Das Talionsprinzip

Ein Fisch schwamm den Colorado-River hinauf. Er kämpfte gegen die Strömung, die Felsen und die gleißende Hitze an, die drohte, das Wasser des Flusses verdampfen zu lassen, beziehungsweise ihm seinen letzten Rest Sauerstoff zu entziehen.

Die meisten Fische ließen sich treiben oder drängten sich panisch flussabwärts, wo der Lauf ruhiger, breiter und wasserreicher war und wo es mehr Nahrung zu finden gab. Doch diese Fische besaßen auch keine glühend roten Augen und verfolgten kein größeres Ziel als eine schnelle und effektive Nahrungsaufnahme.

Flussaufwärts erwartete den unkonventionellen und eigensinnigen Fisch schließlich der Leckerbissen, für den er sich die Stromschnellen hinauf gekämpft hatte: Eine weiße Made auf einem blinkenden Metallhaken. Kein Fisch der Welt wäre darauf hereingefallen, doch dieser war nicht ganz bei Sinnen.

Der Moment, da der Haken seinen Gaumen durchbohrte, ließ das Glühen in seinen Augen erlöschen und er war wieder nur eine kleine, silberne Regenbogenforelle.

Jeremy hatte eine Gabe, über die viele Bewohner der kleinen Stadt, die Nase rümpften: Obwohl er bereits erwachsen, breitschultrig und kräftig war, konnte er sich ereifern wie ein kleines Kind. Er konnte sich von ganzem Herzen freuen oder vor Wut explodieren. Kleinigkeiten bedeuteten ihm sehr viel, während die großen Zusammenhänge ihm ewig rätselhaft erschienen.

Er trug seine Gefühle stets auf der Stirn geschrieben. Meistens lächelte er selig, was ihn vor allem bei den älteren Damen beliebt machte. War er jedoch zornig, so kam man ihm am besten nicht in die Quere, denn wen er zwischen die Fäuste bekam, verlor im besten Fall ein paar Zähne.

Im Augenblick, war Jeremy glücklich. Er strahlte über das ganze Gesicht, als er zurück in die Stadt rannte, einen toten Fisch an einer Angelschnur vorzeigend wie einen persönlichen Triumph über die Natur.

Er rannte nach Hause, wo er sich das wohlverdiente Lob von seiner Mutter abholen wollte, die immer geduldig mit ihm war und die einzige Person, die es schaffte, ihn zu beruhigen.

Sie hieß Elaine und war in der ganzen Stadt beliebt, da sie eine innerliche Ruhe ausstrahlte, die sich auf alle Gemüter in ihrer Nähe ausbreitete. Verheiratet war sie mit Paul Grimes, der bereits seit zwölf Jahren das Gesetz in der Gegend verkörperte.

Auch er war ein beliebter Mann, wenngleich er aufbrausender und verbitterte wirkte als seine Frau. Zu seinem Sohn hatte er kein allzu gutes Verhältnis. Er war einfach zu nervös, um sich länger mit dem tumben Jungen zu beschäftigen und so überließ er ihn seiner Frau, um ganz in seinem Amt als Sheriff des Countys aufzugehen.

Der Name der kleinen Siedlung am Oberlauf des Colorado-River lautete Grand Junction. Eine Straße und ein paar Holzhäuser waren genug, um von einer Stadt zu sprechen. Doch es gab neben dem Sheriff-Büro auch ein Hotel, einen Saloon, einen Gemischtwarenladen, ein Etablissement für besondere, persönliche Dienstleistungen und etwas, das eine Kirche darstellen sollte, jedoch eher aussah wie eine zu groß geratene Scheune.

All diese Einrichtungen rechtfertigten die Bezeichnung „Stadt", auch wenn diese Definition auf euphorischer Selbstblendung und purer Angabe basierte.

Jedenfalls gab es in Grand Junction mehr Schusswaffen als Einwohner und eines dieser, für das hiesige Verständnis von Freiheit symbolhaft gewordene, Prestigeobjekte lag nun auf dem Küchentisch von Elaine Grimes.

Paul hatte die Waffe dort platziert, um sie einer gründlichen Reinigung zu unterziehen. Dazu benötigte er allerlei Utensilien: Bürsten, Schmieröl und einen alten Lappen. Er fand diese Dinge in einer Truhe im ersten Stock des Hauses, die er als Nachttisch und Stauraum für Munition und allerlei Lederhalfter verwendete. Zu jeder seiner Waffen gehörte ein eigener.

Er griff fahrig nach einem Gewehr, das neben der Schlafzimmertür an die Wand lehnte und nahm es ebenfalls mit nach unten, um es zu säubern.

Als er die Treppen hinunter gestiegen kam, warf er nur einen gelangweilten Blick zu seiner Frau, die ihm den Rücken zu kehrte, weil sie damit beschäftigt war, Gemüse zu schneiden. Sie bemerkte ihn gar nicht, genauso wenig wie sie ihren Sohn bemerkte, der sich an den Tisch gesetzt hatte und mit einem Messer versuchte, den gefangenen Fisch auszuweiden.

Seine verkrampfte, bucklige Haltung, die Konzentration und innere Anspannung verriet, ärgerte den Vater ein wenig. Er mochte es nicht, wenn Jeremy so deutlich seine Debilität zur Schau stellte. Einen Fisch auszunehmen, kostete den Jungen alles, was er an geistiger Kapazität zu bieten hatte und am Ende blieb nie genug Fisch übrig, dass es sich lohnte ihn überhaupt in die Pfanne zu werfen. Die meisten Fische, die Jeremy fing, endeten als Katzenfutter.

Jeremys Kopf hing so tief über der Arbeit gebeugt, dass Paul die Augen seines Sohnes nicht erkennen konnte. Aber wenn er sie gesehen hätte, hätte er sich über die unnatürliche Farbe gewundert.

„Elaine, wieso überlässt du dem Jungen den Fisch. Was er da fabriziert, ist zu nichts mehr zu gebrauchen", sagte Paul und blieb in der Mitte der Küche stehen.

„Er hat ihn gefangen, also darf er ihn ausweiden, wie es ihm gefällt", erwiderte Elaine, ohne sich von ihrer Arbeit abzuwenden.

Paul rollte mit den Augen und wand sich direkt an seinen Sohn: „So, du hast genug Dreck verursacht. Der ganze Tisch ist klebrig. Nimm das Zeug und verschwinde, ich will das Gewehr putzen. Elaine, könntest du den Tisch abwischen?"

Jeremy stand auf, ließ jedoch die Überbleibsel des Fisches auf der Tischplatte liegen und richtete weiterhin seinen Blick auf nichts anderes.

Elaine ließ sich Zeit, ehe sie sich umdrehten, um dem Wunsch ihres Mannes nach einem sauberen Tisch zu entsprechen.

Jeremy jedoch handelte blitzschnell, viel schneller als seine Natur es üblicherweise für möglich erscheinen ließ. Sein stechender Blick, war das letzte, was Paul Grimes sah, ehe eine kalte Finsternis ihn umfing. Er fiel mit einem Röcheln zu Boden und schmeckte warmes, dickflüssiges Blut. Als müsste er sich versichern, dass der Schmerz der Wirklichkeit entsprach, griff er sich an die Kehle, in der ein schmieriges Ausweidemesser steckte.

Elaine hörte den erstickten Schrei ihres Mannes und wirbelte nun doch herum, ließ die Karotte fallen, die sie in der Hand hielt und krisch laut auf. Dann erst erinnerte sie sich an den Namen ihres Sohnes, der stocksteif neben dem blutverschmierten Körper seines Vaters stand: „Jeremy! Was...". Weiter kam sie nicht, denn sie musste sich übergeben.

Der Arzt Dr. Greene war schnell zur Stelle. Elaine Grimes war irgendwie zu ihm gerannt, hatte ihm irgendetwas erzählt, geweint, geschrien und da hatte er sich entschieden, der hysterischen Frau lieber zu folgen. Normalerweise kannte er Mrs. Grimes nicht als unkontrollierte, kreischende Sirene und ihr vollkommen aufgelöster Auftritt bereitete ihm Sorgen.

In Ermangelung eines Veterinärs übernahm Dr. Greene in Grand Junction nicht nur die Aufgaben eines Allgemeinmediziners, sondern sorgte auch für die gesundheitlichen Belange von Rindern und Pferden. Inzwischen machte dieser Aufgabenbereich beinahe die Hälfte seines Einkommens aus und zumeist war er im Pferdestall des Züchters und Pferdehändlers Thomas Meyer zu finden. So auch an diesem Tag, als Elaine zu ihm gestolpert kam. Er überließ die restliche Arbeit Julian, dem Stallburschen von Mr. Meyer, der wegen seiner Schweigsamkeit zu Greenes liebster Gesellschaft zählte.

Als er in der Küche von Mrs. Grimes ankam, bot sich ihm ein Bild des Schreckens:

Neben der blutigen Leiche des Sheriffs, für die er nichts mehr tun konnte, lag Jeremy. Ihm quoll weißer Schaum aus dem Mund und sein ganzer Körper hatte sich verkrampft.

Dr. Greene versuchte den Jungen anzusprechen, doch er konnte keine Reaktion feststellen. Er kniete sich neben ihn und blickte ihm ins Gesicht, zog ihm die Augenlider hinauf und blickte in zwei gespenstig weiße Augäpfel. Eine Iris war nicht zu erkennen. So etwas hatte Greene noch nie gesehen, zumal er sich sicher war, dass Jeremy braune Augen gehabt hatte.

„Solche Anfälle sind bei Menschen mit seinen Einschränkungen nicht selten", sagte Greene und versuchte damit Mrs. Grimes zu beruhigen.

„Paul hat ihn gebeten vom Tisch aufzustehen und wollte den Fisch wegwerfen, den Jeremy gefangen hat. Das hat ihn sicherlich aufgeregt. Aber er würde doch nicht seinen eigenen Vater ermorden!", heulte Elaine.

„Aber Sie haben ihn beobachtet, nicht wahr?"

Elaine schwieg.

Greene legte zwei Finger auf Jeremys Handgelenk und konzentrierte sich. Nach einer Weile richtete er sich auf und blickte Mrs. Grimes ernst in die dunklen Augen, die er bei ihrem Sohn vermisste: „Ich spüre keinen Puls.".

„Was soll das...", begann Elaine.

„Er ist tot.".

„Fühlen Sie noch mal!", kreischte die verzweifelte Mutter, „Holen Sie Ihre verdammte Arzttasche, oder haben sie da nur Pferdesalben drin?"

Doch der Arzt widmete sich nun Paul Grimes Leiche: „Ja. Er ist auch tot."

Das war nicht besonders einfühlsam, aber wer war in dieser Stadt schon einfühlsam?

„Aber...", rief Elaine und deutete auf ihren am Boden liegenden Sohn, „Aber er atmet noch!"

Sie sagte es nur, um Dr. Greene irgendwie einen Fehler nachzuweisen, doch sie wusste selbst, dass Jeremy schon nicht mehr geatmet hatte, als sie losgerannt war.

„Sie hätten ihn sowieso aufgehängt", flüsterte Greene und runzelte die Stirn als ihm an dem Jungen etwas auffiel, das er bisher nicht gesehen und bei dem schummrigen Licht in der Küche nur schwer zu erkennen war: „Seit wann hatte Jeremy graue Haare?", fragte er und kniete sich erneut neben die Leiche.

„Was?"

„Sehen Sie hier. Er hat graue Haare", sagte Greene und zeigte auf eine weiße Strähne im ansonsten dunklen Haar.

Elaine blieb stehen, wo sie war. Sie wagte es nicht ihrem toten Sohn oder ihrem toten Mann näher zu kommen, doch auch sie sah das weiße Haarbüschel, von dem sie geschworen hätte, dass es heute Vormittag noch nicht da gewesen war.

„Wen interessiert das schon?", rief sie und begann wieder zu weinen.

Dr. Greene entschloss sich, die verzweifelte Frau nicht auch noch auf die irislosen Augen anzusprechen und beschränkte sich darauf, ihr die Hand zu reichen.

Dr. Francis Greene lebte allein in einem kleinen Haus, unmittelbar neben dem großen Pferdestall von Thomas Meyer, für den er die meiste Zeit arbeitete. Er war kein geselliger Mensch und mochte die Arbeit an Pferden lieber als die an Menschen. Deshalb verbrachte er auch seine Abende lieber zu Hause als im Saloon. Eigentlich gehörte er nicht hier her. Er war nicht rüpelhaft, aber er war auch nicht besonders sensibel. Am liebsten hatte er gar nichts mit Menschen zu tun. Er wusste zwar, wie er mit dem menschlichen Körper umgehen musste, wie man aber eine Konversation führte, wie man sich generell korrekt verhielt, wusste er nicht.

Allein stand er vor dem Spiegel, der über der Kommode hing, auf der eine Waschschüssel stand. Es war nicht besonders hell in seinem Schlafzimmer. Lediglich eine kleine Petroleumlampe spendete ihr warmes, dösiges Licht.

Greene musste die Augen zusammenkneifen, um etwas in dem blinden Spiegel erkennen zu können. Irgendwie erschien ihm seine Umgebung unscharf. Seine Augen waren nicht schlecht. Er benötigte keine Brille, und auch sonst keine Hilfsmittel. Normalerweise. Ein seltsamer Rotschleier legte sich über das Spiegelbild, in das er hinein starrte.

Rot. Das Zimmer. Der Himmel vor dem Fenster. Die Augen.

Greene blinzelte und die Welt wurde wieder klar. Überanstrengung und Müdigkeit, dachte der Arzt. Es wurde Zeit, dass er ins Bett kam. Aber sein Spiegelbild ließ ihn nicht los. Etwas war anders. Etwas gefiel ihm nicht.

Erst am nächsten Morgen, als der neue Tag ein besseres Licht in das Zimmer warf, erkannte Greene, was ihn störte. Sein Haar war heller geworden. Es hatte dünne, weiße Strähnen bekommen. Ungewöhnlich. So schnell ergraute normalerweise menschliches Haar nicht.

Dann erinnerte sich Greene an seine Vision vom Vorabend, seine roten Augen und die verschwommene Welt.

„Es ist eine Krankheit", flüsterte er zu sich selbst.

Als Arzt ging Greene mit der Gewissheit einer tödlichen Krankheit rational um. Was hatte er auch zu befürchten? Er war nicht verheiratet und hatte keine Kinder. Die paar Pferde, die er betreute, konnten sich schnell an einen anderen Arzt gewöhnen. Es gab nur eine Sache, die er noch erledigen musste und die ihm auf dem Herzen lag.

Bei dem jungen Grimes war es sehr schnell gegangen. Noch am Vormittag hatte er ihn völlig gesund unten am Fluss getroffen und am Abend war er tot gewesen. Also rechnete auch Greene nicht damit, dass ihm noch mehr als ein paar Stunden blieben.

Er ging zur Kirche, wo der Priester jeden Morgen die Möglichkeit der Beichte bot. Greene achtete darauf, keinem Menschen zu nahe zu kommen, denn er wollte natürlich niemanden anstecken. Leider kam er aber nicht umhin, mit seinem geistlichen Beistand auf Tuchfühlung zu gehen.

Er glitt so unauffällig wie möglich in den Beichtstuhl und begann damit, seine vermeintlichen Sünden aufzuzählen. Der Priester hinter einem undurchsichtigen, hölzernen Gitter lauschte, ohne den Beichtenden zu unterbrechen. Das lange, bedeutungsvolle Schweigen, war die Spezialität des Priesters in Grand Junction. Er schwieg so lange, bis sein Gegenüber die peinliche Stille nicht mehr aushielt und alles preisgab, was es zu erzählen gab. Dafür erntete der Büßer dann einen verständnisvollen Blick und die Gewissheit, nach dem Aufsagen einiger auswendig gelernten Gebetszeilen wieder vollkommen sündenfrei zu sein.

Erleichtert und ohne, dass Greene sich krank oder schwach fühlte, verließ er den Beichtstuhl, um in einen jungen, gekrümmten Mann hineinzustolpern. Es war Julian, der Stallbursche. Er sprach kein Wort und starrte den Arzt nur an.

Greene erschrak, als erneut die Welt vor seinen Augen zu verschwimmen begann. Und schließlich wurde auch der Innenraum der Kirche von einem dämonischen, roten Licht erfüllt.

Julian wartete auf irgendetwas. Er erwartete etwas. Etwas war anders. Etwas passte nicht.

Und schließlich fiel Greene ein, was es war: Der Priester. Er wusste zu viel und das alles konnte er gegen Greene verwenden, wenn er doch nicht sterben sollte. Wer konnte sich schon sicher sein, ob so ein Priester auch dicht hielt?

Greene war dumm gewesen. Dümmer noch als der räudige Stalljunge.

Sterben? Krankheit? So ein Blödsinn!

Er hatte ihn noch nie gemocht, den Priester. Er war ein alter, scheinheiliger Bastard, der glaubte, jemandem ein schlechtes Gewissen einzureden, sei die höchste Pflicht eines Geistlichen. Ein verlogenes Schwein, das am Sonntag von Gerechtigkeit und Frieden predigte und danach das Geld der armen Witwen abpresste.

Julian sah Greene verständnisvoll an, sagte jedoch kein Wort. Der Junge war in Ordnung. Er ging nie in die Kirche und er sprach nie von Gerechtigkeit. Er war ein ehrliches Kerlchen. Ehrlich und hilfsbereit, denn er reichte dem Arzt sein über alles geliebtes Messer, dessen Holzgriff eine traditionelle Schnitzerei seines Volkes zeigte. Normalerweise wurden mit dem Messer die Hufe der Pferde gereinigt und es war nicht besonders scharf, aber wenn man genug Kraft hatte, kam es auf die Schärfe nicht an.

Greene nahm das Messer, riss die Tür zur Priesterkabine des Beichtstuhls auf und zerrte den Himmelskomiker heraus. Es war sehr leicht, den erschrockenen Schrei, dann das Flehen, dann das Angstgeheul zu überhören, denn Greenes Körper handelte so routiniert, wie nur ein abgebrühter Serienkiller ans Werk gegangen wäre. Spritzendes Blut, zappelndes Fleisch und dann Stille.

Als Greene wieder zu sich kam, stand er in einer Blutlache. Julian und das Messer waren verschwunden. Aber der klare Blick auf die Realität war zurückgekehrt.

Neben dem schocksteifen Arzt lag die verstümmelte Leiche des Priesters. Greene konnte sich erinnern, dass er ihn so zugerichtet hatte und dass es richtig gewesen war, es zu tun. Er erinnerte sich an jeden einzelnen Stich mit der Klinge in den weichen, menschlichen Körper. Ja, er war es gewesen und er fühlte keine Reue. Lediglich die Frage, warum er es getan hatte, blieb ihm schleierhaft. Es hatte einen Grund gegeben, einen plausiblen, triftigen Grund.

Greene hatte Recht behalten. Er starb bereits wenige Tage später, nachdem man ihm den Prozess gemacht hatte, am Galgen. Sein Haar war vollständig weiß geworden in den letzten Tagen, die er in einem kleinen Käfig im verwaisten Sheriffbüro verbracht hatte.

Doch erst als der Bestatter an Greenes Leiche keinerlei Augenfarbe mehr feststellen konnte, wurden sich die Bewohner von Grand Junction bewusste, dass etwas seltsames geschehen war.

Thomas Meyer, der als Pferdehändler so reich und einflussreich geworden war, dass er sich Angestellte und Gerechtigkeit leisten konnte, traf sich im Saloon mit William Steward, dem Richter, der am Vormittag den einzigen Arzt der Gegend an den Galgen gebracht hatte.

Die Frage, die seit dem grausigen Fund des toten Priesters über der unglücklichen Stadt hing, wurde erst nach dem zweiten Bier von Meyer ausgesprochen: „Wieso hat er das getan?".

„Das wusste er nicht einmal selbst", antwortete der Richter, „Aber er hat es getan. Das wusste er."

„Finden Sie es nicht seltsam, dass sowohl der Grimes-Junge als auch Greene schneeweißes Haar hatten, nachdem sie..."

„Ich bin kein Mediziner. Erwarten Sie keine Erklärung von mir. Und fangen Sie jetzt ja nicht mit den blinden Augen an!"

Steward war kein Mann großer Worte, auch mochte er den Pferdezüchter nicht sehr. Sein Interesse galt der größtmöglichen Gerechtigkeit in seiner Stadt und Meyer, der fette Schleimer, der mit seinem Geld längst alle Strippen in Grand Junction zog, schaffte es immer wieder diese Vorstellung von Gerechtigkeit durch etwas auszutauschen, das sich zwar gut in der Zeitung machte, mit der Wahrheit jedoch nichts zu tun hatte.

„Wissen Sie, an wen ich heute Morgen gedacht habe?", warf Meyer ein, neigte sich verschwörerisch zum Richter hinüber und flüsterte einen Namen, der auch dem Richter schon ins Gedächtnis geschossen war: „Pat"

Steward dachte häufig an den armen Teufel zurück und sagte nun: „Wieso haben Sie ausgerechnet an den gedacht?", obwohl er es natürlich genau wusste: Meyer hatte Angst.

„Glauben Sie nicht, dass es eine großangelegte... Aktion sein könnte? Denken Sie doch mal nach, einer von uns könnte der Nächste sein!"

„Sind Sie etwa abergläubig?", fragte der Richter knapp und rümpfte die Nase. Er war alt genug, um seine Abneigung deutlich zeigen zu können. Außerdem bestand sein ganzes Leben aus dem Fällen von Urteilen und diese Berufung hatte sich zu einer Angewohnheit entwickelt, die er auch nicht absteifen konnte, wenn er den Gerichtssaal verließ.

„Wieso nicht?", antwortete der Pferdezüchter, „Für mich hat diese Sache einen komischen Beigeschmack. Ein völlig harmloser Junge ermordet seinen Vater und stirbt danach selbst, wobei er aussieht wie ein verdammter Geist in Menschengestalt. Der Arzt, der seinen Tod festgestellt hat, tötet nur kurz darauf einen harmlosen Priester, weiß nicht wieso er es getan hat und verwandelt sich ebenfalls in ein Gespenst."

„Gespenst?", spie der Richter sarkastisch aus.

„Aber denken Sie doch mal nach: Der Sheriff, dann der Junge, dann der Priester."

„Es ehrt Sie, dass Sie nach zehn Jahren noch an den alten Pat denken, aber der ist tot. Es gibt keine Gespenster oder wandernde Seelen, die... Wie stellen Sie sich das vor? Seelen, die Rache nehmen?"

„Diese verdammten Rothäute sind zu allem fähig!", zischte Meyer und kniff die Augen zusammen, „Wir wissen beide, was damals passiert ist. Sagen Sie, wieso sprechen wir es nicht einfach aus?"

„Glauben Sie, das würde helfen? Glauben Sie, sie können sich damit Ihre Seele wieder rein reden?", fragte Steward, „Ich hätte damals nicht mitmachen sollen, aber Angst vor einer widergehenden Indianerseele... Das ist lächerlich!"

Meyer lehnte sich noch weiter nach vorne und flüsterte beinahe unhörbar: „Jetzt, wo die anderen tot sind, können wir es zugeben: Pat war unschuldig! Er war..."

„Er war ein verdammter Sündenbock!", rief Steward lauter als es nötig gewesen wäre.

Der Pferdezüchter zuckte zusammen: „Und sie alle haben es gewusst. Und jetzt sind nur noch wir übrig, die wissen, was passiert ist. Wir beide und..."

Der Richter grinste: „Und?"

„Der verdammte Stallbursche, wer sonst? Der ganze Clan, weiß es!"

„Julian? Der Junge ist harmloser als eine Stubenfliege", sagte der Richter bitter lächelnd. „Er macht doch seine Arbeit gut. Wie lange arbeitet er schon bei Ihnen?"

„Fünf Jahre", antwortete Meyer.

„Fünf Jahre, in denen er Sie gut eine Millionen Mal hätte umbringen können", meinte Steward.

„Oh, Julian wird mich nicht umbringen. Die Rothäute arbeiten subtiler. Ihre Flüche wirken oft erst nach Jahren. Und Pat war ein verfluchter Medizinmann, wussten Sie das?"

In der folgenden Nacht quälte sich William Steward durch einen roten Traum.

Er dachte an Pat, einen kleinen, drahtigen Mann, der sich irgendwie nach Grand Junction verirrt hatte und blieb, weil man ihm Arbeit und einen Schlafplatz anbot.

Für gewöhnlich machten sich die weißen Siedler einen Spaß daraus, den Rothäuten, mit denen Sie zu tun bekamen, neue Namen zu geben, doch Pat blieb einfach nur Pat. Es war einfach auszusprechen und als er sich vorstellte, wusste niemand, dass es nicht „Patrick" bedeutete, sondern die Bezeichnung für sein Totemtier war, dem Fisch.

Pat war ein ruhiger Arbeiter und war bald hier, bald dort beschäftigt. Mal bediente er im Saloon, mal räumte er am Abend den Gemischtwarenladen auf. Aber am besten machte er sich als Stallbursche. Mit Pferden konnte er umgehen. Wenn er in ihre Nähe kam, wurden die Tiere ruhig und zahm. Seitdem beschäftigte Meyer nur noch Indianer als Stallburschen, obwohl die Geschichte mit Pat ihn eines Besseres hätte belehren sollen.

William Steward sah ihn vor sich: Meyer, wie er auf die Straße gerannt kam und lauthals verkündete, sein bestes Pferd sei gestohlen worden. Er forderte sofortige Aufklärung, Strafe für den Dieb und sein Pferd zurück.

Das Pferd wurde schnell gefunden. Es lag tot im Fluss. Jemand hatte es erschossen. Wieder forderte Meyer das höchste Strafmaß für den Schuldigen und setzte gar eine Belohnung für die Ergreifung des Pferdediebes aus.

Aber auch der wurde schnell gefunden, denn die Kugel, die den Gaul getötet hatte, gehörte eindeutig zu einem Revolver von Paul Grimes.

Steward erinnerte sich genau an das konspirative Treffen, das Meyer daraufhin in seinem Haus abhielt. Er fürchtete tatsächlich um seinen Ruf, wenn er nun seine Drohungen nicht in die Tat umsetzte. Es musste jemand am Galgen landen, sonst glaubte er, sein Gesicht zu verlieren.

Und natürlich hatte Grimes etwas dagegen, seinen Sohn auszuliefern.

Ja, sogar William Steward hatte ein Problem damit, einen debilen Jungen zu verurteilen, obwohl das Gesetz eindeutig war.

Schließlich war es der Priester, der die rettende Idee hatte: Ein Ungläubiger musste her, jemand, um den niemand trauern würde und den jeder als Kriminellen anerkennen würde.

Steward fand sich wieder im Gerichtssaal und in der Sekunde, da er das Urteil über Pat sprach, wachte er erschrocken auf, um in ein paar glühende Augen in Mitten eines dunklen Gesichts zu blicken.

„Julian, das ist doch keine Lösung! Ich kann es erkl...", rief er und erschlaffte, als eine Kugel sich in seinen Schädel bohrte.

Julian versteckte sein Haar unter einem roten Tuch, das er sich wegen des Schmutzes im Stall um den Kopf gewickelt hatte. Er begann gerade damit, die Boxen der edlen Zuchtpferde auszumisten. Dafür hatte er die Tiere aus dem Stall gelassen und auf dem Platz davor angebunden. Sie waren unruhig heute Morgen.

Thomas Meyer kam für seinen allmorgendlichen Kontrollgang zum Stall und lächelte den Indianer betont freundlich an. Vom Tod des Richters hatte er zwar noch nichts erfahren, aber er misstraute den Rothäuten trotzdem.

„Na, wie läuft's?", fragte er vorsichtig.

„Sehr gut, Sir", antwortete Julian wie jeden Morgen, „Sehr gut."

Vor dem Stall gerieten die Pferde in immer größere Unruhe. Man hörte sie wiehern und trippeln.

„Was ist denn da los?", fragte der Pferdezüchter verwundert und trat nach draußen. Julian folgte ihm nicht.

„Meinst du, dass ein Unwetter kommt?", fragte Meyer, doch Julian antwortete nicht.

Meyer tätschelte einem seiner Pferde den Hals und in diesem Augenblick riss sich das Tier los. Die ganze Herde geriet in Panik und da die Seile, mit denen sie festgebunden waren, die Kraft eines panischen Pferdes nicht aushielten, liefen bald alle Tiere frei über den Platz.

„Julian!", rief Meyer, nun auch in Panik, doch da wurde er bereits mitgerissen, geriet unter die Hufe einer ganzen Herde wahnsinniger Pferde und schluckte so viel Sand, dass er das Blut kaum schmeckte, mit dem sich sein Mund füllte. Nach nur wenigen Minuten lag seine zerfetzte Leiche im Staub.

Die Pferde drückten sich zusammen in einem Pulk, als Julian hinaustrat, das weiße Haar nun offen tragend. Er nahm sich ein Pferd, schwang sich hinauf und trabte davon.

Als er Grand Junction verlassen hatte, flüsterte er wie zu sich selbst: „Du kannst jetzt gehen, Vater."

Niemand verfolgte den jungen Indianer, als er den Colorado-River hinab ritt und für immer aus dem Siedlungsgebiet der Weißen verschwand.

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