Ein prager Mysterienspiel

Jürgen Edermann verließ das kleine stickige Zimmerchen der Schamanin und fühlte sich etwas befremdet. Er war nicht in diese Stadt gekommen, um sich seinen Aufenthalt derart vermiesen zu lassen.

Seine Kleider stanken auch draußen noch nach Weihrauch und schwer in der Luft hängenden Duftölen.

Es dauerte einige Augenblicke, bis sich seine Augen wieder an das Tageslicht gewöhnt hatten. Die letzten Reste des schmelzenden Schnees vom Vortrag reflektierten das Licht der winterlichen Nachmittagssonne, das in seinen Sehnerv stach.. Er rieb sich die Augen und atmete tief durch, um sacken zu lassen, was ihm eben prophezeit worden war.

Eigentlich war er nicht der Typ, der an derartige Weissagungen glaubte. Aus purem Vergnügen hatte er die runzlige Zigeunerin aufgesucht, um sich seine Zukunft vorhersagen zu lassen.

Er war erst kürzlich nach Prag gekommen, weil er glaubte hier größeren Inspirationen ausgesetzt zu sein, als im dekadent gewordenen München, wo niemand seine Texte lesen wollte. Trotzdem hatte Edermann seit seinem Umzug bisher keinen einzigen Text vollenden können und alles, was er begonnen hatte, landete zerknüllt und mit einem selbstzweifelnden Kopfschütteln im Kaminofen.

Vielleicht wollte er von der Wahrsagerein nichts weiter als eine Bestätigung seines eingeschlagenen Weges, ein paar aufmunternde Worte. Man kannte das ja: Die meisten Menschen wollen nichts über ihre Zukunft wissen, sie wollen lediglich ihre Vergangenheit bestätigt haben. Damit verdienten alte Zigeunerinnen ihren Lebensunterhalt. Im Grunde war es Betrug.

Edermann atmete noch einmal tief durch und lächelte über sich selbst. Fast hätte er sich erwischt, wie er sich über seine Vorhersage Sorgen machte.

Die Karten, die sicherste Methode in die Zukunft eines Menschen zu sehen, zeigten Edermann den baldigen Tod an.

Zurück in seiner kleinen, gemütlichen Mietswohnung entfachte er die kleine Gaslampe und setzte sich an die Schreibmaschine. Er hatte keinen Appetit und wollte stattdessen seine derzeitige Stimmung auf Papier einfangen. Melancholie hatte sich über sein Gemüt gelegt. Was, wenn er wirklich bald sterben würde?

Es war weniger die Angst vor der Kartenweissagung, als ein plötzliches Bewusstwerden der Endlichkeit seines und allen Lebens. Trotzdem wollte es ihm nicht zu Sprache werden und frustriert ließ er die Schreibmaschine ruhen, ohne einen einzigen Buchstaben getippt zu haben. Er legte sich rücklings aufs Bett und starrte an die niedrige, mit dunklem Holz vertäfelte Zimmerdecke. Mit seiner rechten Hand griff er blind in die Brusttasche seines Jacketts, das er über den Stuhl direkt neben seinem Bett gehängt hatte. Er musste ein wenig kramen, bis seine Finger den Gegenstand umfingen, den sie gesucht hatten: Ein kleines, violettes Glasfläschchen, das die Schamanin ihm mitgegeben hatte.

„Ihr Leben ist bedeutungslos!", hatte sie ihm ins Gesicht gesagt, „Erleben Sie etwas, oder Sie werden nie etwas Bedeutendes zu Papier bringen, ehe Sie sterben!". Dann hatte sie ihm das Fläschchen gegeben: „Trinken Sie davon und Sie werden die Bedeutung des Lebens erkennen!"

Es konnte nicht schaden, dachte sich Edermann und öffnete die Phiole, roch daran. Der unangenehm süßliche Duft von Granatäpfeln stieg ihm in die Nase und er wandte seinen Kopf angewidert ab.

Dann tat er einen Atemzug, setzte das Fläschchen an und ließ die süße Flüssigkeit auf seiner Zunge hin und her laufen, bis er sie verschluckte.

Nichts änderte sich an seinem Befinden, außer dass er plötzlich einen enormen Durst verspürte und den Drang den Geschmack aus seinem Mund zu bekommen.

Nichts geschah.

Erst nach ein paar Stunden, als die Dämmerung der Dunkelheit gewichen war und es erneut zu schneien begonnen hatte, verspürte Edermann eine Veränderung in seinem Körper. Er glaubte, er hätte den Ofen zu hoch geschürt und verspüre deshalb das Bedürfnis nach Kälte und frischer Luft.

Geistesabwesend wischte er sich die kalten Schweißperlen von der Stirn und ging hinüber zum Fenster, öffnete es und drückte seine schwitzenden Hände in den kalten Schnee auf der Fensterbank, was ihm eine wahre Wohltat war. Dann fuhr er sich mit etwas Schnee durchs Gesicht, auf dass er wach bliebe.

Kein Zweifel, dies war die Wirkung der seltsamen Tinktur.

Edermann bewegte sich hin und her zwischen der Einbildung von Schmerz und einer tatsächlichen Schmerzlosigkeit, wie er sie noch nie erlebt hatte, an die er nicht recht glauben konnte.

In seinem Zimmer wurde es ihm zu stickig. Das Fenster reichte nicht mehr aus, um ihn mit genügend Sauerstoff zu versorgen. Er schloss es, und stolperte überstürzt seine Wohnungstür hinaus, vergaß seinen Mantel anzuziehen, vergaß die Tür hinter sich abzuschließen.

Er hetzte die Treppen hinunter auf die Straße und verspürte eine unnatürliche Erleichterung in seiner Brust.

Seine Lungen füllten sich mit reiner, kalter Nachtluft und es wurde ihm ruhiger zumute.

Aus einem plötzlichen Drang heraus blickte er sich um und starrte gegen die Mauer des Mietshauses, in dem er wohnte. Es war das Haus. Es musste das Haus sein, das ihn so einengte, das ihn zerdrückt. Es würde über ihm zusammenbrechen. Alle Mauern mussten irgendwann brechen. Einzig unter freiem Himmel konnte man sich sicher sein. Er musste raus hier.

Edermann ging los. Die Kälte, wegen der er zu zittern begann, spürte er nicht. Der Schweiß auf seiner Stirn schien zu gefrieren, doch das einzige, was Edermann in diesen Augenblicken wahrnahm, waren die Bilder vor seinen Augen.

Die engen, mit Kopfstein gepflasterten Straßen Prags wurden eingeschlossen von hohen, dunklen Mauern. Alle paar Meter spendete eine spärlich flackernde Funzel etwas Licht, das sich in den zufrierenden Pfützen spiegelte und Edermann von unten die Augen blendete.

Dieser Winter war ein seltsamer. Bei Nacht fielen die Temperaturen ins Bodenlose. Brunnen, Vogeltränken, Pfützen gefroren. Am Tage jedoch schien eine erbarmungslose Wintersonne und es setzte kurzzeitig Tauwetter ein, der gefallene Schnee verflüssigte sich und sammelte sich in den Rinnen des Pflasters, sowie in Senken und Mulden auf den Wegen.

Die Straßen waren glatt und glitschig. Edermann musste Acht geben, nicht auszurutschen und hinzufallen.

Da war er wieder, der unbändige Durst. Die modrigen Dämpfe des Flusses zogen zu ihm herüber. Er befand sich ganz in der Nähe einer Reederei, die ihre Abwässer bei Nacht in den Fluss laufen ließ. Ein zarter Nebel legte sich über den Fluss wie ein Brautschleier.

Edermann hustete, musste sich die Hand vor Mund und Nase halten, ehe er sich abwandte und in eine abzweigende Gasse eilte, als müsse er vor den nächtlichen Nebeln flüchten. Wie von einem Gespenst gejagt, riss er die Tür einer Spielunke auf, trat ein und stolperte schwer atmend und halb blind auf die Theke zu.

Er erkannte langsam einige Umrisse und bald auch rötliche und orange Farbtöne. Aus dem dumpfen, schallenden, dröhnenden Geräuschen schälten sich menschliche Worte, deren Bedeutung er zunächst nicht fassen konnte. Er hustete schwer, ging in die Knie, ehe er für sich ein Glas Wasser bestellte. Erst, als er eine Silbermünze auf den Tresen legte reichte der Wirt ihm, was er verlangt hatte, kühl und rein.

Er setzte das Glas an und schon erschien ihm die Szene klarer vor Augen.

Suspekte Gestalten saßen an grob gearbeiteten Tischen und feuerten Karten darauf, schoben Geld und Schmuck hin und her, kippten sich hin und wieder einen Schnaps in den Kehle. Der undurchsichtige Tabakqualm stand im Raum und erschwerte es dem diesigen Licht aus einer Gaslampe den Spielern etwas Helligkeit zu spenden.

Edermann wollte diesen Ort so schnell er konnte wieder verlassen. Es schien ihm nicht geheuer, sich unter Menschen zu mischen, die er nicht kannte. Er fragte sich ohnehin, was er sich überhaupt dabei gedachte hatte, seine Wohnung um diese Uhrzeit noch zu verlassen.

„Entschuldigen Sie", sprach eine schnarrende Stimme Edermann von der Seite an.

Der selbe drehte sich um und erblickte einen kleinen, chic gekleideten, jungen Mann, der nicht recht zu der Klientel dieses Etablissements passen wollte.

Er war höchstens 18 Jahre alt und ein Bart schien ihm noch keiner zu sprießen. Er trug einen feinen, jedoch jugendlich flotten Anzug, schwarze, lederne Schuhe und eine krachneue, dunkelgrüne Schiebermütze aus Tweed.

„Bitte schön", murmelte Edermann und ließ den Jungen durch zur Theke, wo er ein leeres Bierglas abstellte und ein weiteres, volles bezahlte.

„Da vorne ist er!", wurde eine wütende Stimme laut und ein Stuhl krachte zu Boden.

Ein massiger Kerl war aufgesprungen und schritt nun auf den jungen Mann neben Edermann zu. Der stellte sich schützend vor den Jungen und fragte ruhig: „Was hat er getan? Er ist doch noch fast ein Kind!"

„Seine Karten sind gezinkt! Er ist ein Betrüger und Falschspieler!", lautete die Antwort.

„Um wie viel hat er euch betrogen?", fragte Edermann.

„50", sagte der Mann und ballte seine Faust.

Edermann suchte in seiner Hosentasche und fand darin einen zerknüllten Geldschein: „Nehmt das, aber belästigt den Jungen nicht mehr!"

„Du solltest dein Geld für sinnvollere Dinge ausgeben, als diesen Rotzlöffel!", sagte der grobschlächtige Mann und spuckte Edermann seinen Kautabak vor die Füße.

„Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet, mein Herr!", sprach der Junge, „Wie ist ihr Name?"

„Edermann", antwortet er.

„Ich bin Loki. Würde es ihnen etwas ausmacht, mich nach Hause zu begleiten? Man hält mich für einen Betrüger, wie sie gesehen haben, und es ist doch schon recht spät."

„Wie, glaubst du, könnte ich dir helfen? Ich nehme an, dass du mir das Geld zurückzahlen wirst", sagte Edermann und versuchte sich zu besinnen.

„Es ist nicht weit. Meine Schwester, wohnt in diesem Viertel. Sie müssten mich nur begleiten. Einen Mann, der allein unterwegs ist, überfällt man eher als zwei", sagte Loki und nippte an seinem Bier.

„Nun gut. Ich werde dich begleiten, aber nur um zu wissen, wo ich hinkommen muss, wenn ich mein Geld wieder haben will", Edermann lachte und stellte sein leeres Glas auf die Theke.

Als Loki und Edermann das Lokal verließen, schlug ihnen die kalte Winterluft ins Gesicht wie eine Peitsche. Edermann torkelte ein wenig und entschuldigte sich: „Ich bin im Augenblick nicht ganz bei mir. Das muss an der scharfen Kräutertinktur liegen, die ich von einer alten Zigeunerin gekauft habe. Was habe ich mir dabei nur gedacht?"

„Was hat sie Ihnen vorausgesagt?", fragte Loki mit einem gewitzten Grinsen im Gesicht.

„Sie hat mir den Tod vorausgesagt", erklärte Edermann zerknirscht.

„Und Sie sind sich sicher, dass sie Sie nicht vergiftet hat?", fragte Loki und lachte.

Die beiden gingen durch eine schmuddelige Gegend und ein beißender Gestank von Fäkalien bohrte sich in Edermanns Nase.

„Glaube Sie an die Vorhersage?", fragte Loki plötzlich.

Edermann sah ihn verwundert an und der eben noch unreife, vorlaute Knabe erschien ihm nun vielfach reifer und erwachsener.

„Nun, ich lebe doch noch, nicht wahr?", antwortete er ausweichend.

„Recht so", sagte Loki und kratze sich das Kinn, an dem sich nun Bartstoppeln ihren Weg zu bahnen versuchten, „Der Mensch ist das einzige Wesen, das sein eigenes Schicksal bestimmt."

Wieder schwiegen sie eine Weile, bis der vorlaute Loki eine weitere Frage verlauten ließ: „Sagen Sie, sind sie gläubig?"

„Wieso willst du das wissen?", erwiderte Edermann und hielt sich verwirrt den Kopf. Lokis flotter Anzug wirkte plötzlich schwerfällig, und altmodisch. Er war schwarz und frisch aufgebügelt. Loki machte eine kurze, zuckende Bewegung mit dem Kopf in Richtung eines Hauseingangs.

Edermann blickte der Weisung nach und erkannte wie mehrere, schattenhafte Gestalten eine große Kiste aus einer Haustür heraustrugen.

„Mein Beileid!", sprach er, als sie die Trauergesellschaft passierten. Niemand antwortete ihm. Die Gesichter der Trauernden, waren von tiefem Schmerz und Verzweiflung gezeichnet. Ein seltsamer Choral drang aus dem Haus nach draußen:

„Am schwarzen Galgen, einarmig-lieber Geselle,

Tanzen, tanzen die Paladine

Die mageren Paladine der Hölle

Die Skelette der Saladine"*

Edermann schüttelte sich und beschleunigte seinen Schritt.

„Unheimliche Gegend bei Nacht", sagte er und er hörte wie er anfing zu nuscheln, als bekäme er seine Zähne nicht mehr auseinander.

„Keine Sorge, wir sind bald da", ermutigte ihn Loki und setzte ein fröhliches Gesicht auf, „Sehen Sie da vorne den Bettler? Gleich hinter der Ecke wartet meine Schwester."

Edermann sah den Bettler. Es war ein Invalide. Ohne Beine saß er auf einem kleinen Brettchen mit Rollen darunter.

„Ich bedanke mich, dass Sie mir in dem Wirtshaus aus der Patsche geholfen haben", sprach Loki, „Sie sind ein tugendhafter Mensch, nicht wahr?"

„Nun, na ja, ich weiß nicht", sagte Edermann. Der Gestank in diesem Viertel verursachte ihm starke Kopfschmerzen und es widerstrebet ihm, auf Lokis indiskrete Fragen zu antworten.

„Aber Sie würden diesem Mann dort vorne doch helfen, wenn Sie könnten nicht wahr?", fragte Loki.

Edermann schaute zu seinem Begleiter hinüber und bemerkte unter Schrecken, dass der eben noch feine Anzug des jungen Mannes zerfetzt, abgewetzt, alt und dreckig war.

„Aber natürlich. Nur, kann ich leider nicht!", antwortete Edermann.

„Geben Sie ihm etwas zu essen!", forderte Loki.

„Ich habe nichts bei mir", sagte Edermann und blickte Loki unverwandt an. Sein Gesicht hatte einen grausamen Zug angenommen. Dunkle Schatten hatten sich unter Lokis Augen gelegt und feurig rote Pupillen starrten ihn aus diesem Dunkel heraus an.

Edermann glaubte, diese Färbung der Augen sei auf eine Lichtreflektion zurück zu führen, doch er fand keine Lichtquelle in der Nähe.

Loki hatte die Augen einer Schlange. Erst jetzt fiel es ihm auf. „Führe mich nicht in Versuchung!", fiel Edermann ein.

„Komm schon! Das ist ein alter Hut!", lachte Loki, „Los! Mach schon! Meine Schwester wartet!"

Loki nahm Edermann bei der Hand. Sie gingen an dem Invaliden vorbei um die Ecke. Hier befand sich ein kleiner Platz. Vor einer Hauswand stand tatsächlich ein Mädchen und wartete.

Eine rote Laterne schien auf ihre blonden Haare.

Edermann beruhigte sich. Dies musste die Quelle der roten Augen gewesen sein.

Edermann wunderte sich, warum er stehen blieb. Er hatte vorgehabt, Loki lediglich bei seiner Schwester abzusetzen und dann zu verschwinden, dieses grässliche Viertel zu verlassen und dorthin zurückzukehren, wo es sich besser leben ließ.

Wieder überkam ihn die Atemnot und er schnappe erbärmlich nach Luft.

Sie war wunderschön. Lokis Schwester mochte eine Dirne sein, doch Edermann verspürte das heiße Drücken in seiner Brust, wie er es in seinem Leben erst zwei Mal verspürt hatte.

Das erste Mal war ein kleines Mädchen in München der Auslöser gewesen, beim zweiten Mal der höllische Kräutertrank der Zigeunerin vom Nachmittag.

Unwillkürlich trat er zu dem Mädchen hin und flüsterte ihr zu: „Ich kann dir helfen! Ich kann dich hier raus holen!"

„Du bist Schriftsteller, nicht wahr?", fragte das Mädchen leise und scheinbar verschüchtert.

„Ja", antwortet Edermann.

„Dann solltest du darauf achten, die Rollen nicht zu vertauschen.", hauchte sie ihm ins Ohr und küsste ihn sanft auf die Stirn.

Die Wirtin des Mietshausen fand Jürgen Edermann am nächsten Morgen, als sie ihm das Frühstück auf sein Zimmer bringen wollte, tot in seinem Bett. Das Fenster offen, den Ofen erloschen. Kalter Schweiß war auf seiner Stirn zu Eis gefroren.

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*Aus: „Der Ball der Gehängten" von Arthur Rimbaud

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