·25·

· repair ·

to put something that is damaged back into good condition

× × ×

Eigentlich sollte ich dankbar sein.
Eigentlich sollte ich ihm wirklich wirklich dankbar sein.
Ich sollte tief in seiner Schuld stehen, ihn für seine Taten ehren und schätzen, ihn möglicherweise sogar dafür entschädigen.

Meine Gegenfrage aber lautet: Wie, in Gottes Namen, kann man jemandem dankbar sein, der einem gerade flüssiges Feuer ins offene Fleisch schmiert?

"Du verdammter, verfluchter, verfi...", zische ich, wobei ich Olivia abermals direkt ins Gesicht spucke. Die kleine Jamaikanerin hat ihre liebe Not damit, meine Hände unten zu halten, doch im Grunde ist es sowieso meine grenzwertige Selbstbeherrschung, welche mich an Ort und Stelle hält. Würde ich mich tatsächlich mit aller Kraft sträuben, würde sie mich keine zehn Sekunden ruhig halten können - ich kann ziemlich wehrhaft werden, wenn es darauf ankommt.

Seufzend lehnt sich Sam zurück, das Metallbesteck in seinen Händen klappert dumpf gegen den Holztisch. Selbst aus dem Augenwinkel kann ich das riesige weiße Pflaster erkennen, welches seine gesamte rechte Wange bedeckt und den schlanken Gesichtszügen eine aufgeschwollene, pausbäckige Optik verleiht, wie ein Streifenhörnchen. Er wirkt müde - kein Wunder, immerhin ist es bereits halb Zwölf in der Nacht, und er muss immer noch arbeiten. Wäre ich nicht sein Patient, hätte ich glatt Mitleid.

"So wird das nichts. Du musst ruhig bleiben, wenn ich dich nähen soll", murmelt Sam undeutlich und lässt das Operationsbesteck in der behandschuhten Hand hin- und herrollen. Mir entweicht ein entnervtes Knurren, doch auf seinen erschlagenen Ton lassen sich schwer Aggressionen aufbauen. Ich kann mit einer Schlaftablette nicht streiten, das macht keinen Spaß.
Ergeben, wenn auch mit missmutiger Mine, lasse ich den Kopf zurück auf die Tischplatte sinken und beiße energisch die Zähne aufeinander, um mich nicht erneut unter der Berührung des kalten Metalls zu winden.

Nachdem wir es endlich aus dem Schlachtfeld geschafft hatten, kam Sam auf dem Weg zum Auto noch die grenzgeniale Idee, Medikamente und weiteres Zeug für die Wunden aus der Tierarztpraxis zu holen. Dass er mit weiterem Zeug Naht und Pinzette meinte, um uns buchstäblich zusammenzuflicken, hatte ich in diesem Moment nicht im Sinn.
Er schon.
Der Mistkerl wusste genau, was er tun wollte.
Und anscheinend wusste er auch, dass ich mich nicht betäuben lassen werde wie Kitty und Bello. Solch eine Überredungskunst hätte ich ihm nicht zugetraut - doch genauso wenig hätte ich gedacht, dass er tatsächlich wieder durch die leichengefüllte Klinik gehen wird. Beides hat mich verblüfft, und beides bereue ich nun, nicht verhindert zu haben.

Mein Schrei klingt erstickt, als sich ein weiterer scharfer Regen des Desinfektionssprays auf meinen Rücken trifft. Heißer Schmerz lodert über meinen Rücken wie Flammen und lässt das verletzte Gewebe gefühlsmäßig zu einem einzigen, toten Klumpen verschmelzen. Der einzige Vorteil lässt sich aus der darauffolgenden Taubheit der Nerven schlagen; da ist nichts außer die höllischen Echos des Schmerzes. Keinen einzigen Stich kann ich fühlen, als Sam beachtlich flink die Nadel hinter meinem Blickfeld verschwinden lässt, präzise und eilig wie ein Schneider. Olivia hat aufgehört, meine Handgelenke festzuhalten, stattdessen verdeckt sie nun ihre eigenen Augen, wie ein Kind, das etwas nicht wahrhaben will. Gott, sieht die Wunde denn wirklich so schrecklich aus? Angefühlt hat sie sich ja schlimm genug - gerade, dass die Muskulatur sich nicht von den Schulterblättern geschält hat. Allerdings würde ich auf meine Urteilskraft eher weniger vertrauen, denn mir tut im Moment alles weh. Für mich ist jede Bewegung eine einzige Qual, doch besonders abgebrüht war ohnehin noch nie.
Eine Memme bin ich aber auch nicht.
Es kann also nicht so ungefährlich sein, wie Sam es mir versucht hatte einzureden.

"So! Das war's. War das jetzt wirklich so schlimm?"

Sam wirft das Operationsbesteck mehr, als dass er es auf den Tisch legt, als könne er es keine Sekunde länger festhalten. Seufzend legt er den Kopf in den Nacken und zieht sich mit routinemäßiger Lockerheit die Handschuhe aus, wobei das Latex ekelig quietschend aneinanderreibt.
Ich atme tief durch, doch mir fehlt die Kraft zum Antworten. Die Naht spannt sich unangenehm und lässt mich nicht wagen, mich auch nur einen Centimeter zu rühren.

Olivia neben mir nimmt langsam die Hände von den Augen und begutachtet mit sichtbarer Scheu das Ergebnis.

"Das sieht... sauber aus", kommentiert sie nüchtern. Kurz schweift ihr Blick zu mir, ein sorgenvolles Fragezeichen gräbt sich in ihre Stirnfalte. Ich gebe ein undeutliches Murren von mir, was so etwas wie ein Passt schon werden sollte. Immerhin lebe ich noch, da darf man doch wohl etwas mehr Optimismus erwarten.

"Jetzt tu nicht so sterbend, so tief war das nicht. Jetzt schluckst du noch eine Handvoll Antibiotika und Schmerzmittel, und morgen wirst du schon wieder alle munter beleidigen können."

Ich kann Sams Gesicht nicht sehen, da ich meine Augen im stillen Leid geschlossen habe, doch die selbstgefällige Mine wittere ich selbst durch den scharfen Geruch von Desinfektionsmittel hindurch.
Ich lasse diesen Seitenhieb vorerst auf mich beruhen und starte stattdessen den müden Versuch, mich aufzusetzen. Wäre ich nicht sofort von beiden Seiten gehalten worden, hätte das widerliche Stechen mich vermutlich wieder in die Bauchlage gezwungen, doch so finde ich mich wenig später in einer aufrechten Position wieder.
Knurrend verziehe ich das Gesicht und presse den Fetzen, der früher einmal mein Hemd gewesen war, an meinen nackten Oberkörper. Da es ohnehin blutgetränkt war, haben wir es einfach hinten durchgeschnitten, der triefende BH flog sofort in den Müll. Mich jetzt jedoch schon umzuziehen, traue ich mich noch nicht - alleine das Arme-Hochheben wird zur Hölle werden. Der Schmerz ist nun aber immerhin nicht mehr ganz so stark wie zuvor. Das Sitzen dürfte die betroffenen Muskelgruppen lockern oder zumindest entlasten.
"Friss das", meint Sam wenig freundlich und hält mir zwei unterschiedliche Tabletten vor die Nase. Normalerweise hasse ich es, Chemie zu schlucken, doch diesmal tue ich es ohne Widersprüche. Ein bitterer Nachgeschmack setzt sich in meine Kehle fest und ich schmatze angeekelt, was mir nur wieder ein genervtes Augenverdrehen des Studenten einbringt. Erwartungsvoll blinzle ich ihn über den Rand des Wasserglases hinweg an, der daraufhin nur die Augenbrauen zusammenzieht.

"Was? Das dauert, sieh mich nicht so an."
Ich starre weiter.
Sam seufzt daraufhin nur übertrieben und zupft sich umständlich das pinke Gummiband aus den Locken, mit welchem er die wilde Mähne während der Pseudo-Operation notgedrungen gebändigt hat. Jedoch breitet sie sich in ihrer neu gewonnen Freiheit nicht über seine Schultern aus, sondern löst sich nur mäßig aus der steifen Position. Eigentlich wundert mich das nicht; sein Haar ist ungewaschen und glänzt wie pures Fett im gelblichen Licht der Glühbirne. Würde ihn eine Mutation mit Haut und Haar fressen, hätte allein sein Kopf bestimmt so viele Kalorien wie ein ganzes McDonald's-Menü.
Vielleicht gedenkt er ja, sich hier noch zu waschen, ehe wir weiterziehen; die Hausbesitzer haben ganz bestimmt nichts dagegen. Die sind nämlich, wie die meisten anderen Menschen, nicht mehr da.

Vielleicht ist es seltsam zu sagen, in fremde Häuser einzusteigen und sich dort schamlos einzunisten sei erschreckend schnell zur gewöhnlichen Routine geworden. Doch keiner von uns zögerte auch nur eine Sekunde, als wir das offene Garagentor sahen; offensichtlich waren die Besitzer eiligst mit dem Auto geflohen. Wo sie nun geblieben sind, will ich eigentlich gar nicht so genau wissen.

Kopfschütteld verscheuche ich diese ausschweifenden Gedanken und versuche, mich stattdessen wieder auf das Aktuelle zu konzentrieren. Sam reibt sich müde die Augen, dann blickt er auf die viel zu laut tickende Wanduhr. Fünf vor Zwölf.
Der Wille zum Schlaf zeichnet sich nur allzu deutlich in den Gesichtern eines jeden von uns ab, doch auch etwas anderes schwebt greifbar in der Luft: Angst. Angst vor dem, was kommen könnte, wenn wir alle gleichzeitig wegdösen. Die Mutationen sind sicherlich nicht so freundlich und warten, bis wir unsere verdienten 8 Stunden Schlaf bekommen haben. Ob es wohl etwas bringen würde, ein 'Bitte nicht stören'-Schild von einem Hotel vor die Tür zu hängen? Oder sind sie trotzdem so rücksichtslos wie die Putzfrauen?

"Ich bin für Schere-Stein-Papier", sagt Sam da plötzlich. Sowohl ich, als auch Olivia werfen ihm einen fragenden Blick dazu. Er verdreht die Augen, als liege es doch auf der Hand.
"Die Nachtwache. Irgendwer muss doch wach bleiben, oder?"

Eigentlich hat er recht - eine wechselnde Nachtwache wäre eine faire Variante des Selbstschutzes. Aber ich will schlafen, verdammt; mir ist scheißegal, was fair ist und was nicht, mir geht es dreckig und ich will meine verdiente Ruhe.

"Ich bin am schwersten verletzt. Ich bin raus", wende ich deshalb sofort ein und mache Anstand, aufzustehen. Olivia nickt verständnisvoll, doch Sam ist das natürlich nicht ganz so recht und regt sich sofort auf.
"Einen Dreck bist du! Wir alle sind müde", keift er mich erbost an. Bockig verschränke ich die Arme vor der Brust, auch wenn ich ihm insgeheim recht gebe. Es ist egoistisch von mir, die unangenehme Arbeit einfach abzuschieben, doch manchmal ist etwas Selbstsorge einfach nötig.
Der Student schnaubt wütend und ahmt meine Körperhaltung nach.

"Du hattest heute Nachmittag schon deinen Schlaf!"

Shit, da hat er recht.

"Ich war ohnmächtig!"

"Das ist das gleiche!"

Nun bin ich es, die schnaubt wie ein Stier. Zum Glück bin ich nicht verschnupft, die Geste könnte sonst fatal nach hinten losgehen.

"Ich hab mich geopfert!"

"Keiner hat dich darum gebeten!"

"Ach ja? Nächstes Mal stell du dich doch der Mutation, wenn das so einfach ist. Macht ur Spaß", gebe ich sarkastisch von mir und funkel den Tierarzt herausfordernd an. Die weiße Flagge, die wir heute Nachmittag kurzzeitig gehisst hatten, fängt allmählich wieder Feuer. Der beißende Geruch von angebrannten Nerven füllt den Raum und provoziert mein Ego.
"Wer hat dich denn gerettet, hm? Wegen dir schaue ich jetzt so aus!", schimpft er, dabei wird seine Stimme unkontrolliert laut und schnellt in die Höhe, dass sie schom fast weiblich klingt. Energisch zeigt er auf seine weiße Hamsterbacke, wobei er sich beinahe selbst ins Auge piekst. Verächtlich rümpfe ich die Nase.
"Ein Viertel weniger Augenkrebs, immerhin."

Das war wohl der Punkt, an dem Sam die Sicherungen durchbrannten - im Nachhinein gesehen, hat er sich wacker gehalten.
Sein sichtbares Gesicht verfärbt sich puterrot und eine bläuliche Ader an der Schläfe kommt schüchtern zum Vorschein. Seine Hände zittern, als er die Finger an die Tischecke klammert, als wäre sie der einzige Rückhalt, sich nicht auf mich zu stürzen. Das würde er sich doch eh nie im Leben trauen... oder?

"Ich hätte STERBEN KÖNNEN, verdammt! Ich hab mein wertvolles Leben für deine MICKRIGE WENIGKEIT riskiert!"

Er spuckt ein wenig, während er brüllt. Auch wenn die mordlustige Ratte mich innerlich zusammenzucken lässt und meinen Fluchtinstinkt anfacht, recke ich doch gegen aller Vernunft das Kinn in die Höhe und zische:
"Und jetzt haben wir dich immer noch am Hals. Knapp daneben, auch vorbei."

"Leute...", piepst Olivia tonlos, die Augen tellergroß vor Schreck, als hätte sie gerade einen Geist gesehen. Keiner schenkt ihr Beachtung.

"Ich hätte einfach laufen sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte! Das Vieh wäre sicher noch lange genug mit dir beschäftigt gewesen, da hätte mich nichts und niemand mehr gefunden", wirft Sam zurück, seine verkrampften Kiefermuskeln zucken.

"Ach ja? Deine Specklocken riecht man doch schon von Weitem! Vielleicht wärest du ja zum Fastfood-Ersatz geworden."

Kurz scheint er den Faden zu verlieren und tastet irritiert nach seinem fettigen Haar. Doch er fängt sich relativ schnell wieder und schlägt aufgebracht auf den Tisch, sodass ich die Vibrationen durch mein Hinterteil schwingen spüren kann.

"Leute...?", kommt es wieder von Olivia, diesmal etwas fester und fordernder. Wieder bekommt sie keine Aufmerksamkeit.

"Du bist widerlich, Mercy! Zuerst hattest du ja noch den Kater an der Angel, weiß Gott wieso, doch jetzt hast du nichts mehr! Du bist genauso am Arsch wie alle anderen, versteht das dein Erbsenhirn nicht?"

"Du könntest wenigstens so tun, als würdest du es schätzen, dass ich dich damals gerettet habe!"

"Du?! Also wenn schon, dann war es die Katze!"

"Und trotzdem hast du ihn erfolgreich verjagt. Wer hat hier jetzt das Erbsenhirn?"

"Du bist einfach..."

"LEUTE!"

Olivias Stimme hat eine gewisse Schärfe angenommen, Wut schwingt darin mit und lässt mich hellhörig werden. Sie erinnert mich ein wenig an eine Mutter, die ihre Kinder rügt; die Fäuste hat sie in die breite Hüfte gestemmt, der Blick ist streng und warnend. Auch wenn sie gut einen Kopf kleiner ist als ich - den Vergleich zu Sam will ich erst gar nicht erst erwähnen - so wirkt sie plötzlich doch überlegen und einschüchternd. Da spricht das Mischlingskind aus ihr; das jamaikanische Charisma bricht eben nur zeitweise aus ihrer lieblich-naiven Seite hervor.
Auch Sam guckt ziemlich doof, als das Zwergenmädchen die Stimme erhebt.

Wortlos hebt sie die Hand, und ich folge ihrem ausgestreckten Finger bis hin zum Türrahmen.
Und dort lehnt, entspannt und lässig... Jacy.

Grinsend.

Mit einer Cabrisonne in der Hand.

"Schickes Pflaster, Bisamratte", schnurrt der Kater und bleckt seine spitzen Zähne, der dünne Strohhalm der billigen Getränks steckt zwischen den scharfen Beißerchen wie ein Zahnstocher. Er wirkt nicht einmal annäherungsweise schuldbewusst oder reuevoll, als hätte er uns mit seinem plötzlichen Verschwinden nicht beinahe umgebracht. Dabei weiß er genau, dass wir ohne ihm Frischfleisch sind, da bin ich mir sicher.
Das bringt letztendlich mein Fass zum Überlaufen.

Und so tue ich spontan das Erste, was mir in den Sinn kommt.

× × ×

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top