Entfremdung - Eine Vision

Ich habe vor zwei Wochen die Kündigung eingereicht und es immer noch nicht auf die Reihe gekriegt, den Wecker auszustellen. Jeden Morgen, wenn ich im Bett liege und die Glockenschläge zähle, bis es sechs sind, springt das Radio an und ich verpasse die erste Hälfte der ersten Nachrichtenmeldung, was aber nicht weiter schlimm ist, denn was kann um sechs Uhr morgens schon so wichtig sein, dass man es nicht auch noch um sieben oder acht Uhr erfahren kann?

Und wenn ein Atomkrieg ausgebrochen ist, ist es ohnehin schon zu spät, denke ich. Dann werden sie Sirenen einschalten und mit Autos durch die Straßen fahren und die Leute informieren, dass sie ihre Häuser verlassen müssen. Und dann werde ich mich in einer Sammelunterkunft wiederfinden oder in einem Krankenhaus oder in einem Lager, in das sie die Verstrahlten verfrachten, damit sie dort wie Aussätzige leben.

Ich denke mir diese Dinge aus, bis die Nachrichten bei den Verkehrsmeldungen ankommen und mir wieder einfällt, dass sie für mich irrelevant geworden sind, seit ich morgens nicht mehr aufstehen muss.

Die Uhr an meinem Radiowecker geht eine halbe Minute nach, aber man kann die Sekunden nicht einstellen und so muss ich damit leben. Es ist egal. Ich bleibe ohnehin liegen und schiebe meinen Kopf so weit unter die Decke, dass ich weder die Digitalanzeige der Uhr sehen, noch das Radiogedudel hören muss. So erstarre ich für etwa eine weitere Stunde, in der ich mich darauf konzentriere, wie langsam meine Glieder verkrampfen und aus meinen Poren der Schweiß quillt.

Wie jeden Morgen muss ich mich erst davon überzeugen, dass es nicht möglich ist, den Rest meines Lebens im Bett zu verbringen. Sowas geht nur, wenn man im Koma liegt und man eine Magensonde und einen Katheter gelegt bekommen hat und es jemanden gibt, der dafür sorgt, dass hertransportiert wird, was eingeführt und forttransportiert, was ausgeführt werden muss. Eine gewisse Abhängigkeit ist also immer gegeben, denke ich und schäle mich zwischen meinen Kissen heraus.

Der Boden unter meinen nackten Fußsohlen fühlt sich dagegen hart – geradezu brutal wirklich an. Der Boden der Tatsachen hat eben keinen Teppich, zwischen dessen Fasern man seine Zehen eingraben kann - in der Hoffnung, sie könnten Wurzeln schlagen.

Die Vorstellung, zu einem Insekt zu mutieren, hat mich immer abgeschreckt, aber wenn Kafka stattdessen die Verwandlung in einen Baum beschrieben hätte, hätte er der Entmenschlichung eine majestätische Note verleihen können. Ich bin davon überzeugt, dass sie weit weniger furchterregend gewesen wäre, wenn sie mit einer Pflanze assoziiert würde statt mit einem ekelerregenden Käfer. Das Problem ist nämlich nicht die Entmenschlichung, sondern der Ekel und wenn wir uns von diesem trennen können, ertragen wir auch unsere eigene Entmenschlichung, selbst wenn sie durch Kräfte vorangetrieben wird, die wir nicht verstehen und schon gar nicht kontrollieren können.

Die ersten Schritte des Tages sind die gefährlichsten. Das Gehirn einer gerade aus dem Schlaf gerissenen Person weist die gleichen Funktionsschwächen auf wie das Gehirn eines mäßig bis deutlich Betrunkenen – wie defizitär muss dann erst das Hirn eines Menschen arbeiten, der nicht geschlafen hat?

Ich wanke ins Bad, stoße mir an mindestens zwei Türrahmen die Schulter an und stelle fest, dass jemand über Nacht einen Großteil des Sauerstoffs in dieser Wohnung weggeatmet hat. Die Mutation in einen Baum hätte also noch andere Vorteile, denke ich und reiße unterwegs das Fenster im Flur auf.

Es ist hell draußen und der Geruch von gemähtem, feuchten Gras weht mit dem lauen Sommermorgenwind herein. Ein wenig modrig, aber nicht unangenehm. Hat es heute Nacht geregnet? Es kleben keine Tropfenüberreste an der Fensterscheibe, aber die können auch längst getrocknet sein.

Trocken, denke ich. Die Tage sind trocken. Die Nächte sind schlammig und alles, was vom nächtlichen Sumpf übrig geblieben ist, verdampft nun im Licht, verdampft zu Reue, Scham und Vergessen. Das ist das Gute an Sommertagen. Der Winter ist da deutlich grausamer. Kälte konserviert Sünden unter dem Schnee des Leugnens.

Meine Kleider sind verschwitzt. Ich rieche an ihnen, als ich sie abstreife. Das tue ich jeden Morgen, um mich daran zu erinnern, dass die Entmenschlichung noch nicht eingesetzt hat. Solange ich noch schwitze, ist alles wie gehabt, alles gut... oder schlecht – je nachdem, wie ich meine Situation gerade bewerte. Ich mag den Geruch, weil er mir ein wohliges Gefühl von Übelkeit vermittelt.

Wohlige Übelkeit ist sehr selten aber tröstlich. Sie ist ein verbindendes Element zwischen anderen Menschen und mir, Beweis für eine Gemeinsamkeit, einen Körper, ein Erbe. Das Riechen an verschwitzter Kleidung ersetzte Meditation und Schlaf. Außerdem beugt es Zusammenbrüchen vor. Salzig und schmierig sind die Abfallprodukte der Fabrik, die ich meinen Körper nenne. Und sie läuft. Sie funktioniert. Und sie braucht Nachschub.

Ich bemerke die Trockenheit in meiner Kehle, die sich anfühlt, als hätte sich ein pelziger Schimmelteppich in ihr angesiedelt. So etwas passiert, aber in meinem Fall ist es lediglich gewöhnlicher Durst. Ich drehe also den Wasserhahn auf und halte mein Gesicht so darunter, dass ich nach dem herausfließenden Wasser schnappen kann wie ein Hund, dem so etwas Freude bereitet.

Aus irgendeinem Grund verschmälert sich der Wasserstrahl erst zu einem Rinnsal, dann zu einem steten Tropfen. Etwas stimmt schon seit Jahren mit der Leitung nicht, aber ich habe bis heute nicht herausgefunden, was es ist und so ergebe ich mich dem Schicksal, Gießkannen und Putzeimer nur mit einem enormen Aufkommen von Geduld füllen zu können.

Ich versuche mich auf die langweiligen Dinge zu konzentrieren, die in der Realität passieren und die Katastrophen in das Reich meiner Phantasie zu verbannen. Wenn ich es mir vorstellen kann, verliert es an Schrecken, bilde ich mir ein. Wenn ich es verstehen kann, kann ich ein Problem auch lösen. Was einen umbringt, sind immer die Dinge, die man nicht bedacht und auf die man nicht vorbereitet ist.

Der Atomkrieg wird nicht stattfinden, solange ich daran denke. Die Angst in mir bewahrt mich vor realen Gefahren. Ich setze einen Fuß vor den anderen und scheitere wie jeden Morgen an meinem halbherzigen Versuch, Achtsamkeit im Schnellverfahren zu lernen.

Wenn man leben könnte, wie man Bücher liest, denke ich, könnte man die langweilige Passagen einfach überblättern oder überfliegen. Man könnte sie in ein paar Sätzen zusammenfassen und zu den essentiellen Fragen übergehen. Niemand schreibt Passagen in seine Bücher, in denen Leute zur Toilette gehen oder Geschirr abspülen und das ist gut so. All diese Dinge sind irrelevant. Das Shampoonieren meiner Haare heute Morgen wird mein Leben nicht weiter beeinflussen, wieso sollte ich dem also Beachtung schenken? Ist es nicht besser, sich in Routinen zu bewegen, dahinzudämmern, bis endlich etwas passiert? Es schmerzt weniger, stelle ich mir vor.

Stoizismus ist die Philosophie des Ertragens und der Gelassenheit. Sie ist völlig aus der Mode gekommen, aber ich frage mich, ob sie es nicht wert wäre, dass man nochmal über das Konzept nachdenkt? Zu viele Gefühle machen krank. Zu viele Eindrücke überfordern. Ertragen kann man nur, was man sich selbst zuzumuten bereit ist. Gelassen bleiben kann man nicht um jeden Preis.

Ich dusche kalt und drehe dann das heiße Wasser immer weiter auf, um zu sehen, wie viel ich aushalte, ob ich mehr aushalte, als dieser Frosch, der langsam in einem Topf voll lauwarmem Wasser gekocht wird, weil er nicht merkt, wie seine Umgebung langsam immer mörderischer wird.

Vor zwei Wochen habe ich die Kündigung eingereicht, weil ich es nicht mehr ertragen habe. Was war es noch gleich? Heute übe ich mich in Gelassenheit – ein seltsames Gefühl. Der Gleichgültigkeit ähnlich, aber nicht so sehr mit dem Geist des Trotzes behaftet.

Ich ziehe die Kleider an, die ich bevorzuge, ohne mich nach den Erwartungen anderer zu richten und mir fällt auf, dass es jeden Tag die gleichen sind und dass ich – wäre ich der letzte Mensch auf der Welt – nicht den geringsten Wert auf mein Aussehen und mein Auftreten legen würde. Wie sehr wir doch fremdbestimmt sind, denke ich. Es gefällt uns und gleichzeitig stößt es uns ab. Ich fühle mich unwohl, wenn ich es mir zu bequem mache. Das schlechte Gewissen des Schmarotzers... Ob die Mistel ein schlechtes Gewissen hat? Aber was soll sie sonst tun? Soll sie sich vorsätzlich verkümmern lassen, um dem Baum nicht lästig zu fallen, der sie ohne Weiteres mit ernähren kann? Manche Menschen sind Bäume, manche sind Misteln. Manche Menschen können keine Wurzeln schlagen.

Vor mir liegt ein Tag ohne Struktur, ohne Form und ohne Ziel. So etwas kann einen verrückt machen, nicht verrückter jedoch als das Befolgen von sinnlosen Regeln, Anforderungen und Weisungen. Ich bin keiner dieser Menschen, die Anleitungen benötigen, um sich zurecht zu finden. Ich bin auch keiner dieser Menschen, die sich dazu berufen fühlen, Anleitungen zu geben. Die Struktur ergibt sich einfach. Die Form kommt mit der Zeit, die man an einem Projekt arbeitet und ein Ziel hat sowieso kaum ein Mensch überhaupt.

Es sind Lügen, die wir uns selbst erzählen und zu denen wir auch schon unsere Kinder verleiten: „Was willst du mal werden, wenn du groß bist?" Bis heute weiß ich keine Antwort darauf, denn im Grund sind alle Optionen langweilig. Alles wird irgendwann zur Routine und dann läuft das Leben an einem vorbei, bis man nur noch in seinen Träumen überhaupt einen kleinen Geschmackshauch davon abbekommt, was „Leben" vielleicht bedeuten könnte.

Leben bedeutet Katastrophe, glaube ich manchmal. Es bedeutet, mit dem eigenen Tod konfrontiert werden. In solchen Situationen sagen die Leute Sätze wie: „Jetzt fühle ich mein Herz schlagen. Man lernt das Leben wertschätzen, wenn einem so etwas widerfährt. Wir müssen demütiger sein und uns unserer Sterblichkeit bewusst werden!"

Aber müssen wir das? Wer sagt das? Darf man sowas überhaupt noch sagen? Sind die Zeiten der Demut nicht vorüber? Ist sie nicht untergegangen mit den Religionen und dem Aberglauben?

Das hätten sie vermutlich gerne gehabt, aber die Leute glauben immer noch, dass Demut eine Tugend sei und weil der Glaube an Tugenden nützlich ist, lassen sie ihn gewähren. Demut ist schon immer eine zersetzende Kraft gewesen, glaube ich. Demut lebt parasitär von Selbstmitleid und Opferbereitschaft.

Das mit der Religion war so, erinnere ich mich, als ich meine Füße in ein Paar Socken zwänge, die offenbar in der Wäsche eingelaufen sind: Sie verschwand einfach. Irgendwie keine besonders geistreiche Geschichte, aber die Zeit der Geschichten ist ohnehin vorbei. Keine Geschichten mehr. Zahlen zählen. Was du nicht in einer Tabelle nachlesen kannst, existiert nicht, lautet die Devise.

Irgendjemand erklärte die Religionen für beendet und die Gläubigen für geisteskrank und zurückgeblieben und schon wandelte sich unser schönes Land zu einem atheistischen Utopia, in dem man Verstand und Rationalität den Vorzug vor vagen Gefühlen gab.

Der Traum vom Fliegen verwirklichte sich nicht durch Hoffen und Beten, hieß es, Flugzeuge mussten konstruiert werden. Ein Gehirn ist alles, was wir brauchen, um zu überleben.

Nur, dass wir nicht überleben. Niemand überlebt. Das ist ja gerade das Problem, denke ich. Eines Tages werden wir alle tot sein und was machen wir bis dahin und warum und wie? Der Tod ist die ultimative Motivation, den Arsch hoch zu bekommen, aber wieso sollten wir das tun, wenn dem Leben wie dem Tod alle mystische Bedeutung genommen, wenn unsere Existenz vorsätzlich entzaubert wird und wir reduziert werden auf... Zufälle? Auf Wahrscheinlichkeiten? Auf Durchschnittswerte, Testergebnisse und entsprechende Erwartungen?

Wie findet ein Mensch seine Bestimmung, wenn er nicht an das Schicksal glauben darf? Es gibt immer jemanden, der dir sagt, was du tun sollst, was du tun kannst und was du irgendwem schuldig bist. Die Idee der Selbstverantwortung hat sich eben doch nicht durchgesetzt. Sie gilt nur, wenn du mal Hilfe brauchen solltest. Wenn es darum geht, die Maschine am Laufen zu halten, musst du dich anpassen.

Freiheit bedeutet Entscheidung bedeutet Verantwortung bedeutet, dass wir dir nicht den Arsch retten werden, wenn du dich nicht unseren Vorstellungen entsprechend entscheiden und funktionieren solltest.

So war das mit der Religion. Sie verschwand einfach und wurde ersetzt durch den Glauben an den Nutzen. Alle Geschichten wurden als irrationale Zeitverschwendung und unnötige Kostenfaktoren gestrichen – erst aus den Schulbüchern, dann aus dem Alltag. Alle Metaphern, alle Gleichnisse, alles woran man sich erinnert, ohne zu wissen warum und warum es einem ein warmes Gefühl bereitet. Alles wegrationalisiert. Keine Träume mehr, keine Visionen. Der Mensch lebt von der Arbeit nicht von der Analyse derselben.

Ich frage mich, ob es überhaupt einen Unterschied macht, ob man eine Religion hat oder nicht. Hat man eine, unterwirft man sich unter diese, hat man keine, sucht man sich etwas anderes, dem man sich unterwerfen kann. Der Mensch erträgt es nicht, nichts und niemanden über sich zu haben. Zumindest glauben das diejenigen, die sich über die Menschen erheben und sich hinter Ideen und Theorien und Berechnungen verbergen. Die einen verstecken sich hinter Geschichten, die anderen hinter Statistiken... und wieder andere hinter Waffen.

Ich mag es, auf dem Boden zu sitzen. Es erscheint mir natürlicher als das Sitzen auf einem Stuhl. Ich starre auf meine Füße und frage mich, ob ich nur deshalb Socken trage, um niemanden mit dem Anblick meiner Füße zu belästigen. Wen? Mich selbst? Es ist sicherlich warm genug, um barfuß zu laufen, aber ich fühle mich unwohl, wenn man meine Zehen sehen kann. Meine Füße sind nicht schön. Die Schwachpunkte an meinem Körper.

Ich glaube nicht an Stühle und ich glaube nicht an Socken. Ich glaube nicht an die Nützlichkeit dieser Dinge, trotzdem drängt man mich dazu, sie zu verwenden und das geht so weit, dass ich mir selbst Vorwürfe machen, wenn ich allein bin und den Konventionen nicht folge. Was ist passiert? Der freie Wille... Ist er auch einfach so verschwunden? Ist er der Angst gewichen oder der Resignation?

Ich bin allein und ich denke daran, wie ich mir früher vorgestellt hatte, dass die Zukunft sein würde. Es kommt nie so, wie man glaubt. Es ist in jeder Hinsicht enttäuschend. Fortschritt schreibt man sich vielleicht auf die Fahnen, aber Zufriedenheit streicht man dafür aus dem Wörterbuch. Was ist das für ein Fortschritt, wenn man sich nicht dafür entscheiden darf, nicht an ihm teilzunehmen?

Vor zwei Wochen habe ich die Kündigung eingereicht. Ich fühle mich wie in die Steinzeit zurück versetzt. Ohne Zeitplan hänge ich in einem Netz aus Möglichkeiten fest. Keine davon ist Pflicht und keine davon wird je umgesetzt werden. Braucht man die Peitsche vielleicht sogar doch?, frage ich mich. Peitsche, Ambitionen, Ansprüche... wo ist da überhaupt der Unterschied?

Ich schleppe mich hinüber zur Küche und lasse den Ekel auf mich wirken, den die vor sich hingammelnden Früchte in der Schale auf der Fensterbank in mir aufsteigen lassen. Ich kaufe zu viele Lebensmittel. Damit muss Schluss sein, ich habe kein Einkommen mehr und muss von meinen Ersparnissen leben. Ich werde das alles aufessen müssen, wenn ich nicht das Gesicht vor mir selbst verlieren will.

Aber nicht heute, nicht jetzt, denke ich, denn ich habe keinen Hunger. Den habe ich morgens um diese Zeit nie, trotzdem habe ich mir früher immer ein Frühstück aufgezwungen. Warum heute nicht mehr? Wann hat das aufgehört? Schon einige Zeit vor meiner Kündigung, aber was war der Auslöser? Vielleicht mein Schlafbedürfnis, das sich zuerst ausgedehnt hat und dann in sich zusammen geschrumpft ist, nachdem mein Vater gestorben war. Vielleicht meine Faulheit, wenn es um das Abspülen von Geschirr geht.

Familie. Was ist nur mit der Familie passiert? Also das mit der Familie war so...

Sie verschwand ganz einfach. Ganz langsam, ohne dass man es groß gemerkt hätte. Sie starben alle nach und nach, wie das so der Lauf der Dinge ist, aber es kam niemand nach. Das heißt, diejenigen, die nachkamen, halten Familie für etwas, dem man sich entziehen muss, wie einer angeborenen Krankheit, die man gut behandeln und kurieren kann. Ihre Therapie besteht aus Ignorieren und ob das so gesund ist, weiß ich nicht.

Ich bin noch nie gut im Ignorieren gewesen. Wenn man Dingen zu lange keine Aufmerksamkeit schenkt, fangen sie an zu wuchern und man wird nicht mehr fertig mit ihnen. Deshalb habe ich beschlossen, meine Verantwortung für Dinge zu limitieren. Ich habe keine Haustiere und keine Kinder.

Kinder. Auch sie verschwinden, wenn sie groß genug sind, um zu erkennen, dass sie ihr ganzes Leben lang nur ausgenutzt worden sind. Und das ist die Wahrheit. Niemand bekommt ein Kind, weil er oder sie dem Kind etwas Gutes tun will. Es geht immer nur ums eigene Ego, ums eigene Glücksgefühl, darum, zu Erleben, wie es ist, etwas oder jemanden beherrschen zu können. Sich ein Kind machen zu lassen, ist das Ausleben einer Machtphantasie, kein Pflichtgefühl, wie sie es beschönigen. Es gibt keinen göttlichen Auftrag, es gibt nur die eigene Unfreiheit, der man zu entkommen versucht, indem man andere noch unfreier macht. Und damit sind sie zufrieden und deshalb wird es immer so weiter gehen.

Es gibt keine Kinderphoto von mir, auf dem ich lache.

Ich selbst bin seit dem Tod meiner Eltern die Tochter, Schwester, Vertraute und Geliebte von niemandem. Ich bin vielleicht die Bekannte, die Cousine, die man aus Pflichtgefühl zu einer Hochzeit einlädt, weil man weiß, dass ich absagen werden, weil ich nicht zu Feierlichkeiten gehe, auf denen ich niemanden kenne.

Dabei gibt es nur zwei Sorten von Menschen: Die einen nehmen vor einer Feierlichkeit Imodium, die anderen Rizinusöl. Die einen wollen sichergehen, dass sie ihre Scheiße bei sich behalten, die anderen wollen sicher sein, dass sie die Scheiße schnell vorher loswerden.

Seltsam, dass Persönlichkeiten mit der Zeit verschwinden, die Namen aber bleiben. Namen sind unveränderlich über Generationen. Vielleicht fällt es den Leuten deshalb so schwer, ihre Meinungen, die doch wesentlich bedeutsamer sind als Namen, zu ändern

Mein Name ist jedenfalls schon sehr alt. Viel älter als die meisten Meinungen, die sich entweder gehalten haben oder im Laufe der Weltgeschichte ausradiert wurden. Auf so etwas bilden die Leute sich was ein oder bringen zumindest Respekt entgegen. Wogegen? Und wofür?

Das „von" in einem Namen macht einen offensichtlich nicht zu einem besseren Menschen. Was ist es also, das diese Faszination auslöst? Geschichten? Die Zeit der Geschichten ist vorbei. Sie sind verschwunden, nur die Namen sind geblieben und sie wirken wie die leere Hülle einer Schlange, die sich gehäutet hat und davon gekrochen ist.

Der leblose Rest blieb zurück und erschrickt und irritiert Passanten.

Mich irritiert mein Namen schon mein Leben lang. Er markiert mich einerseits als Mitglied einer Minderheit, andererseits aber auch als Mitglied einer Elite, zu der man ohne Eigenleistung gehört, was die Zuordnung wertlos macht, oder gar zu einer Abwertung meiner Person führt. Das „von" allerdings streichen zu lassen, kommt mir vor wie eine Art Amputation. Nicht gerade die Amputation eines wichtigen Körperteils, aber vielleicht die eines liebgewordenen Fingernagels oder eines lang gezüchteten Pferdschwanzes. Das „von" erzählt mir nachts die alten Geschichten von Rittern und Burgfräuleins, von Schwertkämpfen und anderem Kram, den ich eigentlich langweilig finde, von dem ich aber glaube, dass er ein Teil meines Lebens sein müsse, weshalb ich dieses Erbe in meinem Herzen bewahren müsse, aber wahrscheinlich ist es nur der Trotz und die Wut darüber, dass niemand heute mehr Geschichten wertschätzt. Dabei hat, glaube ich, keiner meiner Vorfahren jemals auf einer Burg gelebt. Wahrscheinlich sind es Aufschneider und Diebe gewesen.

Macht mich das selbst zu einer Aufschneiderin und Diebin? Die Zukunft ist nicht niedergeschrieben. Manchmal frage ich mich, ob die Vergangenheit es ist. Was ist schon ein Fakt ohne Einordnung, Analyse und Bewertung? Und sind diese immer so eindeutig zu treffen? Was ist richtig? Ist die Welt eine einzige riesige Rechenaufgabe? Und wenn ja: Wie viele Unbekannte gibt es? Wie breit ist die Kluft zwischen Glorifizierung und Verdammung?

Und was ist mit der Verantwortung? Wird man damit geboren? Gibt es ein moralisches Erbe zusammen mit den vermeintlichen Privilegien? Dieses Haus, dieser Name, diese Familie hängen an mir wie ein Mühlstein. Ich wünschte, ich könnte frei und besitzlos herumreisen, als gehöre mir die Welt. Aber mir gehört nur dieses Haus mit Garten.

So verbringe ich den Tag. Ich bin keine Mathematikerin. Ich kann die Weltformel nicht ausrechnen. Ich scheitere schon an kleinen Teilaspekten der Realität. Ich bin vielleicht die Unbekannte, die die Aufgabe unlösbar macht. Das Paradoxon, das mehr ist als die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Vielleicht bin ich der Riss, der die Regeln in Frage stellt, sie ins Wanken bringt, sie unhaltbar werden lässt.

Was, wenn es ihn nicht gibt, den Weltgeist? Die Vernunft? Das Streben zum Guten, Schönen, Wahren? Was, wenn es kein Ziel gibt, sondern nur die Leere, den Stumpfsinn, das Nichts? Was, wenn die Antwort immer Null ist?

Ich denke nicht in Formeln, ich denke nicht in Algorithmen und ich glaube nicht, dass die Zeit so funktioniert. Wieso also eine Gesellschaft nach dem ewigen Wenn-Dann ausrichten? Wieso die Zukunft daran ableiten und danach ausrichten wollen? Wieso eine sich selbst erfüllende Prophezeiung konstruieren wollen? Weil es schön einfach, nützlich und ordentlich ist? Wieso Einzelschicksale vorherbestimmen? Man könnte glatt an Astrologie glauben. Man könnte glatt eine Religion daraus formen.

Es ist kompliziert. Was ist passiert? Es ist so viel verschwunden und die plötzliche Ordnung und scheinbare Erklärung der Welt hat uns – jeden einzelnen – in einem persönlichen Chaos zurückgelassen. Es reicht, wenn einige es verstehen. Es reicht, wenn wir euch sagen, was ihr tun sollt. So läuft das in einer Hierarchie. Und die ist gut für uns, weil so genau diejenigen gezielt gefördert werden, die uns alle weiterbringen, die altruistisch ihre Leistungsfähigkeit für Geld zur Verfügung stellen.

Irgendwann sind auch die Nachrichten verschwunden. Wir brauchen keine Informationen, es reicht, wenn sie unsere Emotionen bedienen, sie an- und abschalten. Parolen haben Berichte abgelöst. Schlagzeilen sind die neuen Reportagen, Karikaturen, die neuen Kommentare. Wir reproduzieren, statt uns eine Meinung zu bilden. Mehr als zwei Sätzen am Stück kann niemand Aufmerksamkeit entgegenbringen. Bilder statt Text, Verzerrung statt Scharfblick. Wir wandern umher in unserer Blase und blicken durch einen Schleier auf die Welt. Was ist nur geschehen? Die Wahrheiten sind verschwunden und durch Ergebnisse ersetzt worden. Keine Notwendigkeit für weitere Fragen mehr...

Vollendete Tatsachen, aber bitte ohne Befriedigung. Was bleibt, wenn sie uns die Geschichten und die Fragen genommen haben? Das Grabschen nach Dingen. Wir sind wie Kinder, die, bevor sie in ihrer Höhle spielen können, diese erst einmal ausstatten müssen und über dem Heranschaffen von unnötigem Plunder vergessen, dass sie eigentlich etwas anderes tun wollten, die vergessen, wofür sie überhaupt in die Höhle gekrochen sind, die ihren Kopf abschalten und nur noch ihre Hände benutzen. Wir sollen uns einen Haufen zusammenraffen und dabei vergessen, dass wir Poeten, Träumer, Forscher oder Abenteurer sein könnten. Wir rüsten auf gegen die Sehnsucht.

Wo verläuft die Grenze zwischen Selbstbestimmung und Verwahrlosung?

Die Sonne steigt auf und ich beobachte die Bewegung der Wolken. Das Licht und die Wärme stechen in meine Haut. Da sind Vögel am Himmel, die nichts von all dem wissen, was im kollektiven Bewusstsein der Menschen passiert. Sie sind keinen Moden unterworfen. Es gibt keinen Zeitgeist in der Welt der Schwalben. Sie müssen sich nicht fürchten, eines Tages auf der falschen Seite der Ideologie zu stehen. Keine Schwalbe würde eine andere Schwalbe töten. Keine Schwalbe würde einer anderen Schwalbe vorwerfen, ein liederliches, asoziales Leben zu führen. Aber es würde auch keine Schwalbe einer anderen helfen, wenn diese von einem Raubvogel angegriffen wird. Ist das Vorurteil also der Preis der Solidarität? Der Kontrollmechanismus? Oder ist es dessen Achillesferse?

Schwalben in Gruppen sind harmonisch und elegant. Ihre Choreographie wirkt wie etwas, das kein menschlicher Künstler so inszenieren könnte, ohne dass es prätentiös und pathetisch wirken würde. Die Kunst imitiert das Leben. So war es immer. Alle anderen Sprüche dieser Art sind dekadente Respektlosigkeiten.

Menschen zeigen in Gruppen, wie scheußlich sie sind, einzeln wirken sie freundlich, aber nur weil sie Angst haben, als Individuen und Scheusale enttarnt zu werden. Wer hätte gedacht, dass Eigensinn zu Isolation und Einsamkeit führt?

Meine Distanz zu Menschen ist das Resultat eines Paradoxons und es klingt vielleicht seltsam, wenn ich es zugebe, aber... der Geruch von Menschen stößt mich ab. Also der Geruch von anderen Menschen. Der Gedanke, andere Leute könnten den Naturgesetzen genauso ausgeliefert sein wie ich, löst in mir die kleinen alltäglichen Panikattacken aus, die in der Brust drücken wie ein Stein im Schuh. Wenn wir alle die Sklaven unserer Natur sind, gibt es vielleicht keine Rettung. Vielleicht wird sich nie etwas ändern, ist alles schon immer so gewesen. Keine Revolution möglich. Alles geht nur in der Geschwindigkeit der Evolution und die erfordert vor allen Dingen: Unseren Tod.

Schicksal, Vorherbestimmung, Rollen. Lücken, die wir füllen, Plätze, die wir einnehmen müssen, als gäbe es einen Plan, als hätte irgendjemand ein höheres Ziel, das mehr wert ist als die Interessen eines Einzelnen. Erfülle die Erwartungen oder geh zugrunde mit deiner destruktiven Philosophie!

Und was bleibt mir dann noch? Mir ganz persönlich? Was bin ich dann? Ein Frau? Eine starke Frau? Eine schlechte Frau? Eine starke Frau, ist die Frau, die einen starken Mann fickt. Stark ist, wer sich zurückhält, bis er seinen eigenen Vorteil nutzt, indem er sich in den Vordergrund drängt. Stark ist, wer die Kontrolle übernimmt. Eine Hure hat zum Beispiel mehr Macht als ihre Kunden, aber sie lässt es diese nicht wissen und sie lebt es auch nicht aus, weil das Schauspielern ihr Beruf ist. Jeder Beruf ist Schauspielern. Aber es ist das Schicksal der Frau und des Arbeiters, dass sie ihre Schauspielmaske niemals absetzen können, sodass ihre geheime Lüge niemals enttarnt und zur realen Wahrheit wird.

Jeder, der Freude empfindet, macht sich angreifbar für Menschen, die ihn ausnutzen möchten.

Und dieser Geruch der Machtlosigkeit haften an einem und hüllt einen ein wie ein Nebel, ein Hauch von Knoblauch, Alkohol oder Verwesung. Es ist ein Krieg und ich fechte ihn lieber mit mir selbst aus als mit irgendjemandem sonst.

Alles verschwindet und was bleibt ist die Kreatur in uns, der Instinkt, die Lust und das Kalkül.

Ich versuche, mir vorzustellen, wie es wohl ist, in einem Mehrfamilienhaus mit mehreren Parteien zu leben, nie allein zu sein, nie unbeobachtet zu sein. Was würden die Leute von mir denken, wenn sie mich so sehen könnten, wenn sie wüssten, was ich tue, was ich denke, was ich schreibe, was ich über sie zu sagen habe? Kein Mensch hat es verdient, ständig kontrolliert zu werden. Wohnen wie im Büro, Leben, als würde man den Arbeitsplatz oder die Schulklasse nie verlassen, ständig unter Druck, ständig angespannt, ständig die eigene Wirkung im Hinterkopf.

Jeder Blick ist wie ein Nadelstich, schlimmer als ein Sonnenbrand, jedes Wort eine Ohrfeige, ein Peitschenschlag, der einen zum Tanzen bringen will, jeder noch so freundlich gemeinte Händedruck wirkt nach wie ein Wadenkrampf. Jede Berührung bringt Druckstellen.

Ich habe nichts außer meiner Intelligenz. Ich bin nicht stark, ich bin nicht reich, ich bin nicht schön. All das muss ich mit Intelligenz ausgleichen und die meisten Menschen finden Intelligenz kein bisschen attraktiv. Kein Wunder, dass sie mich zurückweisen, dass sie mich verurteilen, dass sie mich stehen lassen. Noch nie bin ich jemandes erste Wahl gewesen. Noch nie hat sich jemand um meine Gunst bemüht. Sattdessen bin ich es, die sich bemühen muss, musste. Nicht mehr. Der Wunsch nach Zuneigung ist verschwunden.

Wenn jemand in einem Auto an mir vorbei fährt und mich mit der Lautstärke seiner Soundanlange beeindrucken will, bemühe ich mich, extra nicht im Takt des Liedes zu gehen, das aus den Boxen wummert.

Die individuellen Mixtapes, die ich als Teenager exzessiv aus Radioaufnahmen zusammengestellt habe, um sie zu verschenken, was ich mich dann doch nie getraut habe, habe ich alle überspielt. Weißes Rauschen.

Ich habe aufgehört mich zu schminken, das habe ich sowieso nie richtig gelernt. Ich habe aufgehört, zum Friseur zu gehen. Ich habe aufgehört, neue Kleidung zu kaufen.

Ich habe aufgehört, Kuchen zu backen, nachdem ich einmal versucht habe, meinen Kollegen auf diese Weise eine Freude zu bereiten und sie nicht mal bereit waren, für mich und ein Stück Kuchen ihre angeblichen Diäten zu unterbrechen.

An einem Konflikt sind nie alle Parteien zu gleichen Teilen schuld, trotzdem wird so getan. Der Begriff der Schuld verliert seine Bedeutung auf Grund einer Ideologie des bedingungslosen Kompromisses.

Und da sitze ich nun in meiner biedermeierhaften Version von Melancholie. Vor zwei Wochen habe ich die Kündigung eingereicht. Meine Kraft ist einfach verschwunden. Das Stück Papier wie eine Waffe in meiner Hand. Das alles ist so fern, war es zuvor schon. Alles ist so weit weg. Ich kann das Blut an ihren Fingern gar nicht sehen. Man muss sich freischwimmen, denke ich. Das ist der eigentliche Sinn des Lebens. Man muss seine Freiheit nehmen und mit ihr gemeinsam untergehen.

Aber jede Binsenweisheit gewinnt erst an Profil, wenn man sie zur Illustrierung an einem Sündenbock anbringt. Fragt sich, was zuerst da war: Der Bock oder die Anschuldigung...

Ihr habt euch verändert. Ihr seid verschwunden! Ihr seid mir fremd geworden.

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