KAPITEL 19

"Ich kann das nicht." Yunas Blick wanderte den riesigen Baum hinauf. "Ich kann das einfach nicht." "Doch, du kannst, Yuna." Flynns Stimme beruhigte sie, wenn auch nur ein wenig. Er trat einen Schritt näher und sah sie hoffnungsvoll an. "Ich glaube an dich. Immer."

"Bringt mir leider nichts, wenn ich tot bin", brummte Yuna und ließ ihren Blick über die Landschaft schweifen.  Eine gigantische Mauer baute sich vor ihr aus und warf bedrohliche Schatten auf den Waldboden.

Die Sonne war noch nicht aufgegangen und es wurde erst langsam hell. Schließlich gelangte ihr Blick wieder zu dem Baum mit den unzähligen Ästen und dem dichten, hellgrünen Blätterdach.

"Mal ehrlich, da hochzuklettern ist glatter Selbstmord", meinte sie. "Mag sein, aber es ist die einzige Möglichkeit, die wir haben", mischte Haily sich ein. "Siehst du diese Brücken dort oben?" Yuna nickte stumm. "Wir müssen nur ein kleines Stück darüber laufen und dann beim nächsten Baum wieder herunterklettern. Eine andere Möglichkeit, die Mauer zu überwinden, haben wir nicht."

"Ich weiß, aber..." Yuna unterbrach sich selbst und schaute in die Runde. Sechs Augenpaare sahen sie an. Ihre Gesichter waren hoffnungsvoll. Yuna wusste, was sie insgeheim alle dachten. Dies war der Moment, in dem sie sich selbst überwinden musste.

Ihre Höhenangst durfte ihr nicht im Weg stehen.

Linh, Cosmo, Yunus, Flynn und Haily. Sie alle waren gemeinsam mit ihr aufgebrochen, um Izzy zu retten, kurz nachdem Linh sich erholt und Professor Gravis ihnen die Karte ausgehändigt hatte. Sie wollte sie nicht enttäuschen. Sie durfte nicht. Sie konnte nicht.

"Ich mache es." Yuna kniff für einen Moment die Augen zusammen, öffnete sie dann aber wieder, um die Reaktion ihrer Freunde zu sehen. Sie wirkten nicht überrascht, als hätten sie von Anfang an gewusst, dass sie es tun würde. Für Izzy.

"Rein theoretisch wäre es doch besser gewesen, du hättest dich geweigert. Du bist nicht die einzige, die Höhenangst hat." Nicht nur Yunus hatte Probleme, den gewaltigen Baum zu erklimmen. Die Zweige waren gebogen und noch feucht vom Tau, sodass man ständig von ihnen abrutschte.

"Warum genau mussten wir eigentlich so früh morgens, wenn jeder normale Magier noch schläft, aufbrechen?", keuchte Linh, nachdem sie schon wieder beinahe von dem Ast gefallen war, auf dem sie gerade stand. Niemand antwortete ihr.

Allmählich gewöhnte Yuna sich an das Klettern und an die Höhe. Sie spürte dasselbe Gefühl, welches sie auch während des Brands im Archiv gehabt hatte. Es war, als wäre sie nicht mehr ganz bei Bewusstsein und ihr Geist würde instinktiv perfekt handeln. Woher auch immer das kam - Yuna war dankbar dafür. Sie blieb in diesem tranceartigen Zustand, kletterte und kletterte, verlor langsam jegliches Zeitgefühl, doch dann passierte es. 

Ihr Blick glitt nach unten, um nach ihren Freunden zu sehen, aber die Welt verschwamm in der selben Sekunde vor ihren Augen. Sie schwankte. Der Wind fegte um ihren Körper und sie klammerte sich krampfhaft an einem Ast fest.

Flynn reagierte schnell und legte ihr einen Arm um die Taille, bis das Zittern nachließ. Und so kletterte die Gruppe weiter. Stück für Stück. Immer höher und höher.

"Wir haben es geschafft!" Der Satz brach wie eine Welle der Erleichterung über Yuna herein. "Wir haben es tatsächlich geschafft!" Sie war zu benommen, um zu merken, wer ihn ausgesprochen hatte. Es war auch gleichgültig. Niemals hätte sie geglaubt, dass sie es schaffen würde, einen über 50 Meter hohen Baum emporzuklettern.

Der Ort, an dem sie gelandet waren, war unglaublich. Vor ihnen breitete sich eine ganze Welt von Brücken aus, die von Baumgipfel zu Baumgipfel gespannt wurden und sich kilometerweit entlangstreckten. Die dichten, hellgrünen Blätter versperrten den blick auf den Boden und der ebenso dichte Nebel, der tief auf dem riesigen Laubwald lag, tat sein übriges. Auch wenn es inzwischen hell geworden war, hatte die Sonne keine Chance.

Ein kühler Wind streifte Yunas Haut, doch das störte sie nicht. Ihre Aufmerksamkeit war voll und ganz auf diesen magischen, wunderschönen Ort gerichtet. Er war so weit von allem entfernt, was sie kannte. Es fühlte sich schwerelos an, auf der hölzernen Brücke zu stehen, die unter ihrem Gewicht leicht nachgab und den leichten Wind zu spüren, der um ihren Körper strich. Eine Welt jenseits des Erdbodens.

"So schön das hier auch ist", riss Yuna eine Stimme aus ihrer Trance. "Wir sollten uns auf den weg machen. Izzy wartet auf uns." Cosmo setzte sich in Bewegung und lief vorsichtig über die aneinandergebundenen Bretter. Haily nickte. "Cosmo hat recht. Los geht's."

Yuna setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Die Brücken machten einen alles andere als stabilen Eindruck und sie hatte definitiv nicht vor, heute noch aus 50 Metern Höhe zu fallen. "Irgendwie kommt es mir seltsam vor, dass alles so glatt läuft."

Linh sprach exakt Yunas Gedanken aus. "Wieso verfolgt uns niemand? Nur weil Professor Gravis uns das letzte Mal vor den Gestalten gerettet hat, werden sie wahrscheinlich nicht aufgehört haben, nach Yuna zu suchen - warum auch immer sie das tun."

Yuna unterdrückte das flaue Gefühl in ihrem Magen. Sie wurde ganz offensichtlich verfolgt. Und das hätte sie eigentlich schon längst in Gefahr bringen sollen. Ein paar Minuten lang sagte niemand ein Wort, da sie alle in ihren Gedanken versunken waren. Es war die Stille, die Yuna beunruhigte. Irgendwie kam es ihr so vor, als würde etwas hier ganz und gar nicht stimmen.

"Ich weiß, das hört sich rein theoretisch sehr seltsam an - aber wirklich gefährlich fühlt sich für mich nur an, das bisher nichts gefährliches passiert ist." "Na dann wird es ja höchste Zeit, dass du dich nicht mehr so fühlst." Yuna kannte die zischende Stimme viel zu gut. Entsetzt wollte sie sich umdrehen, doch es war zu spät. Sie spürte einen harten Stoß im Rücken. Nur noch verschwommen nahm sie wahr, wie ihr Körper die Blätterdecke durchbrach.

Sie fiel.

Wenige Sekunden hörte Yuna noch das Schreien ihrer Freunde, doch dann nichts mehr außer des Rauschens in ihren Ohren. Sie öffnete den Mund, doch ihr gelang es nicht, auch nur einen Ton hervorzubringen.

Irgendwie war sie sich der Tatsache bewusst, dass sie gleich sterben würde - so einen Aufprall konnte man nicht überleben -, aber ihr Geist blendete dies einfach aus. Ihr Fall wurde langsamer und langsamer... bis er schließlich völlig stoppte.

Verwundert blickte Yuna an sich hinab. Denn auch, wenn es absolut unmöglich war - sie schwebte.

Die Höhe, den Wind, den Wald - all das nahm sie nicht mehr wahr. Benommen ließ sie ihren Blick über die Landschaft schweifen. War es wirklich möglich, dass ihr Geist den freien Fall gestoppt hatte? 

Ein Wind fegte um ihren Körper und sie spürte die Kraft, die es sie kostete, sich weiterhin in der Luft zu halten. Irgendwie musste sie wieder nach oben kommen können...

Sie konzentrierte sich auf die Farbpunkte ihrer Freunde. Alles andere spielte keine Rolle mehr. Das einzige, was jetzt zählte, war, dass sie die vielen Brücken wieder erreichte. Als Yuna nach einigen Sekunden jedoch die Augen öffnete, konnte sie kaum glauben, was sie sah.

Langsam, aber sicher, schwebte sie immer weiter. Sie stieß ein ungläubiges Lachen aus. "Ha. Wer hätte gedacht, dass ich eines Tages mal fliegen lernen würde?"

"Dachtet ihr, ihr werdet mich so leicht los?" Entschlossen trat Yuna einen Schritt näher zu den schwarzen Gestalten. Fassungslos starrten ihre Freunde sie an. Einige Dinge waren sie schon von ihr gewohnt, aber damit, dass sie fliegend zu ihnen zurückkehren würde, hatten sie wohl nicht gerechnet.

Yuna musterte die Männer, die sie mittlerweile nur zu gut kannte. Sie standen abwartend auf der brücke. Ihre Schatten warfen bedrohliche, dunkle Flecken vor Yuna und ihre Freunde. Als sie ihren Blick jedoch ein Stück zur Seite wandern ließ, stockte ihr der Atem. Hinter einer der Gestalten schauten einige blonde Locken hervor, was nur eines bedeuten konnte. Sie hatten Izzy.

"Nun. Wollt ihr wieder kämpfen? Wäre ja sehr verständlich, wenn man bedenkt, wie gut es letztes Mal für euch ausgegangen ist. Aber denkt daran: Wir haben eure Freundin bei uns. Eine falsche Bewegung und ihr könnt euch hier und jetzt von ihre verabschieden."

Yuna ignorierte ihren schneller gehenden Puls, kümmerte sich nicht um den kalten Schauer, der ihr den Rücken hinunterlief. "Wir mögen schwach für euch erscheinen. Aber ich glaube, dass ihr eine entscheidende Sache übersehen habt. Wir halten zusammen."

Yuna musste sich nicht umdrehen. Sie wusste, dass ihre Freunde sie in dieser Situation niemals im Stich lassen würden. Dass sie genauso entschlossen waren wie sie selbst. "Dumm nur, dass manchmal die Leute nicht die sind, für die man sie hält", sprach eine der Gestalten und zog sich langsam die Kapuze vom Kopf. Yuna erstarrte, als sie erkannte, wer in Wirklichkeit vor ihr stand.

Professor Libus.

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