KAPITEL 1

Keuchend schlug Yuna die Augen auf. "Wo bin ich? Wie spät ist es?" Die Laterne... die Frau und der Mann... das Gefühl einer unaufhaltsamen Bedrohung... Es schien zwar nur ein Traum gewesen zu sein, aber der hatte sich verdammt echt angefühlt.

 Zu echt.

 Langsam normalisierte sich Yunas Puls wieder, als sie merkte, dass sie immer noch auf dem harten Boden der muffigen Hütte lag und sich nicht an dem Ort des Grauens befand, den sie soeben besucht hatte.

"Yuna! Bist du verrückt geworden?" 

Eine scharfe Stimme riss sie endgültig aus den viel zu realistischen Bildern ihres Traums. 

"Ja. Also, ich meine natürlich, nein", stotterte Yuna und musste sich überwinden, in das Gesicht ihrer Mitbewohnerin und zugleich besten Freundin Meli zu sehen. 

"Wir hätten vor einer Viertelstunde beim Frühstück sein müssen. Tut mir leid, dass ich so unfreundlich war - aber Professor Fortis wird uns umbringen. Wenn ich mich auf dem unaufhaltsamen Weg Richtung Tod befinde, fällt es mir schwer, noch höflich zu sein."

Wider Willen musste Yuna lachen. Typisch Meli. Sie sprach, als wäre sie einem Buch entsprungen, übertrieb meist maßlos und kommentierte alles, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. 

Genau wie Yuna selbst hatte sie eine Leidenschaft für das Lesen der zahllosen Bücher in der Bibliothek des Camp magus. Sie waren schließlich das einzige woraus man lernen konnte. Außerdem waren Nachmittage an diesem Ort lustige Stunden, in denen das eintönige Leben der beiden in den Hintergrund geriet.

Yuna zwang sich dazu, ihre Gedanken zu unterbrechen, sich aufzurichten und schnell eine Jacke anzuziehen. Sie rümpfte die Nase, als sie die vertraute abgestandene, nach verschimmeltem Holz riechende Luft wahrnahm und beeilte sich, schnell aus der Holzhütte zu kommen, die sie gemeinsam mit Meli bewohnte.

Mit gesenktem Kopf liefen die beiden Mädchen über den kahlen, staubigen Platz, direkt am Meer entlang. Den Weg rechts und links von ihnen säumten Hütten, in denen die anderen Bewohner des Camp magus lebten. Andere Kinder und Jugendliche, die von ihren Eltern ausgesetzt und irgendwann von Professor Fortis eingesammelt wurden.

Der Himmel war wolkenverhangen, die Luft jedoch drückend heiß. Yuna hoffte, dass sie ohne Zwischenfälle zu der Hütte, die zum Essen vorgesehen war, kommen würden. Doch das Schicksal schien es nicht gut mit ihr zu meinen.

"Was macht ihr denn hier?" 

"Ihr kommt wohl zu spät." 

"Professor Fortis bringt euch um!"

Yuna wich zurück und hob langsam den Blick. 

"Verdammt", raunte sie Meli zu, die genauso nervös wirkte, wie sie sich fühlte. 

Drei Jungs, etwa 16 Jahre alt, bauten sich vor den Mädchen aus und verzogen, einer nach dem anderen, schadenfroh den Mund. 

"So schnell kommt ihr hier wohl nicht mehr weg!", grölte einer von ihnen. 

Wenn Yuna es nicht besser gewusst hätte, würde sie meinen, er wäre betrunken. Doch sie kannte Professor Fortis. Und sie könnte Dutzende von Dingen aufzählen, die er eher tun würde, als Alkohol in das Camp magus einzuliefern. 

Aber es war nicht seine Größe, nicht sein Körper und auch nicht seine Stimme, die Yuna immer wieder aufs Neue beunruhigte und manchmal, wenn es besonders schlimm war, sogar Angst einjagte. Es war der erschreckend leere und beinahe wahnsinnige Ausdruck in seinen Augen.

Werde ich auch so aussehen, wenn ich etwas älter bin?, fragte Yuna sich. Klar, noch bin ich erst zwölf. Aber was macht das Camp magus mit einem, sodass man später so... so wie diese Jungs wird?

"Es reicht. Yuna und Meli, ihr kommt sofort mit zum Frühstück. Jungs, ihr auch." 

Der scheinbar jahrhundertealte Professor Fortis mit den wenigen weißen Haaren deutete in Richtung der Hütte zum Essen. 

Dann wandte er sich an Yuna und Meli: "Ihr seid zwanzig Minuten zu spät! Ich kann es wirklich nicht glauben. Wieso haltet ihr euch nicht an die Regeln?"

Der Professor redete noch eine Ewigkeit auf die Mädchen ein und hielt ihnen einen ellenlangen Vortrag darüber, wie wichtig es war, pünktlich zu Mahlzeiten zu kommen, bevor er sie schließlich in die Essenshütte entließ. Doch auch dort war er noch nicht mit seiner Ansprache fertig, er wandte sich bloß an alle.  

"Ich habe euch von den unmöglichsten Orten dieser Welt aufgesammelt, da euch eure Eltern offensichtlich allein gelassen haben. Ihr verdankt mir euer Leben! Ist es zu viel verlangt, dass ich Pünktlichkeit von euch erwarte?" 

"Nein, Professor. Es tut mir leid", murmelte Yuna verlegen. "Kommt nicht wieder vor." 

Mit diesen Worten setzte sie sich neben Meli an die lange Tafel. Gemurmel machte sich in der großen Hütte breit. Wie jeden Morgen versuchten die Bewohner des Camps, das viel zu harte Brot herunterzubekommen. Yuna wollte gar nicht wissen, wie lange es schon im Camp magus herumlag.

"Wenn du das nächste Mal verschläfst, bringe ich uns eigenhändig um", wisperte Meli. "Das geht schneller, als sich noch einen Vortrag von Professor Fortis halten zu lassen." 

"Meinetwegen", brummte Yuna zurück. Ihre Laune war ohnehin auf dem Tiefpunkt, schlimmer konnte dieser Tag wirklich nicht mehr werden. 

"Ob unser Leben für immer so bleibt?", wechselte sie das Thema, um etwas anzusprechen, was sie schon seit einiger Zeit belastete. "Wir stehen morgens auf, frühstücken, langweilen uns den ganzen Tag, weil wir schon jedes Buch in der Bibliothek gelesen haben, essen abends genauso vertrocknetes Brot wie morgens und gehen um exakt 22 Uhr ins Bett. Wird sich irgendwann mal etwas verändern?"

"Denk mal nach", meinte Meli, jedoch nicht weniger nachdenklich als Yuna. "Manchmal verschwindet doch immer ein Jugendlicher über Nacht. Vielleicht ist es ja nur noch eine Frage der Zeit, bis mit uns dasselbe passiert."

"Aber was geschieht dann mit ihnen?" Yuna sah Meli zweifelnd an. 

"Woher soll ich das wissen?", gab diese zurück. "Ich kann dir den Sinn des Lebens nicht erklären, ich kann nur darüber nachdenken. Wieso sollte es hier anders sein? Für mich als Philosophin ist das Leben hier logischerweise besonders hart. Denn wie soll ich diese Welt verstehen, wenn ich nur einen Bruchteil davon überhaupt kenne?"

Yuna musste grinsen. Ihre Mitbewohnerin philosophierte liebend gern über den Sinn des Lebens, ihre eigene Existenz oder der von anderen. Aber sie musste sich auch eingestehen, dass sie recht hatte. Das Camp magus lag auf irgendeiner Insel mitten im Meer, nie hatte sie irgendetwas über die Welt jenseits dieses Ortes erfahren.

Allerding - egal, wie schrecklich sie diese endlose Einsamkeit und den ewig gleichbleibenden Tagesablauf auch fand, sie war unendlich dankbar dafür, Meli bei sich zu haben. Denn diese war nicht nur ihre beste Freundin, sie war auch die einzige Person, der Yuna vertraute.

Sie hatte zwar keine Erinnerungen an die Zeit, bevor Professor Fortis sie eingesammelt hatte, bekam aber doch ein stechendes Gefühl, wenn sie an ihre Eltern dachte. Zwei Menschen, mit denen sie zwar verwandt war, die sie aber trotzdem einfach im Stich gelassen hatte.

Sie schien ihnen nichts bedeutet zu haben, sonst hätten ihre Eltern sie wohl kaum einfach ausgesetzt. Yuna wusste nicht einmal, wer sie überhaupt waren.

Der Tag verlief genau so, wie jeder andere zuvor. Die Zeit zog sich wie Käse, der zu lange in der Sonne gelegen hatte. Als Yuna abends auf der dünnen Matte in ihrer Hütte lag, konnte sie nicht einschlafen. Sie brütete immer noch über dem Gespräch mit Meli, was Tausende von Fragen in ihr aufgeworfen hatte.

Nachdem sie sich zum ungefähr zehnten Mal umgedreht hatte, richtete sie sich seufzend auf und beschloss, einen kleinen Spaziergang über das Gelände des Camps zu machen, was zwar verboten war, sie aber nicht weiter kümmerte.

Im schwachen Licht der wenigen Laternen, die den staubigen Weg zwischen den Hütten erleuchteten, lief sie an dem Meer entlang. Dort ließ sie sich auf dem warmen Sand nieder, atmete die salzige Luft ein und ließ das kühle Wasser über ihre Arme laufen.

Der Standort - es war das einzig Gute am Camp magus. Theoretisch könnte sie jeden Tag schwimmen gehen, würde Professor Fortis es ihnen erlauben. Das Betreten des Wassers war ihnen streng verboten, genau wie nachts die Hütten zu verlassen. Aber was hier war es eigentlich nicht?

Yuna seufzte. Ohne Meli wäre sie sicherlich schon längst wahnsinnig geworden. Trotzdem wünschte sie sich mehr als alles andere, irgendetwas würde sich einmal verändern. Sie war so sehr in ihre Gedanken versunken, dass sie die dunkle Gestalt, de sich offenbar zu ihr geschlichen hatte, erst bemerkte, als es viel zu spät war, um zu entkommen.

"Guten Tag." 

Hektisch sprang Yuna auf, erschrocken von der Männerstimme.

 "Dürfte ich fragen, wer Sie sind und was Sie hier tun?" 

Yuna hätte am liebsten geschrien, doch sie wusste aus vielen unangenehmen Situationen im Camp, dass sie ihnen nur entkommen konnte, wenn sie ruhig blieb.

"Nun, das ist unwichtig", antwortete die Gestalt. "Erzähl mir besser mehr über dich."

Niemals.

Doch noch während Yuna abwägte, ob sie davonlaufen sollte, vernahm sie eine sehr vertraute Stimme.

"Ist alles in Ordnung?"

Yuna atmete auf, als sie sich wie in Zeitlupe umdrehte. Sie hatte sich also nicht getäuscht. Hinter ihr stand tatsächlich Professor Fortis, und sie war noch nie so erleichtert gewesen, ihn zu sehen. Doch dieser wurde blass, als er den unbekannten Mann wahrnahm.

"Du?" Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern in der pechschwarzen Nacht.

Kurz darauf fing er sich jedoch wieder und setzte seinen üblichen Blick auf, der nichts über seine Gedanken und Gefühle verriet. 

"Verlassen Sie auf der Stelle das Gelände dieses Camps! Sie sind nicht befugt, sich hier aufzuhalten, und ich werde nicht zögern, gewisse Personen über ihre Anwesenheit in Kenntnis zu setzen."

"Tun Sie das", gab der Mann von sich. 

Yuna gefiel seine Gelassenheit nicht. Was führte diese Gestalt, dessen Gesicht mit den stechenden, eisblauen Augen, sie in der Dunkelheit nur erahnen konnte, bloß im Schilde? 

"Sie können mir nichts vorwerfen. Habe ich etwas verbotenes getan?"

"Nun, sollte das nichts bringen, bin ich auch in der Lage dazu, Ihnen hoffentlich bekannte Mächte gegen Sie zu verwenden." Professor Fortis war sichtlich angespannt.

"Welche Mächte?" Der Mann schien sich nicht die geringsten Sorgen zu machen.

"Nun... möglicherweise die von Izera?" Einen Moment herrschte Stille. Die Worte lösten einen Tornado in Yunas Magen aus, auch wenn sie nicht genau sagen konnte, wieso.

"Das ist verboten", bemerkte der Mann, jedoch nicht mehr ganz so selbstsicher wie zuvor. 

"Was verboten ist, ist mir herzlich egal, wenn sie mutwillig junge Menschen in Gefahr bringen!" 

"Ich habe niemanden in Gefahr gebracht!", stieß die Gestalt aus.

"Yuna - was hat Prof... also dieser Mann mit dir gemacht?", wendete sich Professor Fortis an Yuna, die den Streit zwischen den Männern mit angehaltenem Atem verfolgt hatte.

"Ich, ähm...", stotterte diese, deren Geist noch mit den Fragen beschäftigt war, woher die beiden sich kannten und wer Izera war. 

"Also, er wollte etwas über mich wissen", brachte sie den Satz zum Ende.

Professor Fortis runzelte die Stirn und machte dann eine klare Geste Richtung Hütte. Yuna wusste, was das bedeutete. Wenn sie jetzt nicht verschwand, würde sie ein Problem mit dem Campleiter bekommen. Also betrat sie leise die Hütte, legte sich auf ihre dünne Matte und versuchte krampfhaft, endlich einzuschlafen - etwas, was ihr allerdings auch in den nächsten Stunden nicht gelang.

Yuna war nämlich etwas Verstörendes aufgefallen. Etwas, für das sie keine Erklärung hatte.

Und doch musste es etwas sein, was sie früher oder später in Gefahr bringen würde. Der unbekannte Mann hatte während des Gesprächs nur einmal gelächelt. Und das war der Moment gewesen, in dem Professor Fortis Yunas Namen erwähnt hatte.

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