Er wanderte über die ausgedörrte Wiese. Der Boden war uneben und das Gehen gestaltete sich weit anstrengender als weiter vorne, wo es einen schmalen Pfad gab.
Graue Wolken zogen bedrohlich über den frühsommerlichen Himmel. Der Wind – vor dem Hintergrund der schwülen Hitze – kündigte in der Ferne ein Gewitter an. Im Gebüsch und den Bäumen raschelte es, wenn eine Böe hindurch fuhr. Die Vögel waren ruhig geworden.
Er war allein. Hierhin verirrte sich heutzutage niemand mehr. Es war sein ganz privater, kleiner Winkel in Mitten einer stürmischen Welt. Fast jeden Tag kam er hierher. Er hatte genug Zeit, die er totschlagen musste.
Er mochte es, wenn die Sonne nicht direkt auf die Erde schient und ihn blendete. Er mochte es, wenn der Wind wehte, weil ihm dann niemand auf seinen Spaziergängen begegnete. Er kam hier her, um allein zu sein, nicht weil er sich aus irgendwelchen sentimentalen Gründen dazu genötigt fühlte. Es war wie ein Spaziergang im Wald. Sowas machten doch auch andere Leute.
Rechtfertigungen waren sein stabilstes Schutzschild und wenn es sein musste, dann log er sich etwas vor. Zum Beispiel, dass er gerne allein war und nicht aus sentimentalen Gründen hier war.
Die Wahrheit war: Er kam hier her, um nicht allein zu sein, obwohl er noch nie jemanden direkt getroffen hatte.
Abseits der jüngeren, höher frequentierten Gräberreihen, gab es eine kleine Kriegsgräberstätte, die so alt war, dass niemand sich mehr an die bekannten und unbekannten Soldaten erinnerte, die hier ihre Gedenksteine hatten. Alte Frauen kamen einmal in der Woche und pflegten die Blumen, die inzwischen wild über das ganze Feld wucherten. Sie wurden dafür bezahlt oder glaubten, damit einen besonderen Platz in ihrem Himmel zu ergattern. Niemand kam mehr hier her, weil er sich tatsächlich um die Gefallenen sorgte.
Auf einigen Gräbern standen Namen und Josh war so oft schon hier gewesen, dass er sie alle kannte und beinahe vertraut mit ihnen kommunizierte. In seiner Phantasie schenkte er ihnen ein neues Leben, eine neue Persönlichkeit und eine Zukunft. So fühlte er sich nicht allein, aber auch nicht beobachtet, wenn er auf seiner Parkbank saß und mit den Augen einen leeren Grabstein nach dem anderen entlang strich.
Leere Grabsteine bedeuteten keine leeren Gräber, das wusste Josh, doch er wagte es nicht, sich bei den anderen, besser gepflegten Gräbern niederzulassen, um Andacht zu halten. Er wollte niemandem begegnen, dessen Handlungen er nicht vorhersagen konnte. Friedhöfe waren für die Toten, nicht für die Lebenden.
Manchmal lugte Josh verstohlen über das struppige Gebüsch und erhaschte einen Blick auf den Grund, warum er sich hier herum trieb. Doch er wagte es nicht, sich zu nähern, denn er wusste, dass er nicht willkommen war.
Manchmal saß er stundenlang unbeweglich auf der morschen Parkbank und starrte ins Nichts, in die Namenlosigkeit und in das Gesicht eines Unbekannten, dem er stümperhaft versuchte eine Persönlichkeit anzudichten. Aber er blieb allein in seinem Winkel.
Heute, an diesem schwülen Frühsommernachmittag versuchte er mit Wilhelm Maurer *02.04.1896 †13.09.1917 zu sprechen, einen der wenigen Grabsteinen, die einen Namen trugen. Er stellte ihn sich groß und drahtig vor, gab ihm ein draufgängerisches Grinsen und eine hübsche Freundin, um die ihn seine Kameraden beneideten.
Er konzentrierte sich so sehr darauf, diesen Typen vor seinem inneren Auge mit Kontur und Farbe zu zeichnen, dass er nicht bemerkte, wie er Gesellschaft bekam. Ein dicklicher Junge mit lockigen, roten Haaren und einer Millionen Sommersprossen setzte sich zu Josh auf die Parkbank.
„Weißt du, dass ihre Mutter jeden Tag herkommt?", fragte Josh den toten Soldaten.
„Redest du mit mir?", fragte der rothaarige Junge und zeigte ein Grinsen, das mehr Zahnlücken als Zähne aufwies.
Josh erschrak: „Nein, nein ich rede mit niemandem."
„Aber du starrst da auf meinen Grabstein, als gäbe es nichts interessanteres in der Welt."
„Gibt es das?", fragte Josh und sah sich den Kerl nun doch genauer an, „Ich dachte, ich bin allein hier. Und dich habe ich mir ganz anders vorgestellt."
„Wie denn?", wollte Wilhelm wissen, doch Josh winkte ab, das tat eigentlich nichts zur Sache, deshalb fuhr der Soldat fort: „Machst du mir das jetzt zum Vorwurf? Ich seh' nun mal so aus, wie ich ausseh' und ich bin hier, weil ich nicht länger mit ansehen kann, wie du hier auf dem Friedhof Wurzeln schlägst. Du musst einen Schritt weiter gehen. Keiner bleibt hier länger als die Trauerfeier dauert."
„Aber wo soll ich denn hingehen?", fragte Josh.
„Keine Ahnung. Wohin du willst, schätze ich."
„Ich weiß nicht, wo ich hin will. Und ich weiß nicht, ob man mich dort haben will.", murmelte Josh und starrte nun auf seine Füße.
„Wieso sitzt du die ganze Zeit hier? Du siehst nicht aus wie ein Soldat.", bemerkte Wilhelm.
„Ich traue mich nicht zu den anderen Gräbern", lautete die Antwort, „Ich habe Angst jemand könnte mich..."
„Was? Verfluchen? Verbannen? Umbringen? Du bist witzig, Junge! Was ist mit dem Mädel da unten. Ständig schielst du zu ihrem Grabstein 'rüber. Dein Jahrgang?", Wilhelm deutete mit dem Daumen über die Büsche.
„Ja", sagte Josh knapp, „Sogar der gleiche Tag, wenn du es genau wissen willst."
„Hast du sie gekannt?"
„Nein", sagte Josh und zögerte, „Nicht mal ihren Namen, bis ich ihn hier gelesen habe."
„Und ihre Mutter kommt also jeden Tag vorbei? Hast du das Mädel denn mal hier getroffen?", fragte Wilhelm.
„Du bist ziemlich neugierig. Ich hatte dich mir ganz anders vorgestellt.", wiederholte Josh und klang nun nicht nur resigniert, sondern auch offen enttäuscht.
Aber Wilhelm ging einfach über diese Bemerkung hinweg und bohrte weiter: „Hast du sie nun schon mal hier gesehen oder nicht?"
„Nein", sagte Josh genervt, „Sie war noch nie hier."
„Sag ich doch. Niemand bleibt hier", Wilhelm grinste triumphierend, „Hier ist es so trostlos. Friedhöfe erinnern mich an das Leben."
„Ja", sagte Josh, „Sie sind so etwas wie die Pforte zwischen..."
„Jetzt sag nicht ‚dem Leben und dem Tod', sonst muss ich dir eine verpassen!", unterbrach ihn Wilhelm, „Friedhöfe sind nichts weiter als Orte, an denen stinkendes Fleisch verrottet. Und jetzt sag schon: Was ist mit dem Mädel?"
„Ich weiß nicht, ob es dich was angeht", sagte Josh verärgert.
„Vorhin hast du deiner Vorstellung von mir alle deine Geheimnisse anvertraut und jetzt willst du nicht, dass dir wirklich jemand zuhört? Du bist ein komischer Typ."
„Na schön", seufzte Josh und rollte mit den Augen, „Also: Ich bin farbenblind."
„Ach ja? Und weiter?"
„Und die Sonne schien", erzählte Josh weiter.
„Wie schön. Hat die Geschichte auch einen Spannungsbogen?", Wilhelm ließ die Beine baumeln und starrte gen Himmel, wie ein Kind dessen Ungeduld sich mit der Dauer einer Strafpredigt maß.
„Ich konnte es nicht sehen. Ich war geblendet und vielleicht auch abgelenkt. Oder was weiß ich", sagte Josh.
„Was konntest du nicht sehen?", fragte Wilhelm, immer noch in die Luft starrend, aber nicht uninteressiert.
„Die verdammte Ampel. Aber du weißt vermutlich gar nicht was das ist, nehme ich an."
„Glaubst du, ich bin dumm? Natürlich weiß ich, was eine Ampel ist.", verteidigte sich Wilhelm und richtete einen vorwurfsvollen Blick auf Josh.
Der entschuldigte sich und fuhr fort: „Na gut. Also die Ampel. Ich konnte wegen des Lichtes nichts sehen. Sie war rot."
„Und du bist drüber gefahren.", bemerkte Wilhelm betont gelangweilt, „Und weiter? Sowas passiert täglich."
„Nein. Du verstehst das nicht. Ich hätte gar nicht fahren dürfen. Ich bin farbenblind!"
Jetzt rollte Wilhelm mit den Augen: „Du kannst es aber nicht ändern. Die Ampel war rot und du bist drübergefahren und ich nehme an, du hast die Kleine mitgenommen."
„Ich bin direkt in sie reingefahren, als ich abgebogen bin", sagte Josh „Und dann ist ein LKW direkt in mich reingefahren."
„Na also. Da hast du deine ausgleichende Gerechtigkeit. Ich sehe dein Problem nicht. Wieso versuchst du nicht, sie kennen zu lernen?", fragte Wilhelm und zwinkerte.
Josh traute seinen Ohren nicht, antwortete dann aber doch auf diesen unmöglichen Einwurf – als wäre es nicht glasklar: „Weil ich sie umgebracht hab! Wieso sollte sie mich kennenlernen wollen?"
„Deine Menschenkenntnis ist mies.", lachte Wilhelm, der wieder Wolken zu zählen schien. Irgendwie kam er Josh wie ein viel zu groß geratenes Kind vor, ein Kind, das ihm fortwährend zu beleidigen suchte: „Kommt davon wenn man immer allein mit verrottetem Fleisch rumhängt. In deiner Vorstellung bin ich wahrscheinlich... ein distinguierter, gutaussehender Weiberheld. So einen Zuhörer hast du dir doch gewünscht, oder? Und ich nehme an, du bist auch nicht mehr farbenbild, was?"
„Das nicht, aber...", Josh lief rot an – ob vor Zorn oder Scham konnte er nicht einmal selbst sagen.
„Deine Moralvorstellungen sind einfach veraltet", sagte Wilhelm weise und lachte dann wieder sein Zahllückenlachen, „Komm mit, es macht mich ganz krank die ganze Zeit auf meinen Grabstein zu starren und für dich ist es auch nicht gesund."
„Was ist mit meiner Mutter? Die kommt auch beinahe jeden Tag, weißt du?", warf Josh ein.
„Hast du in letzter Zeit mal mit ihr gesprochen?", fragte Wilhelm.
„Nein. Sie pflanzt immer nur Blumen", sagte Josh.
„Ja, das tun sie alle."
„Was hast du eigentlich gehen die Pforte zwischen...", begann Josh.
„Dem Leben und dem Tod?", ergänzte Wilhelm und geriet ins Referieren, „Es gibt eben keine Pforte zwischen dem Leben und dem Tod. Wenn ich es mir recht überlege, gibt es gar nichts zwischen dem Leben und dem Tod – wenn wir für ‚Leben' und ‚Tod' die üblichen Definitionen gelten lassen. Du wurdest also von einem LKW zerquetscht, na und? Du musst nicht einem Leben nachhängen, das du so unrühmlich beendet hast. Du solltest wirklich aufstehen, diesen Ort verlassen und dieses Mädel kennen lernen. Das hier ist eine neue Chance, was aus deiner Existenz zu machen, versau es nicht schon wieder!"
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