· 31 ·

🌱

· jaw-dropping ·

very surprising or shocking

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Wird man eigentlich tolerant gegen Adrenalin, wenn man es zu oft im Blut hat? So wie bei Drogen, wo die Dosis erhöht werden muss, um die gleiche Wirkung zu erzielen?
Ehrlich gesagt glaube ich, dass ich allmählich eine Allergie dagegen entwickle. Dieses ständige Herzrasen kann einfach nicht gesund sein. Und dass ich ständig hart am Boden lande, fördert den Heilungsprozess meiner Schulter sicher auch nicht wesentlich.

Schüsse fallen, Frauen schreien, Kinder weinen. Es wäre vermutlich situativ passender gewesen, wenn es sich dabei um ohrenbetäubend lauten  Lärm gehandelt hätte, doch die Stimmen der wenigen anwesenden Personen verlieren sich rasch in der Stille der Stadt, als wären sie vollkommen unbedeutend. Die Geräuschkulisse ist in meinen Ohren absurd verzogen und birgt einen abstrakten Rhythmus in sich, wie ein Musikstück ohne Dirigent, wo die Musikanten einfach das machen, was sie wollen. Es ist kein harmonisches Zusammenspiel, sondern handelt sich bloß um sich überlagernde Einzelstücke, welche nicht aufeinander abgestimmt wurden.
Eigentlich habe ich wenig Lust, mich sofort wieder zu erheben, nachdem ich eben noch die flachen Steinstufen unsanft hinuntergerollt war. Da Strolchi jedoch scheinbar keine Fußgelenke besitzt, die eventuell brechen könnten, und somit ganz entspannt von einem 3-stöckigen - verdammt nochmal 3-stöckigen! - Haus springt, sehe ich mich dann doch zu Taten genötigt. Es entkommt mir ein wehleidiger Stöhner, als ich mich den Umständen entsprechend schnell aufrichte und dürftig die Kieselsteine aus der Haut picke, welche sich dort schmerzhaft tief eingenistet haben. Meine Schulter schmerzt, dazu habe ich mir bei meinem Abgang noch irgendwo den Ellbogen angeschlagen und vermutlich auch die Hände aufgeschürft. Mit zusammengepressten Lippen pflücke ich einen spitzen Stein heraus, der sich in meine Handfläche gegraben hat und dort nun eine rote Kerbe hinterlässt, die jedoch zum Glück nicht blutet. Hätte Jacy mich nicht ins Gras werfen können? Mussten es unbedingt die Stufen sein?

Etwas spät sehe ich mich nach dem Kater um, der einige Meter von mir entfernt auf dem Boden kniet. Er scheint ähnliche Probleme wie ich zu haben, allerdings auf einem anderen Level - als er sich eine blutige Patrone aus der Hand pflückt, frage ich mich dann doch, bei wem von uns beiden etwas falsch läuft.

"Fiona, ins Auto! Sofort!", brüllt die Speckschwarte über den Lärm hinweg. Er feuert einige Male in Richtung des Hundes, der keinerlei Eile zu verspüren scheint und in aller Seelenruhe auf uns zuspaziert, als hätte er Spaß an unserem Schauspiel. Die Schüsse fängt er entweder mit seinen Stöckchen ab, dass das Holz nur so splittert, oder aber sie verfehlen ihn. Klar, es gibt ja auch nicht Leichteres, als ein Geschoss mit den Augen mitzuverfolgen, nicht?
Nur als ein Blumentopf nach ihm geworfen wird, springt er dann doch zur Seite. Ich muss mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Jacy das dazugehörige Katerpult ist - Wortspiel inklusive. Allein schon die Größe des Keramikbehälters macht es einem Normalsterblichen unmöglich, das Ding so hoch in die Luft zu befördern, geschweige denn treffsicher zu werfen.
Der Topf bricht geräuschvoll am Asphalt und umspühlt die Füße des Hundes mit braunen Scherben. Der Jäger scheint seine stoische Ruhe zu verlieren, ein tiefes Grollen dringt aus seiner Kehle und er fletscht sauer die Zähne, welche mehr bräunlich-rot als weiß sind. Zudem meine ich einige Fleischreste dazwischen stecken zu sehen - aber so genau will ich da gar nicht hinsehen. Bei all meiner Kritik gegen Jacys mangelnden Putztrieb, so hängt ihm immerhin keine halbe Mahlzeit im Maul.

Der Tätowierte - Leonard wurde er genannt, glaube ich - fährt erneut herum, um den Kater diesmal mit riesengroßen Telleraugen anzustarren, als würde jenem gerade Flügel wachsen. Vermutlich hätte ihn das sogar weniger gewundert, als dass die Mutation plötzlich gegen ihre eigene Spezies agiert. Ich kann nicht leugnen, dass mich dabei so etwas wie Genugtuung durchströmt, angenehm warm und süßlich, mit einer Brise Schadenfreude obendrauf. Am liebsten würde ich meinen Senf dazugegeben, aber das hätte vermutlich den Kuchen ruiniert.
Jacy indessen, während der Großteil von uns Menschengetier nur nutzlos herumsteht und dumm guckt, greift bereits zum nächsten Utensil - eine vom Regen gefüllte Gießkanne, wie mir scheint - und schleudert diese erneut ohne sichtlicher Anstrengung treffsicher gegen den Angreifer. Mir entkommt beinahe ein trockener Lacher, so irrwitzig ist es, als die Hundemutation mit bekrallter Hand das Flugobjekt abwehrt, dabei das spröde Plastik zerschneidet und der halbe Schwall an herausströmenden Wasser eine nasse Ohrfeige austeilt, die ihn gewaschen hat. Die Feuchte scheint der glühenden Wut jedoch keinen Dämpfer zu verleihen, ganz im Gegenteil; kann ich durchaus nachvollziehen. Ich würde mich auch nicht beruhigen, würde mir jemand in meiner aggressiven Phase einen Eimer Wasser überschütten.
"Willst du da stehen bleiben oder auch mal weglaufen?", reißt mich Jacys ironische Stimme aus meinen stillen Beobachtungen. Er steht schon wieder aus heiterem Himmel viel zu dicht hinter mir, weswegen ich erschrocken zusammenzucke und mich reflexartig wegdrehe, allerdings in die falsche Richtung. Meine wehe Schulter kollidiert mit der harten Dreckkruste über seinem noch härteren Körper und lässt mich schmerzhaft aufzischen. Eine Entschuldigung bekomme ich jedoch nicht. Stattdessen werde ich einfach zur Seite geschoben, ehe er Anlauf nimmt, auf das niedrige Sportauto sowie über den noch dämlicher dreinschauenden Leonard springt und sich anschließend auf den Hund stürzt, als wäre allein die erste Disziplin nicht schon beeindruckend gewesen. Aber gut, schon langsam sollte ich mich damit abfinden, dass diese Mutationen übermenschliche Kräfte besitzen. Akzeptieren will ich es trotzdem noch nicht so ganz. Jedes Mal aufs Neue verstörend...

"Mercy!"

Erneut werde ich aus meinen tiefsinnigen Gedanken geholt; diesmal ist Sam der Übeltäter. Seine Stimme ist schneidend und streng, so als dulde er keine Widerworte. Mit dem Ton haben es meine Lehrer auch immer versucht, bis sie irgendwann ihre kläglichen Versuche aufgaben, mich damit einschüchtern zu wollen. Aber er kennt mich ja auch erst seit vier Tagen - so manch studierte Pädagogen haben Jahre gebraucht.
"Kommt her, schnell!", befielt Sam beinahe schon aggressiv. Ich bewege mich keinen Centimeter - teils aus Verwirrung, teils aufgrund einer undefinierbaren Emotion, die sich nicht näher benennen lässt. Irgendwas zwischen Angst, Ärger und einen pubertären Unwillen, den ich bei so ziemlich jedem Befehl empfinde. Olivia dagegen folgt wie der Hund - vorbildlich, im Gegensatz zu manch anderen Kötern hier - seinem Herrn, obwohl sie nicht einmal dem bohrenden Blick des Studenten ausgesetzt ist, und tritt hinter mir geräuschvoll durch den Türrahmen. Sams Blick wandert für einen kurzen Moment zu der Jamaikanerin hinüber und wieder zurück zu mir, nur um sich dann plötzlich ruckartig wieder an die kleine Mollige zu heften. Anhand seines entsetzten Blicks, der ihm mit jeder Sekunde mehr zu entgleisen scheint, erwarte ich bereits eine unangenehme Szenerie, trotzdem bleibt mir beim Umdrehen das Herz stehen:
Sie trägt die Fledermaus im Arm.
Olivia trägt das Biest, wie ein riesiges Baby wippt sie es leicht, während die Mutation ihren Hals umklammert wie der Koala den Eukalyptusbaum. Mir wird anders bei dem Anblick der langen Klauen, welche unbewegt an der dunklen Haut anliegen, das Maul ist vom tonlosen Schluchzen leicht geöffnet und die kleinen Zähnchen blitzen hervor. Entweder ist Olivia dumm, dämlich oder vollkommen übergeschnappt, doch ich wage es nicht, meine Stimme zu erheben. Wenn sich das Ding erschrickt, ersticht es das Mädchen vielleicht noch unabsichtlich.

Frau Psychologin Fiona aber, welche keine solch scharfsinnige Kombinationsgabe besitzt, stößt einen spitzen Schrei aus, sobald sie die erste Schockstarre überwunden hat. Allesamt zucken wir zusammen, doch, wie ich feststellen darf, wurde Olivia glücklicherweise nicht die Kehle durchgeschnitten. Stattdessen fängt die Ratte wieder an zu weinen. Wie aus Reflex beginnt Olivia zu summen und wippt stärker, was angesichts der Tatsache, dass die Fledermaus deutlich größer ist als ein Säugling, recht eigenartig aussieht. Als würde man eine zu groß geratene Horrorpuppe schütteln. Das wütende Geschimpfe von Jacy im Hintergrund verleiht der Situation zusätzlich noch etwas Groteskes, wie in einem schlechten Film. War klar, dass das hier kein Blockbuster wird, aber einen Trashfilm will ich auch nicht unbedingt fabrizieren.

Ich atme tief durch.
Handeln, Mercy. Tu irgendwas Sinnvolles.

Hastig lasse ich meinen Blick über die Umgebung wandern und bleibe letztendlich wieder an dem erstarrten Studenten hängen. Das einzig wichtige Thema ist im Moment die Flucht; aber bestimmt nicht zusammen mit diesen Freaks, die zwar optisch wie Tag und Nacht, psychisch aber etwa auf dem gleichen Level zu sein scheinen: ganz, ganz tief unten.
"Sam", sage ich gefasster als erwartet, "gib mir deinen Autoschlüssel." Der Student reißt sich sichtlich schwer von dem Anblick der Mutations-Nanny los und schenkt mir einen verstörten Blick.
"Was? Aber du hast keinen Führersch..."
"Scheiß drauf, ich hab Mario Kart gespielt. Gib mir die Schlüssel!"
Irgendwas scheint Olivia in seinen Gehirngängen lahmgelegt zu haben, denn er antwortet nervenzerrend langsam. An seiner Stelle hätte ich Stress, so nahe, wie er an dem Katz-Hund-Gefecht steht. Würde man mir die Augen verbinden, könnte man meinen, es täten tatsächlich zwei Tiere streiten, so unmenschlich, wie die Kampfschreie klingen. Witzig eigentlich, wie hoch Jacys Gejaule ist, wenn man seine niedrigen Oktaven beim Sprechen bedenkt.

"Du... Deshalb... kann man kein Auto fahren. Die Kupplung und... Schaltung... Rechtsregel...", faselt Sam wie geistig verwirrt. Ich mache einen Schritt auf ihn zu, nicht ohne dabei das sich am Boden wälzende Fellknäuel keine 10 Meter entfernt im Auge zu behalten. Verkrampft strecke ich die Hand aus.
"Ich mache den L17. Hab schon 1200 Kilometer. Jetzt wirf!"
Und er wirft tatsächlich. Zwar schief und zu tief, sodass ich ihn beinahe nicht fange, aber er wirft.
Dann steigt er wortlos in den Mercedes ein, die Tür knallt, der Motor heult noch im selben Moment auf und der Wagen fährt an. Provokant langsam, und doch viel zu schnell verschwindet das Gefährt hinter der nächsten Kurve, aus meinem Blickfeld und meinen Gedanken. Und ich bin noch nicht einmal sauer auf Sam; zumindest nicht deshalb, dass er uns hier mehr oder weniger eiskalt und ohne ein Wort des Abschieds im Stich lässt, um seine eigene Haut zu retten. Aber für die Aktion vorhin wird er noch bitter bezahlen. Das schwöre ich mir.

Die ganze Szene dauerte bisher vielleicht gerade einmal drei, maximal vier Minuten an, und dennoch habe ich das Gefühl, seit Urzeiten schon hier zu stehen. Schwer schlucke ich, als ich das Auto aus der Ferne entsperre und das altbekannte Klicken der zurückschnappenden Riegel ertönt. Der Wagen steht direkt vor dem Grundstück geparkt, allerdings müsste ich mich dann den Kämpfenden nähern. Und dass Jacy anscheinend zunehmend Probleme damit hat, sich den Hund selbst vom Leib zu halten, der scheinbar all sein Herzblut in seine Angriffe legt, beruhigt mich nicht unbedingt.
"Olivia", gebe ich gepresst von mir, ohne mich umzuwenden, "ich werde jetzt die hintere Tür aufmachen, und du läufst mit der haarigen Zecke hinein. Pass auf die Krallen auf, dass du nicht stirbst. Ich klettere dann über den Beifahrersitz zum Lenker. Klar?"
Ohne eine Antwort abzuwarten laufe ich auch schon los und walte meines Amtes. Olivias Gang ist watschelnd und wankend vom zusätzlichen Gewicht, das hässliche Mäuslein umschlingt ihren Körper wie ein Äffchen und vergräbt das Gesicht in ihrer Halsbeuge. Die Fledermaus scheint sich ihrem mütterlichen Charme komplett ergeben zu haben und lässt sich im blinden Vertrauen verschleppen, wo auch immer man sie hinbringen möge. Diese Überlebenstaktik ist zwar aus logischer Sicht äußerst fragwürdig, aber sehr unkompliziert für uns, muss ich zugeben. Ich wusste schon vorher, dass Olivia dank ihrer reichlich bestückten Familie gut mit Kindern umgehen kann, aber das ist ein ganz neues Level...

Der Schrei, der plötzlich erklingt, ist tief, was mich aufgrund des vorherigen schrillen Lärms alarmiert. Meine Kehle wird trocken und ein bitterer Geschmack macht sich an meinem Gaumen breit, als ich mich zum Schlachtfeld wende.
Jacy liegt am Boden wie festgenagelt; ein Holzkeil steckt in seiner Schulter, und so, wie es aussieht, dringt er bis in den Asphalt durch. Er hat aufgehört zu fluchen, stattdessen gibt er nur mehr animalisches Knurren und Fauchen von sich, als wäre selbst er dem Blutrausch verfallen. Der Hund prügelt auf ihn ein, als würde er sich nicht mit Krallen und Zähnen wehren, gnadenlos, ohne Pause, Schlag auf Schlag. Nicht einmal überfahren kann ich den Köter; denn dafür müsste ich auch über den Kater drüber. In meinem Rücken höre ich Olivia erstickt nach Luft schnappen. Auch sie scheint zu realisieren, dass unser Bodyguard ziemlich nahe am Versagen steht, was sowohl ihm als auch uns zum Verhängnis werden würde. Kann er überhaupt sterben, mit all den versteckten Superkräften? Was, wenn der Köter ihm den Kopf abreißt, wie Jacy der Eule damals?
Eine Faust trifft ihn schräg an der Wange, sein Kopf fliegt zur Seite und ich erhasche einen Blick auf sein verkniffenes Gesicht. Einen Moment lang taucht das Kopfkino vor meinem inneren Auge auf, was wäre, wenn er ins alte Schema zurückfallen würde. Wenn er wieder verrückt würde. Wenn seine Pupillen wieder spitz wären wie die einer Schlange, dünn wie Papier, tödlich, wahnsinnig.
Meine Tagalbträume werden jedoch im nächsten Moment zunichte gemacht, als Jacy die Augen öffnet und mandelförmige Pupillen entblößt, gleich denen einer normalen Katze im Wutrausch.

Beidhändig umklammert er den Holzstiel und reißt ihn so brutal aus seiner eigenen Schulter, dass ich beinahe Aggressionen aufgrund dieser Herzlosigkeit bekomme. Dafür kassiert er jedoch sogleich weitere Attacken, die ihm letztendlich die neugewonnene Waffe aus dem Griff entreißt.
Ich kann Jacy bis hierher keuchen hören, kann seine Muskeln zittern und den Brustkorb beben sehen. Der Kerl ist am Ende. Wie damals, im Dorf. Muss ich ihn jetzt schon wieder retten? Kann ich ihn wieder retten? Was, wenn nicht? Warum muss ich immer vor diese stressigen Dilemmas gestellt werden?
Wie als würde der Hund spüren, dass er beobachtet wird, verharrt er für den Bruchteil einer Sekunde und sieht auf. Jacy nutzt diesen Moment nicht einmal; er starrt einfach zu dem Wolfshund hoch, der mächtig und stark wie eh und je über ihn steht, den leblosen Blick unverwandt auf mich gerichtet. Die unnatürlichen Augen halten mich fest, als übten sie schwarze Magie. Keine Emotion ist darin zu erkennen, keine Regung, kein Gedanke. Als wäre der Geist dahinter tot.

Dann holt er aus, den blutigen Keil in der Hand.
Und bricht in der nächsten Sekunde in sich zusammen.

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Verzeiht die lange Pause!
Schulstress und Schreibblockade ist keine gute Kombination, aber hoffentlich ist sowohl das eine als auch das andere bald überwunden.

Auf Wiederlesen,
Cookietoo

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