KAPITEL 3
Mitten in der Nacht rüttelte jemand Yuna an der Schultern. Erschrocken fuhr diese hoch und sah sich keuchend in der Hütte um. Tausend wirre Gedanken ohne jeglichen Zusammenhang schwirrten durch ihren Kopf.
Was ist los?
Wer ist das?
Werden wir angegriffen?
Ihre Finger krallten sich in den verschwitzten Stoff ihres dünnen Schlafanzuges und lockerten ihren Griff erst wieder, als sie erkannte, wer sie um diese Uhrzeit aus dem Schlaf gerissen hatte.
"Zieh dich sofort an und weck Meli dabei nicht auf. In wenigen Minuten brechen wir auf."
Yuna konnte nicht anders, als die Augen zu verdrehen. Sie wusste nicht, was an dieser Situation sie mehr störte: Dass sie mitten in der Nacht von Professor Fortis geweckt wurde, oder, dass er ihr nicht mit einem Wort erklärte, was er vorhatte.
"Ich warte vor der Hütte."
Der Campleiter ließ die alte, klapprige Tür hinter sich zufallen, damit Yuna sich umziehen konnte. Diese beeilte sich, denn auch, wenn sie noch müde war, wollte sie wissen, was der Professor plante. Er war unfassbar schwer zu durchschauen und ließ niemanden hinter seine Fassade blicken.
Wahrscheinlich war es nichts besonderes. Ihr Leben war viel zu langweilig für irgendwelche spannenden Geheimnisse.
Sie zwang sich dazu, ihre Gedanken zu unterbrechen, sich in eine Jacke zu hüllen und auf den dunklen Platz des Camp magus zu begeben, wo Professor Fortis schon auf sie wartete
"Komm bitte mit, Yuna."
Ohne lange stehen zu bleiben, steuerte er geradewegs auf das Meer zu. "Wo wollen Sie hin?", keuchte sie, während sie sich alle Mühe gab, Schritt zu halten.
"Das wirst du noch früh genug sehen", gab der Professor zurück.
Sie unterdrückte ein genervtes Stöhnen. Wieso musste er bloß immer in solchen Rätseln sprechen?
Im schwachen Licht der geheimnisvollen Laternen liefen die beiden auf die Klippen, wo der Campleiter so abrupt stehen blieb, dass Yuna fast in ihn hereingerannt wäre.
Kurz darauf kramte er einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und steckte diesen in ein kleines, unter Staub verborgenes, Schloss am Boden, welches jeder, der davon nichts wusste, einfach übersehen hätte.
Eine Falltür im Boden öffnete sich und Yuna stieß eine erschrockenes Quietschen aus, da ihre Füße das Loch um nur wenige Millimeter verfehlt hatten. Der Professor beachtete dies nicht weiter und deutete nur auf die Leiter, die in die Erde führte.
"Du kletterst zuerst", befahl der Campleiter.
Ein flaues Gefühl machte sich in Yunas Magen breit. Die Leiter wirkte instabil und morsch, außerdem wurde sie nach wenigen Metern vollständig von der Dunkelheit verschluckt. Dazu drang ein muffiger Geruch aus dem Loch und weckte in ihrem Geist Bilder von einem stockfinsteren Keller voller Spinnenweben und toter Mäuse.
Doch Professor Fortis sah sie weiterhin herausfordernd an, also biss Yuna die Zähne zusammen und setzte vorsichtig einen Fuß auf die erste Sprosse. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als diese unter ihrem Gewicht nachgab, sie jedoch hielt.
Also schob sie sich Schritt für Schritt weiter in die scheinbar niemals endende Dunkelheit hinein.
Es könnte sich um Stunden handeln, vielleicht auch um Sekunden oder ein ganzes Jahrhundert. Yuna hatte, während sie die Holzleiter herunterstieg, jegliches Zeitgefühl verloren. Als sie endlich wieder festen Boden unter ihren Füßen spürte, löste sich mit einem Schlag die Anspannung von ihrem Körper und sie sah sich an dem Ort um, an dem sie gelandet war.
"Wo, um alles in der Welt, sind wir hier?" Yuna sah Professor Fortis fragend an.
"Nun... ich denke, du hast noch nie etwas vom Saal der Prophezeiungen gehört?"
"Saal der Prophezeiungen? Im Ernst? Sind wir hier in einem Fantasy - Roman?"
Yuna sah sich in dem hell beleuchteten, rundem Raum mit keinerlei Möbeln oder Fenstern um, der tatsächlich etwas magisch wirkte.
"Sieh dir doch einmal die Statuen an."
Sie ließ ihren Blick über die vier kunstvoll erbauten Skulpturen schweifen. Yuna konnte sich dunkel daran erinnern, jene einmal in einem Buch gesehen zu haben. Doch da sprach Professor Fortis auch schon weiter.
"Sie beinhalten Prophezeiungen. Prophezeiungen der magischen Welt."
"Wie bitte?!"
"Ich sagte es bereits, Yuna: Prophezeiungen der magischen Welt."
"Was zur Hölle meinen Sie mit der magischen Welt?"
Der Professor seufzte. "Ich würde sagen, damit wären wir beim Grund angekommen, wegen dem ich dich heute hierher mitgenommen hatte. Komm mit."
Er führte sie quer durch den riesigen Saal zu einem kleinen Tisch mit den zwei Stühlen, setzte sich und bedeutete ihr, dasselbe zu tun.
"Was haben Sie mit mir vor? Warum führen Sie mich ohne jegliche Erklärungen in einen gewissen Saal der Prophezeiungen? Und was reden sie plötzlich von einer gewissen magischen Welt?"
"Schon gut, schon gut", meinte Professor Fortis.
Yuna zog abwartend eine Augenbraue nach oben. Langsam ging ihr der Campleiter gehörig auf die Nerven. Warum nur konnte er nicht klar sagen, was Sache war?
"Du hast bestimmt schon gemerkt, das viele im Camp magus mit der Zeit verschwunden sind. Das hatte natürlich einen Grund." Er holte tief Luft und fügte dann hinzu: "Sie waren zu diesem Zeitpunkt bereit. Bereit für die magische Welt."
Ungläubig sah Yuna ihn an. "Das heißt, Sie haben immer noch nicht bemerkt, dass Sie hier wie ein Irrer von einer gewissen magischen Welt schwafeln?"
Allmählich schien auch der Campleiter genervt. "Nein, Yuna, ich bin definitiv nicht "irre"."
Wider Willen musste Yuna über seinen Tonfall lachen.
"Denn es gibt sie wirklich!"
Die Stimme des Professors hallte von den Wänden des Saals wider, doch kaum war das Echo verklungen, wurde es totenstill. Yuna sah betreten auf den Boden, während sie versuchte, das soeben gehörte zu verarbeiten.
Doch sie musste sich verhört haben. Bestimmt würde Professor Fortis ihr das gleich versichern und sie zurück in ihre Hütte schicken. Zurück zu Meli, zurück zu ihrem alten Leben. Aber er machte keine Anstalten, etwas dergleichen zu tun.
"Du hast schon richtig gehört. Und ich weiß, wie verwirrend das gerade für dich sein muss, aber sei doch mal ehrlich: Hast du nicht manchmal geglaubt, dass es so etwas wie Magie gibt?"
Die Stimme des Campleiter hatte wieder ihren normalen Tonfall angenommen.
Yuna nickte stumm. Denn ihr ganzes Leben schon hatte sie geglaubt, dass es mehr auf dieser Welt gab, als sie begreifen konnte, auch wenn es ihr nie gelungen war, dieses Gefühl einzuordnen. Das Ganze war viel zu überwältigend für sie. War es wirklich möglich, dass es eine ganze magische Welt gab?
"Tja, da hast du Recht gehabt. Viele Meilen von uns entfernt gibt es eine Stadt namens Nebula, wo Menschen mit magischen Fähigkeiten leben. Diese sind in der Lage, außergewöhnliche Dinge mit ihrem Geist zu bewirken. Sie spüren die Anwesenheit anderer und je nach Talentausprägung auch deren Gefühle. Manche besonders starken Magier können sie sogar beeinflussen."
Yuna wusste nicht, was sie denken und fühlen sollte.
Doch dann erinnerte sie sich an mehrere Situationen, in denen sie andere Bewohner des Camp magus gespürt hatte, obwohl sie sie nicht sehen konnte.
"Spätestens nach der Sache mit dem Mann war mir klar: Du bist jetzt absolut bereit für die magische Welt", schloss Professor Fortis und unterbrach somit ihre Gedanken.
Langsam konnte Yuna alles begreifen. Und... aus irgendeinem Grund überraschte es sie gar nicht so sehr, wie es der Campleiter offensichtlich erwartet hatte.
"Was wird jetzt mit mir geschehen?", fragte sie schließlich.
"Du machst sich auf den Weg nach Nebula. Und zwar", er schob ein Hebel in der Wand nach links, "so."
Eine Sekunde lang passierte gar nichts, doch dann bewegten sich die Wände nach außen, rückten von den beiden ab und gaben einen beeindruckenden Blick frei. Vor ihnen lagen unzählige Gleise, fast wie bei einem Bahnhof - nur, dass sie viel enger zusammenlagen und auf ihnen wie von Zauberhand angetriebene, schubkarrenähnliche Kisten auf- und abfuhren.
Über dem Ganzen schwebte ein so dichter Nebel, dass man auch nichts sehen würde, wenn es hell gewesen wäre. Die kühle Luft strich über Yunas Arme und sorgte für eine Gänsehaut.
"Nebula bedeutet Nebel und ohne den wäre unsere Gesellschaft längst zusammengebrochen. Denn der Nebel verbirgt die unwichtigen Dinge. Die Dinge allerdings, die wirklich von Bedeutung sind, kann derjenige, der richtig hinschaut trotzdem sehen."
Yuna konnte Professor Fortis nur neben sich erahnen, denn die Dunkelheit und der Nebel machten fast alles unsichtbar.
"Bevor du losfährst, habe ich noch etwas für dich."
Er räusperte sich und zog einen türkisfarbenen Rucksack hervor, welcher jedoch keineswegs leer war. Im Vorderfach steckten einige Tüten. "In diesen Tüten befindet sich ein ganz besonderer Nebel. Wenn du mal schnell von einem Ort verschwinden musst, schütte einfach eine vor dir aus, warte kurz, bis er in der Luft schwebt, rufe dann laut, wohin du möchtest und spring in den Nebel."
"Oh... okay", meinte Yuna und kam sich etwas blöd dabei vor.
Doch da fuhr er auch schon fort: "Nach einigen Stunden Fahrt wirst du an einen runden Platz gelangen. An diesem wird dich eine freundliche junge Frau abholen und mit dir das letzte Stück nach Nebula zurücklegen. Bis dahin kannst du einfach in deiner Karre sitzen bleiben. Und übrigens, in dem Rucksack findest du auch etwas zu essen."
Erneut nickte Yuna, wobei sie sich wieder etwas dumm vorkam. Das Ganze ging ihr viel zu schnell voran und sie konnte sich noch gar nicht vorstellen, in irgendeiner Karre irgendwo hinzufahren - schon gar nicht in eine magische Welt! Nie hatte sie das Camp magus verlassen, sie kannte keinen anderen Ort dieser Welt. Kurz wollte sie einfach nur wieder in ihre Hütte, zu Meli... Meli!
Yuna musste schlucken. Sie spürte ein Stechen in der Brust. Ob sie Meli wohl je wiedersehen würde?
Doch kurz darauf ertönte ein lautes Hupen. "Das ist das Signal! Deine Karre ist abfahrbereit." Zögernd machte sich Yuna auf den Weg zum Gefährt, welches den Ton von sich gegeben hatte und ließ sich in die schubkarrenähnliche Kiste gleiten.
"Na dann, Yuna. Ich bin mir sicher, dass wir uns bald wiedersehen werden. Eventuell sogar eher, als wir jetzt denken."
Und damit setzte sich die Karre in Bewegung. Yuna rief dem Professor eine schnelle Verabschiedung zu, bevor sie um die Ecke bog. Dann lehnte sie sich zurück und sah in den dichten Nebel, in dem schon ein einzelner Sonnenstrahl funkelte.
Yuna war auf dem Weg.
Auf dem Weg zu einem neuen Leben.
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