy das Offensichtliche an. Mit verwirrtem Blick starrte sie auf die Obstschüssel auf der Kücheninsel, die zuvor definitiv leer gewesen war. Jetzt lagen mehrere rote Äpfel darin.
Charles war davor stehen geblieben und starrte einen Augenblick lang starr dorthin. Schließlich kam Leben in seine Knochen. Er bewegte sich ruckartig, packte die Schüssel und leerte den Inhalt auf der Küchenfläche aus.
Die auf dem ersten Blick saftig roten Äpfel waren auf der anderen Seite allesamt verfault. Zwischen ihnen lag ein USB Stick mit USB-C Anschluss.
Katy griff vorsichtig danach, als könnte sich das Ding in eine Schlange verwandeln und sie beißen. Zögernd steckte sie es in ihr Handy und öffnete den sich darauf befindenden Ordner.
Es handelte sich um zwei Videodateien.
Das erste Video zeigte eine Aufnahme ähnlich wie die Bilder aus dem Büro. Dieses Mal jedoch war es Susan, die eine Affäre hatte. Mit niemand Geringerem als dem Ehemann von Katy Winsov.
Dessen Augen weiteten sich, als sie es erkannte. Ihre Hände zitterten mehr als zuvor, während sie das Handy fest umklammert hielt.
Charles schloss das Video und öffnete das Nächste.
Es zeigte Katy, wie sie betrunken einen jungen Schauspieler dazu drängte mit ihr zu schlafen - erfolgreich. Das Video schnitt im Akt und zeigte den jungen Schauspieler, der verstört und mit der Hose an den Knien aus dem Hotelzimmer rannte.
Charles stieß die Luft flötend aus, ging an die Bar und goss sich Whiskey nach. Dem Blut schenkte er keine Beachtung.
"Schätze, dein Geheimnis war doch nicht weniger skandalös.", raunte er nahezu amüsiert. Er führte das Glas an seine Lippen und trank den Alkohol in einem Zug aus.
Brian versuchte sich das Blut an der Spüle abzuwaschen, doch die rote Farbe auf seiner Haut blieb. Schwer atmend riss er sich schließlich das Hemd vom Oberkörper.
Katy warf das Handy auf den Tresen und rannte in das nächstgelegene Badezimmer, wo sie sich hörbar übergab.
Brian stützte sich mit den Händen an der Kücheninsel ab und ließ den Kopf kurzatmig hängen.
"Was hat George wohl gesehen?" Charles stellte die Frage kommentarlos in den Raum und goss sich Cognac in sein Glas. Der Whiskey war bereits leer.
Brian hob seinen Kopf träge an, nachdem der Schauspieler diese Frage ausgesprochen hatte. Erst in jenem Moment fiel es ihm wieder ins Gedächtnis. George hatte etwas gesehen, oder hatte er es sich lediglich eingebildet?
"Das dunkelste Geheimnis überlebt am längsten...", murmelte Brian. Er stieß sich von der Kücheninsel ab und holte eine frische Wasserflasche aus dem Kühlschrank. "Das stand auf dem ersten Zettel."
Charles nickte. "Bedeutet, dass wir alle aus einem Grund hier sind", meinte er nüchtern. Er trank einen kräftigen Schluck aus seinem Glas, während Brian seine Wasserflasche halb leerte.
"Jemand will uns tot sehen...", kam es keuchend von Katy. Sie stand im Durchgang zur Küche und stützte sich an der Wand ab.
Brian ließ seine Flasche langsam sinken. Ohne Vorwarnung rannte er zum Kamin und zog mehrere Male an der Kordel.
Charles legte seufzend seinen Kopf in den Nacken. Die Welt schien sich um ihn herum zu drehen. "Damit wirst du keinen Erfolg haben", meinte er. "Dieser Greis versteckt sich mit Sicherheit irgendwo und lacht sich in sein Fäustchen."
"Dann müssen wir herausfinden, wo er sich versteckt", entgegnete Brian. Er trank das restliche Wasser aus seiner Flasche und bat Katy, die sich gerade ebenfalls Wasser holte: "Wirf mir eine Flasche zu."
Die Schauspielerin sah kurz irritiert über die Schulter zu ihm. Dabei wirkte sie wie in einem Delirium. Ihre Pupillen waren geweitet und ihr Atem ging unregelmäßig. Die Worte des Musikers kamen schließlich in ihrem Hirn an. Sie nahm zwei Flaschen aus dem Kühlschrank und reichte eine davon Brian. Charles zog die alkoholischen Getränke weiterhin vor. Selbst beim Frühstück hatte er seinen Kaffee nur teilweise angerührt.
"Dann sollten wir dieses Haus auf den Kopf stellen", warf er ein. "Mit Sicherheit gibt es eine Dienstbotentreppe und wenn die versteckt ist, liegt es nahe, dass es noch andere verborgene Durchgänge gibt."
"Was war das?", rief Brian und drehte sich ein wenig zu schnell nach links, weswegen er sich am Küchentresen abstützen musste.
Katy und Charles drehten ihre Köpfe, konnten allerdings nichts erkennen, das nennenswert gewesen wäre.
"Was war was?", fragte Charles.
Brian wirkte, als hätte er gerade einen Geist gesehen - eventuell hatte er das tatsächlich. Seine Pupillen geweitet, sein Durst unstillbar.
"Leute?" Katy stieß sich vorsichtig von dem Kühlschrank ab und torkelte zur Kücheninsel, an der sie zu Boden rutschte und sich anlehnte. "Ich glaube, man hat uns vergiftet."
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