KAPITEL 10
Mitten in der Nacht hörte Yuna Schritte vor dem Zelt. Laute, bedrohliche Schritte.
"Was ist das?", flüsterte sie in die Dunkelheit. Linh war offenbar auch von den Geräuschen aufgeweckt worden. "Hör zu", sagte sie leise, aber bestimmt, "wir werden gleich nach draußen gehen und nachsehen, ob alles in Ordnung ist. ich glaube nicht, dass wir angegriffen werden, aber wenn doch, können wir nicht verantworten, uns nicht darum gekümmert zu haben."
"Okay." Yuna nickte. Doch die Schritte wurden lauter. Wirkten so, als würden sie gleich das Zelt öffnen. Und schließlich kamen dunkle, furchteinflößende Männerstimmen hinzu, die so gehässig klangen, dass es Yuna kalt den Rücken hinunter lief. "Auf drei." Linh sah sie mit einem Blick an, der genauso angespannt aussah, wie sie sich fühlte.
"Eins... zwei... und los!" Schnell schoben sich die Mädchen aus dem Zelt und drückten sich flach daran. Yuna spürte den kalten, klammen Stoff an ihrer Haut, doch traute sich nicht, sich zu bewegen. Denn nur wenige Meter weiter standen zwei schwarz verhüllte Gestalten. Noch schienen sie die zwei nicht bemerkt zu haben. Doch sie wussten, dass sich das vermutlich sehr bald ändern wird.
Linhs Lippen formten stumm das Wort "Time Lord". Yuna wusste, dass sie recht hatte. Inzwischen hatten sie fast Professor Dimitus Zelt erreicht. Nur noch wenige Meter, dann waren sie so gut wie in Sicherheit. Linh hatte es schon zur Hälfte betreten. Doch bevor Yuna den entscheidenden Schritt gehen konnte, packte einer der schwarzen Gestalten von hinten und zog sie brutal zu sich heran.
Ihr Herz setzte von dem Schrecken einen Schlag aus. "Wen haben wir denn da?", zischte die Gestalt. Von dem Klang dieser gehässigen, bedrohlichen Stimme bekam sie eine Gänsehaut. Der unbekannte Mann übte so viel Druck auf Yunas Hals aus, dass sie kaum noch Luft bekam. Kaum ein Atemzug war mehr möglich. Ihr Puls raste und langsam verwandelte sich der anfängliche Schrecken in Panik und Verzweiflung.
Und doch... versuchte sie das einzige zu tun, was diese Situation retten konnte. Sie wusste nicht, woher sie die Kraft nahm. Aber sie war da. Yuna versuchte, ihn mithilfe ihres Geistes von sich wegzudrücken. "Deine Tricks kannst du dir hier sparen. Sie helfen dir nicht." So sehr sie es auch hasste, die verhüllte Gestalt hatte recht.
Der Versuch hatte nichts gebracht, außer die Übelkeit noch weiter in ihr aufsteigen zu lassen. "Dich nehmen wir mit." Da war es wieder, das Zischen der abfälligen Stimme. Langsam, aber sicher, verlor sie ihre komplette Hoffnung. Der Mann verstärkte den Druck. Nun war ihr das Atmen völlig unmöglich. Ihre Panik wuchs, die Luft wurde knapp...
Doch plötzlich, als Yuna sich schon auf den sicheren Tod eingestellt hatte, kam eine blitzschnelle Person aus dem Schatten geschossen. Sie trug einen dünnen, langen Stab bei sich. Nach wenigen Schlägen mit ihm hatte sie die Gestalt dazu gebracht, Yuna und ihren Hals loszulassen. Noch drei weitere Schläge - und sie war vertrieben.
Als ihre Retterin jedoch die Kapuze vom Kopf zog und den Blick auf ihr wilden, blonden Locken freigab, konnte Yuna nicht glauben, wen sie sah. "Izzy?", fragte sie verwundert. "Ja, ich bin es." Sie versuchte sich an einem Grinsen, welches allerdings eher einer Grimasse ähnelte. "Gut, dass ich im richtigen Augenblick da war." Yuna nickte, da ihr Mund und Hals zum sprechen noch nicht in der Lage waren.
Zu gerne hätte sie Izzy nach dem Stab, mit dem sie gekämpft hatte, gefragt, aber dazu war im Augenblick keine Zeit. Aus dem Zelt von Professor Dimitus drang ein Schrei. "Was ist los?", rief Yuna, deren Stimme den Betrieb wieder aufgenommen hatte. Kaum hatten Izzy und sie das Zelt betreten, hätte sie am liebsten laut geschrien. Denn auf dem Boden lag ein bewusstloser Professor Dimitus - mit einer blutigen Wunde am Kopf.
Sie konnte nichts sagen. Sich nicht bewegen. Zu sehr war ihr Blick auf das Blut fokussiert. Ihr wurde schwindelig. Sie schwankte. "Ich kümmere mich um ihn. Sagt Miss Diamo Bescheid und kommt dann mit ihr wieder."
Yuna fuhr herum. Sie hatte nicht bemerkt, dass Haily hereingekommen war.
Sie sah einigermaßen gefasst aus, genau wie Linh und Izzy. Sie zwang sich dazu, sich zusammenzureißen. Besser, sie ignorierte das Blut und half, wo geholfen werden musste.
Ja, Yuna hatte sich gewünscht, eines Tages in einer Fluggondel mitzufliegen. Doch wenn es auf so eine Art geschah, hätte sie auch gut darauf verzichten können. Die Wände des Gefährts schienen auf sie zuzukommen und sie hatte nicht die Möglichkeit, sich zu bewegen, da sie und Linh auf eine wirklich komplizierte Weise festgeschnallt worden waren.
Zwischen ihnen lag der immer noch bewusstlose Professor Dimitus. Immerhin hatte Haily ihn mit einem Verband versorgt, sodass Yuna nicht die ganze Zeit das Blut sehen musste. Trotzdem hatte sie das Gefühl, jeden Moment genauso ohnmächtig zu werden wie der Professor. Ihre Platzangst, der Gedanke an das Blut und die riesige Höhe führten dazu, dass Yuna das Gefühl hatte, ihr Schädel würde jeden Moment platzen.
Der Campleiter musste in ein geheimes Krankenlager geflogen werden, dessen genauer Standort nicht verraten werden durfte - aus welchem Grund auch immer. Schließlich würde niemand freiwillig ein Krankenlager besuchen wollen. Yuna schüttelte sich innerlich.
Linh sah, genau wie sie selbst so aus, als würde sie dringend eine Pause benötigen. Doch im Moment gab es keine Aussicht auf etwas Schlaf. Sobald sie zum Camp zurückkehrten, galt es erstmal, jenes abzusichern und die wichtigsten Reparaturen durchzuführen. Selbst der Pilot, ein junger Mann der die Fluggondel steuerte, war nicht glücklich, mitten in der Nacht aufgeweckt geworden zu sein.
Auf einmal machte die Fluggondel einen gewaltigen Ruck. Yuna schreckte auf. Sie schien für ein paar Minuten eingenickt zu sein. "Verdammt!", kam es vom Pilot. "Was ist los?", erkundigte sich Linh. "Ich kann diese blöde Gefährt nicht mehr steuern! Jemand anderes hat anscheinend die Kontrolle übernommen."
Er kniff die Augen zusammen und betätigte hektisch die Knöpfe, einer nach dem anderen, bis es keinen unbenutzten mehr gab, doch es änderte sich nichts. Die Fluggondel schwebte wild hin und her, schwankte und verlor stetig an Höhe. Als sie fast einen Salto machten, musste Yuna sich beherrschen, um sich nicht zu übergeben. Das jedoch ließ sich nicht mit dem vergleichen, was als nächstes geschah. Die Gondel stürzte ab.
Sie befanden sich im freien Fall. Ihr Puls raste wie wild und sie wusste nicht, ob sie diesen Sturz überleben würde. "Was geschieht hier?", brüllte Linh. "Das schaffen wir nicht!", schrie Yuna zurück. Es rauschte in ihren Ohren, der Fall wurde immer schneller, so sehr, dass sie nicht mehr klar sehen konnten. Es war ein einziges Chaos, Stimmen brüllten und flehten darum, der Sturz möge enden. Doch das Letzte, woran sich die beiden Mädchen erinnern konnten, war der harte Aufprall auf den Boden.
"Aufwachen! Bitte Yuna, komm zurück! Bitte!" Die Stimme drang in ihren Geist. Sie wollte tun, worum sie sie bat. Wollte wiederkommen. Aber, egal wie sehr sie sich auch anstrengte, wie viel Kraft sie auch aufbrachte, sie... konnte nicht. "Ruhig, Yuna. Es ist okay. Du schaffst das, aber schlafe weiter. Du bist noch nicht bereit." Es war das Letzte, was sie hörte, bevor sie erneut in der endlosen Bewusstlosigkeit versank.
Die Dunkelheit. Die Schritte. Die gehässigem Stimmen. Und dann... der Druck auf ihren Hals... die Übelkeit... der freie Fall... das Blut... Völlig unzusammenhängende Fetzen erfüllten ihren Geist und verwandelten sich in den furchterregendsten Albtraum, den sie je gehabt hatte. "Yuna!" Da war sie wieder, die Stimme. "Bleib ruhig!"
Irgendwie wurde ihr klar, dass sie sich im Schlaf hin- und hergeworfen haben musste. "Du verletzt dich damit nur selbst!" Jetzt wusste Yuna es. Sie musste aufwachen. Nur so konnte sie der Dunkelheit und den Albträumen entfliehen, die sie umgaben. Sie nahm all ihre Kraft zusammen. Und öffnete endlich die Augen.
Das erste, was sie sah, war Flynn, der sich über sie gebeugt hatte. Das zweite war der besorgte Ausdruck in seinen blauen Augen. Jener hellte sich aber schlagartig auf, als er bemerkte, dass sie aufgewacht war. "Du bist wach! Ich wusste doch, dass du es schaffst!", rief er. Und sie wünschte sich wirklich, sie könnte etwas Intelligenteres von sich geben, doch das einzige, was ihr einfiel, war: "Autsch." Flynn war sofort bei ihr. "Was tut dir weh?" "Mein Kopf", stöhnte sie und fasste sich an die Stirn, woraufhin sie zusammenzuckte. Ihre Hand traf auf einen weichen Verband.
"Was ist passiert?" "Du bist beim Aufprall mit dem Kopf an die Wand geschlagen - und ich glaube, es wäre besser, wenn ich dir nicht sage, wie viel Blut du verloren hast", hörte Yuna eine Stimme weiter hinten in dem engen, weißen Raum, der sehr nahe dran war, ihre Platzangst auszulösen. Es war Haily, die gemeinsam mit Cosmo und Izzy wenige Meter von ihr entfernt stand und sich permanent durch die roten Locken fuhr.
"Du kannst wirklich froh sein, dass dabei nichts schlimmeres passiert ist. Allerdings ist dein Bein gebrochen, weswegen du wahrscheinlich noch einige Zeit in diesem Zimmer verbringen wirst. Zumindest ist Linh bei dir." Und tatsächlich: Im Bett, welches rechts von Yuna stand, lag eine blasse, schlafende, aber eindeutig atmende Linh. Trotzdem: Mehrere Wochen in engen Räumen zu leben stand nicht unbedingt an erster Stelle auf ihrer To-Do-Liste.
Sie versuchte, sich aufzusetzen, ließ es aber sofort sein, als ein stechender Schmerz ihren Körper durchfuhr. "Soll ich dir helfen?", fragte Flynn und half ihr, sich vorsichtig aufzurichten. Als sie es endlich geschafft hatte, zog er sie in eine feste Umarmung. In diesem Moment vergaß Yuna die Ereignisse. Das, was passiert war, ist schrecklich gewesen, aber immerhin war sie nicht allein. Sie hatte einen Freund gefunden. Und das war im Augenblick alles, was wirklich zählte.
Ein Räuspern unterbrach die beiden schließlich. "So ungern ich das hier auch unterbreche - es gäbe da noch einiges, was wir besprechen müssten." Yuna und Flynn fuhren auseinander. Miss Diamo hatte den Raum betreten. "Beispielsweise die Wunde an Yunas Handgelenk." Ihr lief eine Gänsehaut über den Rücken, als sie den roten Streifen, der sich wie ein Armband um ihr linkes Handgelenk zog, bemerkte.
"Ich weiß nicht, wer dir diese Wunde zugefügt hat und auch nicht, ob sie in Form einer Narbe zurückbleiben wird." Miss Diamos Gesicht lag in besorgten Falten, was definitiv kein gutes Gefühl in Yuna auslöste. "Wir konnten sie nicht verarzten, weder Salbe darauf schmieren, noch sie verbinden. Immer, wenn wir etwas in diese Richtung versucht haben, hast du deine Hand weggezogen und dich wie wild hin- und hergeworfen. Und dann hat Flynn eine Ewigkeit damit zugebracht, dich zu beruhigen."
Sie warf ihm einen vielsagenden Blick zu, woraufhin er prompt knallrot anlief. Izzy unterdrückte ein Kichern und Cosmo musste schmunzeln. Doch Yuna war nicht nach lachen zumute. "Was... was bedeutet das?", flüsterte sie, unsicher, ob sie die Lösung wirklich wissen wollte. Aber Miss Diamo antwortete. Die Worte schnürten ihr fast den Atem ab. Denn sie lauteten:
"Die Wunde wurde durch ein Gift erzeugt, welches eigentlich gar nicht mehr existieren sollte."
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