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hindsight

understanding of a situation or event only after it has happened or developed.

× × ×

„Warte mal... Du hast den Namen ausgesucht?"

Ich komme nicht einmal bis zur Treppe, ehe Olivia dieser Geistesblitz widerfährt. Das Fledermädchen hat sich anscheinend bereits an der Umgebung sattgesehen und läuft nun neben der Jamaikanerin her wie ein braver Hund. Die Kleine hat von unserer Diskussion gar nichts mitbekommen und blinzelt daher nur verwirrt zwischen Olivia und mir hin und her. Ich frage mich ja wirklich, wie alt sie tatsächlich ist, und warum sie nicht spricht. Stimmkapazität hat sie ja genügend übrig, wie wir wissen.

„Ich... Also... Was soll ich den machen, wenn der Trottel mir keinen Namen sagen will?", versuche ich mich etwas zu hektisch zu rechtfertigen. Olivias Brauen wandern schlagartig in die Höhe und ich seufze nur ergeben. Sie würde mir ja eh nicht glauben, wenn ich ihr sagen würde, dass ich dabei in keinster Weise diese grauenvolle uralte Geschichte im Hinterkopf hatte. Es würde ja auch gar nicht passen, da hätte ich viel bessere Storys auf Lager. Aber das alteingesessene Klischee der verfeindeten Vampire und Werwölfe, eine klassische Romeo-und-Julia-Szene von einem Liebespaar aus verfeindeten Nationen? Schrecklich.
Olivia setzt zu einem Kommentar zu meiner erbärmlichen Äußerungen an, doch Jacy, der mit etwas Abstand hinter uns her spaziert, kommt ihr zuvor.

„Ich hätte dir ein gesagt, hätte ich einen gehabt."

Diese vielen Möglichkeitsformen brauchen einen Moment, um von meinem Verstand verarbeitet zu werden. Olivia steht nicht unter medikamentösen Einfluss und ist somit ein wenig schneller bei der Sache. Wir kommen vor dem Stiegenabgang zum stehen und sie wendet sich zu dem Kater um.

„Was? Warum solltest du keinen Namen haben?"

„Keinen Namen. Nur Nummern."

Jacy zuckt mit den Schultern, als wäre es das normalste der Welt, nummeriert statt benannt zu werden. Langsam fasst auch mein Hirn die gegebene Information, und doch verstehe ich sie nicht. Wir müssen beide ziemlich perplex aussehen, denn er stoppt ebenfalls.

„Das ist übersichtlicher. Ich bin C12. Die Nummer hat nicht wirklich eine Bedeutung, was ich weiß. Ist nur eine Aufzählung."

Dahin ist meine angeheiterte Laune von vorher.

Eine Nummer. Das ist übersichtlicher.

Falsch. Das ist falsch, so falsch. Das ist ernster Science-Fiction-Shit hier. In der Zukunft, wenn es zu viele Menschen gibt und alle nur mehr eine Nummer im System sind, existieren um zu funktionieren – nach sowas klingt das. Aber auf diesem Level ist Welt doch noch lange nicht... oder?
Auch wenn Jacy das alles so locker raushaut, hat auch seine Körpersprache die plötzliche Offenheit verloren. Er ist nicht angespannt, und doch... liegt ein Unbehagen in seinem wippenden Stand, den verkreuzten Armen oder den zuckenden Ohren. Ich kann allerdings nicht sagen, ob er sich unwohl dabei fühlt, sich generell mit dem Thema auseinandersetzen, oder die Informationen mit uns zu teilen. Eigentlich sollte mich das ja nicht interessieren, aber... mir juckt es in den Fingern, es zu erfahren.

Den Grund für seine Nummer.
Den Grund für seine seltsamen Phobien und Trigger.
Für seine Art, sein Aussehen, sein Können; alles. Ich will das alles wissen.

Zum ersten Mal frage ich mich, was Jacy gerade denkt. Was ihm wohl gerade durch den Kopf gehen mag, was er fühlt. Ist ihm die Sache mit dem Namen rausgerutscht? Möchte er eigentlich gar nicht über all das reden? Oder brennt es ihm schon lange auf der Zunge?

Ich atme leise durch, um die aufgekommene Stille nicht schlagartig zu zerreißen. Obwohl der Gedanke an all das, was wohl hinter diesen Fragezeichen steckt, mir durchaus unheimlich und gar bedrohlich erscheint, hat eine Ruhe von mir Besitz ergriffen. Eine Ruhe, welche mir erlaubt, einen kurzen Schritt von meinen eigenen Gefühlen zurückzutreten und Jacy zu analysieren.

Ich kenne ihn nicht gut genug, um ihn einfach so einschätzen zu können. Doch bisher hat er jede noch so kleine Nettigkeit herzlichst entgegengenommen, also wird er es vermutlich jetzt auch nicht abschlagen.

„Ich darf fragen, wenn ich etwas nicht verstehe, oder?"

Jacy sieht mich nachdenklich an. Er ist nicht blöd. Manchmal naiv und unwissend, aber nicht blöd. Er wittert vermutlich, dass ich Blut geleckt habe, und nun will ich mehr Informationen. Und er tut das, woran ich zugegeben gar nicht mehr gedacht habe: Er dreht den Spieß um.

„Jeden Tage eine Frage, was?"

Ich muss ziemlich verdattert aussehen, denn selbst Olivia beginnt zu kichern. Ich muss wieder ein wenig grinsen. Dieses Necken ist doch ganz lustig. Und gesünder für den Blutdruck.

„Nagut." Jacy seufzt und lehnt sich mit einer Schulter gegen die Wand. „Dann machen wir eben eine große Fragerunde. Aber nicht hier, du hattest Recht. Vermutlich haben wir wirklich vorhin alle in der Stadt alarmiert."
Murrend kratzt er sich am Hinterkopf, obwohl er sich selbst schimpft.

Ich presse die Lippen zusammen. Irgendwie habe ich gerade schon erwartet, gleich jetzt ein paar Infos herauskitzeln zu können, doch auf ein erneutes Treffen mit Bello und Friends kann ich auch gut verzichten. Aber...

Wenn einer auftaucht, ziele auf die Rippen!"

Ich schwinge meinen Zeigefinger dramatisch hin und her, um für etwas Ausdruck zu sorgen, ehe ich mich dem Stiegenabgang zuwende.
Zwar erhellt das Licht im sonnendurchfluteten Korridor noch die erste Hälfte, doch wird es weiter unten sichtbar düsterer. Da brennt bestimmt kein Licht. Und die einzige transportable Lichtquelle, die uns zur Verfügung steht, ist eine Handy-Taschenlampe. Ein stockdunkles Krankenhaus mit kleinem Lichtkegel durchleuchten... Na, wenn das nicht genug Futter für ein Horrorszenario bietet. Und da weder ich noch Olivia große Fans von Gruselzeugs sind und dementsprechend mit jedem Schritt tiefer an Tempo verlieren, überholen uns die Mutationen einfach. Ich weiß mich darüber nicht zu beschweren, besonders da sie uns das Licht lassen.

Es ist still unten. Der Abstieg war anstrengender als erwartet – für mich zumindest – und raubte mir mehr Kraft als gut sein sollte. Mein eigener Atmen rauscht mir am lautesten in den Ohren, obwohl Olivia direkt neben mir steht. Die Dunkelheit scheint jeden Ton regelrecht aufzusaugen. Dass unsere pelzigen Kumpanen keinen Mucks machen, sobald sie sich mal darum bemühen, ist sowieso nichts Neues, allerdings haben wir jetzt schon den Sichtkontakt verloren und ein Ruf bleibt mir in der Kehle stecken. Gott, ist das unheimlich. Ich werde diese ganzen YouTuber nie verstehen, die freiwillig in verlassene Gebäude einsteigen, nur für ein paar Klicks. Vielleicht sollte ich mitfilmen, wenn wir schon mal hier sind. 
Eigentlich wäre das gar keine so blöde Idee, dämmert es mir.
Abgesehen davon, dass es vielleicht ein wenig von dem Stress der Situation ablenkt, kann es nur Vorteile bringen, Videomaterial mit Jacy und der Fledermaus parat zu haben. Praktisch als handfester Beweis, dass sie nicht so unmenschlich sind, wie es scheinen mag. Ob es klug wäre, etwas davon ins Internet zu stellen? Drehen die Menschen dann komplett durch und sprengen den Kontinent? Den Amerikanern würde ich das ja sogar zutrauen... und die Leute, die Jacy nummeriert und hierher gebracht haben, scheinen auch nicht die süßesten Zuckermäuler zu sein. Was die wohl tun, wenn sie merken, dass ihr Angriff schiefgegangen ist?
War es überhaupt eine Attacke?
War es ein Unfall?
Eine Intrige?
Ein fehlgeschlagenes Experiment?

Ein Quietschen lässt mich aufschrecken. Anscheinend war ich etwas zu tief in meine Gedanken gesunken, denn Olivia hat begonnen, mich manuell durch die Gänge zu steuern, während ich nur wie benebelt vorwärts stolpere und dabei das Handylicht so halbwegs geradeaus halte. Das plötzliche Geräusch kam von der Tür vor mir, welche Jacy vorsichtig einen Spalt geöffnet hat. Er presst sich flach an die Wand daneben und linst ins Innere des Raumes, als könne er tatsächlich etwas darin erkennen. Danach schwenkt sein Blick zu mir.

„Das ist doch der Raum, den du beschrieben hast, oder?"

Ich blinzle. Einmal. Zweimal.

„Ja, glaube schon."

Dieser plötzliche Sprung zurück in die Realität hat mich etwas überrumpelt.
Was war es denn jetzt nur? Angriff oder Unfall? So benebelt meine Gedanken davor gewesen sein mögen, gerade kreisen sie wie verrückt. So sehr, dass sich der Boden unter meinen Füßen wieder schief stellt und ich das Gefühl habe, das Gleichgewicht zu verlieren. Sind das nur die Medikamente? Oder werde ich einfach nur langsam aber sicher irre? Mein Kopf schmerzt, aber mein Körper fühlt sich taub an. Das ist irgendwie nicht gesund.
Aber keiner scheint es zu bemerken. Olivia schiebt mich einfach in den Raum hinein, ich schaffe es sogar ohne zu stolpern bis zu dem mittig im Raum stehenden Tisch, ehe ich mich auf eben diesen abstütze.

„Was jetzt? Ohne Strom kommen wir nicht weit, oder nicht?"

Vielleicht war es tatsächlich ein Unfall? Ein Experiment, das außer Kontrolle geraten ist? Seit wann hat Jacy seine Katzenohren? Haben sie normale Menschen mit Chemie vollaufen lassen oder wurde er bereits als Zellhaufen im Reagenzglas mutiert? Ich habe so viele Fragen.

„Ich habe der Kleinen gesagt, sie soll einen Stromschalter suchen, also geht hoffentlich bald das Licht an."

Ich will so viele rote Fäden ziehen, aber es gibt zu viele Lücken. Etwas ungeschickt drehe ich mich an der Tischkante entlang, sodass ich nun mit beiden Ellbogen auf der Platte lehne, das Metall drückt sich unangenehm in meinen unteren Rücken. Mein Mund klappt schon auf, tausend und eine Frage auf der Zunge, doch abermals blendet die Realität meine Gedanken, diesmal in Form einer Handytaschenlampe. 

„Ich will ja wirklich nicht gemein klingen, aber du schaust richtig beschissen aus, Mercy", beschallt Olivias besorgte Stimme mich. Irgendwann zwischen vorher und jetzt scheint sie mir das Handy aus der Hand genommen zu haben und hält es mir nun direkt ins Auge, was mir ein wenig die Tränen hochtreibt. 

„In so einem grellen direkten Licht kann man ja nur scheiße aussehen.“

„Du hast einfach zu viel von diesem Blödsinn intus, das schlägt dir bestimmt gerade total den Kreislauf zusammen!"

Ich schlage ihre tätschelnde Hand von meinen Wangen und schüttle den Kopf.
„Blödsinn. Ich brauche mehr davon, wenn ich nicht an einer Blutvergiftung verrecken soll." Olivia schnauft empört, als ein Schatten hinter sie wandert. Jacy schaut aus wie eine schlecht genähte Puppe aus einem Horrorhaus im Freizeitpark, so wie er da im Halbschatten steht, spärlich und nur von unten hinauf beleuchtet.

„Du brauchst nicht mehr, sondern etwas besseres. Und ausbrennen solltest du die Wunde vermutlich auch, wenn sie infiziert ist."

Das ist gar nicht toll, was er da so redet. Vor allem wie er es sagt, so ernst und streng. Das Wort ausbrennen gefällt mir auch nicht sonderlich, und das scheint er an meinem Gesichtsausdruck auch zu merken. Allerdings bekomme ich nur einen Blick geschenkt, der sagt: Du weißt genau, dass ich recht habe.
Meine Gedanken kreisen schon wieder, diesmal aber um mich selbst und mein sterbliches Dasein.

„Heeey...", meint Olivia sanft und legt ihre warmen Hände auf meine kalten, „du wirst schon nicht draufgehen. Wir flicken dich schon wieder zusammen, mit oder ohne Arzt – oder Tierarzt." 
Sie wirft einen hilfesuchenden Blick über die Schulter. Jacy zuckt mit den Schultern.
„Keine Ahnung, ihr Menschen kratzt so leicht ab, das geht dann alles so schnell." Auf die entsetzten Blicke hin setzt er jedoch schnell nach: „Aber ein wenig kenne ich mich aus, für den Kratzer wird es schon reichen."
Als dies keine allgemeine Erleichterung auslöst, seufzt er resigniert und kommt ein Stück näher.

„Zeig halt mal her, vielleicht ist es nur halb so schlimm wie du tust.“

Ich kann gar nicht so schnell reagieren, ehe Olivia mich an den Schultern packt und kurzerhand umdreht. Immerhin überlässt sie es mir, mein Shirt hochzuziehen.

Sehen tue ich die zwei nicht. Aber die plötzliche Stille wirkt alles andere als positiv überrascht. Ich höre ein angestrengtes Schlucken. Aus dem Augenwinkel sehe ich Olivia eine Grimasse schneiden.

„Naja, es ist..."

„Wer hat denn das gemacht?"

Jacy klingt ungläubig, wenn nicht gar ein wenig amüsiert von der Bizzarität des Anblickes. Ich meine Olivia ihren Ellbogen einsetzen zu sehen.

„Es ist nicht sooo..."

„Das kann jeder andere besser. War das die Bisamratte? Ist der nicht Arzt? Der hätte mit dem Fingerspitzengefühl lieber Fleischhacker werden sollen."

„Mercy hat sich ziemlich gewehrt..."

„Klebeband hätte einen besseren Job getan als das."

„Also, sie hat sich ja nicht geschont..."

„Das ist einfach nur schlecht gemacht. Kein Wunder, dass das Fleisch stinkt. Die halbe Wunde ist offen. Wahrscheinlich hast du deshalb keine Farbe mehr im Gesicht, du hast einfach kaum mehr Blut im Körper."

Diese brutale Ehrlichkeit trifft mich, aber nicht so, wie ich es erwartet hätte. Es ist nicht schön zu hören, und doch ist der Schmerz gut, erlösend, befreiend. Wenigstens weiß ich jetzt mit Gewissheit, dass es tatsächlich so scheiße ist, wie es sich anfühlt. 
Doch Jacy kommt jetzt erst richtig in Fahrt.
„Das machen wir neu. Und wenn du zappelst schlage ich dich K.O., das ist mir egal. Das ist absolut lächerlich. Ich dachte, da fault das Fleisch ab, aber nein, es trocknet nur schön an der Luft. So ein Blödsinn, deshalb sterbt ihr Menschen wie die Fliegen. Mit sowas herumrennen. Einfach nur dämlich."

Er meckert und schimpft und zieht über Sams Kreation her, dass es nur so eine Freude ist. Ich will ja gar nicht wissen, woher her sein fragwürdiges medizinisches Wissen hat, doch nach seiner Aussage könnte die Wunde so nie und nimmer heilen. Ich weiß nicht was Sam da hinten angestellt hat – oder was ich in der Zwischenzeit aufgerissen habe – doch wie es aussieht, jammere ich nicht grundlos still in mich hinein. 

Nach 3 Minuten Spotttirade wurde es eindeutig, wie schlecht Sam seinen Job gemacht hatte.

Nach 5 Minuten war es überdeutlich.

Doch als Jacy gar nicht mehr herunterzuholen war von seiner Schimpferei, wurde es langsam besorgniserregend. Olivia startet mehrere Versuche, ihm ins Wort zu fallen, doch vergebens. Wie ein Wasserfall bricht es auf uns herein, mit so viel Emotionen und Enthusiasmus, dass seine Stimme in alle Tonlagen hüpft. Von verärgertem Geknurre bis hin zum empörten Hicksern ist alles dabei. Und desto länger ich ihm zuhöre, desto mehr bekomme ich das Gefühl, dass er gar nicht nur auf Sam sauer ist, sondern auch ein wenig auf sich selbst. Die Floskel „hätte ich gewusst, dann..." fällt immer öfter, fast als würde er sich nun die Schuld geben, nicht nachgesehen zu haben. 

Sein Wortfluss endet so abrupt, dass ich geräuschvoll durchatme, so erstickt hat es mich. Der Gedanke daran, dass ich angeblich nebenbei langsam verblute, ist nicht sehr schön, aber immerhin scheint mein Fleisch sich noch nicht von den Rippen zu schälen. Zermürbend ist es trotzdem. Ich lasse meinen Kopf ins Genick zurückfallen und schließe für eine Sekunde die Augen.
Nur eine Sekunde Ruhe gönnt man mir, bis die nächste Welle folgt.

„Da sind Menschen."

Mein Kopf schießt wieder hoch, doch Jacy blickt starr auf den Boden. Nur seine Ohren spielen mal wieder verrückt.
Seiner Miene ist jeder Ärger gewichen, stattdessen scheint er... ängstlich?

"Da sind.. verdammt viele... Menschen. Direkt hinter der Tür."

Wie auf Absprache folgt ein Klopfen an der Tür.

Und keinen Augenblick später ein Schuss.

× × ×

Falls es jemanden aufgefallen ist: Es gibt kein Bild mehr am Anfang des Kapitels. Das ist so, weil ich das Kapitel theoretisch seit Wochen fertig habe, es aber ständig vor mich her schiebe, diesen Verdammten Edit für den Anfang zu machen. Und bevor das noch so weiter geht... Bleibt der jetzt erst Mal weg, und wird irgendwann später hinzugefügt. Ich bereuhe nichts.

× × ×

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