KAPITEL 4

Mehrere Stunden waren bereits vergangen und allmählich spürte Yuna einen Drang, sich die Füße zu vertreten. Gerne hätte sie gewusst, wie es in ihrer Umgebung aussah, doch das einzige, was man erkennen konnte, waren die immer wieder im dichten Nebel aufblitzenden Sonnenstrahlen.

Leise gähnte Yuna, lehnte sich in der Karre zurück und schloss die Augen. Etwas zu schlafen würde ihr sicher guttun, schließlich war sie in der letzten Nacht nicht sonderlich viel dazu gekommen.

Aber ehe sie völlig vom Schlaf übermannt wurde, hielt die Karre mit einem unsanften Ruck an. 

Vorsichtig stieg sie aus und schulterte ihren neuen, türkisfarbenen Rucksack. Ratlos sah sie sich auf dem Platz um. Überall liefen Personen herum, die aussahen wie ganz normale Menschen. Sie redeten, lachten und schienen ganz genau zu wissen, in welche Karre sie umsteigen mussten. 

Yuna trat von einem Fuß auf den anderen. Hatte Professor Fortis nicht etwas von einer "freundlichen jungen Frau" erzählt, die sie abholen würde? Leise fluchte sie. 

Wie sollte sie die jetzt nur finden?

Yuna überlegte, ob sie eine Münze werfen und auf gut Glück in die nächstbeste Karre einsteigen sollte, doch gerade, als ihr einfiel, dass sie gar keine Münze besaß, kam eine junge Frau mit hüftlangen blonden Haaren auf sie zu.

"Hallo, Yuna", sagte sie mit einem strahlenden Lächeln. "Mein Name ist Aline Fiducia und ich trainiere am Laborus, dem Camp der Custos. Ich werde dir gleich alles erklären, aber wie wäre es, wenn wir dafür schon einmal in unsere Karre einsteigen würden?"

Schon wieder schenkte sie Yuna das breiteste Lächeln, das sie je gesehen hatte. Stumm nickte diese und folgte Miss Fiducia, die zielstrebig auf einen Gleis zusteuerte.

Als die beiden kurz darauf losfuhren, redete sie weiter auf Yuna ein, die noch kein Wort in ihrer Anwesenheit gesprochen hatte. Endlich brachte sie zwei Sätze heraus: "Entschuldigung, aber was sind Custos? Und was ist das Laborus?"

"Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich weiß, wie verwirrend das alles für dich sein wird - und nicht nur für dich. Ich kann mich wirklich nicht mehr daran erinnern, wann das letzte mal jemand aus dem Camp magus nach Nebula kam." 

Yuna brummte. Das letzte, was sie wollte, war, in irgendeiner Hinsicht aufzufallen. Miss Fiducia schien nichts bemerkt zu haben und sprach unbekümmert weiter.

"Custos bedeutet Hüter. Demzufolge hüten Custos die magische Welt und beschützen sie vor Angriffen. Trainiert werden sie am Camp Laborus und lernen dort kämpfen, aber auch viele andere Dinge, die wichtig für sie sind. Welche genau, wirst du sicherlich bald erfahren."

Yuna runzelte die Stirn. "Wieso?" 

Ihr waren irgendwelche Beschützer der magischen Welt ziemlich egal. All das war ohnehin schon verwirrend genug, da brauchte sie nicht noch mehr Informationen.

Miss Fiducia lächelte erneut so breit, dass ein Breitmaulfrosch vor Neid erblassen würde. "Weil Professor Dimitus und ich uns absolut einig sind, dass du als Custos ausgebildet werden sollst."

"Ich?"

Mit großen Augen starrte Yuna sie an. Nicht zum ersten Mal an diesem Tag hatte sie das Gefühl, sich verhört zu haben.

"Ganz genau, du. Professor Fortis meinte, du wärst perfekt dafür geeignet." 

"Aber..." 

"Kein aber!", unterbrach Miss Fiducia sie. "Du wirst schon sehen." 

Yuna seufzte.

Erst erfuhr sie, dass sie eine Magierin war und am selben Tag auch noch, dass sie zu einer gewissen Custos ausgebildet werden sollte. Ist das hier nur ein Traum, oder passiert das wirklich?, fragte sie sich. 

Was sie dann allerdings laut sagte, war: "Könnten Sie mir vielleicht noch einmal erklären, was Magier eigentlich können? Professor Fortis hatte kurz etwas erwähnt, aber auch nicht Genaues."

"Das klingt sehr nach ihm. Er erklärt wirklich nur das Nötigste, wenn überhaupt. Also: Magier können außergewöhnliche Dinge mit ihrem Geist bewirken. Sie alle haben unterschiedliche Ausprägungen davon. Manche können die Anwesenheit anderer in vollkommener Dunkelheit spüren, andere Gefühle, manche sogar Gedanken. Und andere wieder können Gegenstände schweben lassen. Es gibt wahrscheinlich Millionen von Talenten." 

"Oh... okay!", murmelte Yuna verwirrt. 

"Die Menschen unterschätzen die Kraft ihres Geistes, was zweifelsohne ein fataler Feh... Oh! Wir sind da!", rief Miss Fiducia.

Vor den beiden erhob sich eine beeindruckende Stadt. Aus Glas gebaute Hochhäuser, deren Spitzen in dem dichten Nebel verschwanden, ragten in den Himmel. 

"Wow", flüsterte Yuna, "das ist unglaublich!" 

Miss Fiducia setzte wieder ihr Breitmaulfrosch - Lächeln auf. "Ja, da hast du Recht. Mich beeindruckt es auch jedes Mal aufs Neue."

Ohne weitere Erklärungen lief sie los und Yuna folgte ihr. "Wo gehen wir hin?", fragte sie nach einer Weile. 

"Zu Professor Dimitus, dem Leiter des Camp Laborus. Wir müssen dich nur kurz anmelden, denn es passiert nicht oft, dass jemand vom Camp magus in die magische Welt kommt. Die meisten werden hier geboren und leben schon ihr ganzes Leben dort."

Nur wenige Minuten später befanden sie sich vor einem der riesigen Glashochhäuser und klingelten. Wenigstens eine normale Sache hier, dachte Yuna erleichtert. 

Ein alter Herr mit einem warmen Lächeln öffnete ihnen die Tür. "Tretet herein", meinte er. Yuna und Miss Fiducia folgten ihm eine lange Wendeltreppe hinauf "Ich bin Professor Dimitus, wie du sicher bereits weißt", wandte er sich an Yuna, als sie sich kurz darauf an einem runden Tisch gegenübersaßen.

Sie nickte. "Ich glaube, Miss Fiducia hat es dir schon gesagt. Du wirst im Camp Laborus zu einer Custos ausgebildet werden und fortan die magische Welt beschützen." 

"Entschuldigung", unterbrach Yuna ihn, "aber wie soll das gehen? Kann ich meine Fähigkeiten vielleicht testen?"

"Natürlich. Du musst mir nur gut zuhören,  tun, was ich dir sage - und zuerst einmal deine Augen schließen."

Sie tat wie ihr geheißen, woraufhin Professor Dimitus ihr die nächste Anweisung gab.

"Magier können Gefühle spüren oder sogar Gedanken eines Menschen lesen. Manche merken es auch sofort, wenn ein anderer Magier den Raum betritt, selbst wenn es so dunkel ist, dass sie nicht einmal ihre eigene Hand vor Augen sehen können. Versuche, in meine Gedanken einzudringen - und keine Sorge, du kannst nichts falsch machen."

Doch offenbar konnte sie das sehr wohl.

Denn kaum nachdem sie das Gefühl hatte, einen Weg in den Geist von Professor Dimitus gefunden zu haben, wurde auf einmal alles schwarz.

"Yuna!" 

Ein spitzer Schrei brachte sie schlagartig zurück in die Realität. Er war von Miss Fiducia gekommen. 

"Was ist denn...?", fragte sie, doch dann konnte Yuna es selbst sehen. Ihr blieb der Atem weg und sie musste sich an der Tischkante festhalten, um ihr Gleichgewicht zu bewahren.

Professor Dimitus war von seinem Stuhl gekippt und lag nun reglos auf dem Boden seines Büros. Sie wollte etwas sagen, doch es war ihr unmöglich, den Mund zu öffnen. 

"Er atmet", beruhigte Miss Fiducia sie, "du hast ihn nur ohnmächtig gemacht. In wenigen Stunden wird er wieder ganz der Alte sein." 

"In wenigen... Stunden?! Oh Gott, was habe ich getan?" 

Um Miss Fiducias Mundwinkel zuckte es. 

"Was ist daran so lustig?", blaffte Yuna. 

"Nun ja. Bisher haben es nicht viele geschafft, gleich bei der ersten Begegnung den Campleiter des Laborus auszuknocken."

Glücklicherweise traf Miss Fiducias Vermutung zu. Bereits drei Stunden später war Professor Dimitus wieder bei Bewusstsein und besuchte Yuna in ihrem Zimmer, welches sie kurzfristig im 19. Stockwerk des Glashochhauses bewohnte. 

"Ich kann doch kurz mit dir reden? Oder werde ich dann gleich wieder vom Hocker gehauen - im wahrsten Sinne des Wortes?" Es war als Scherz gemeint, doch Yunas Wangen färbten sich hellrot. 

"Oh, ich..." 

"Ich weiß, dass es dir leidtut Yuna und ich weiß auch, dass es keine Absicht war."

Professor Dimitus lächelte sie aufmunternd an, wurde dann aber ernst. 

"Professor Fortis hat recht gehabt. Ich habe noch nie so einen starken Geist gesehen, noch nicht einmal in meinen Träumen. Ich weiß nicht, was deine Zukunft bringen wird, doch eines weiß ich: Du bist etwas besonderes, Yuna."

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