·24·
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· willpower ·
the ability to control your own thoughs and the way in which you behave
× × ×
"Ich kann das."
Die Worte klingen überraschend bestimmt und sicher, als sie meinen Mund verlassen - das genaue Gegenteil meiner aktuellen Gemütsverfassung.
Einen Scheiß kann ich.
Das ist die traurige Wahrheit. Aber ich habe solch eine Begegnung schon einmal überlebt; ich kann es zumindest versuchen, das ganze nochmal zu machen. Im schlimmsten Fall sterbe ich eben, wen juckt das schon?
... das war Sarkasmus, bevor sich jemand beschwert. Mich juckt es, logischerweise.
"Ich kann das", wiederhole ich, mehr für mich selbst als für die anderen. Olivias Augen waren vor Schock ganz groß geworden, als sie das lange Messer in meiner Hand entdeckt hatte. Die Waffe pendelt etwas in meinem zittrigen Griff, doch damals war es nicht anders - Jacys gezielte Erdolchung muss ein wahrer Glückstreffer gewesen sein. Hoffentlich spielt mein versoffener Schutzengel noch einmal mit, ansonsten könnte das Ganze etwas haarig werden.
Als ich nun einen zögernden Schritt auf die Tür zumache, entfährt der Jamaikanerin ein leises Quietschen und sie streckt halbherzig die kurzen Arme nach mir aus, ohne mich auch nur annähernd zu erreichen. Nur gute zwei Meter trennen uns voneinander, doch in diesem Moment fühlt dieser knappe Abstand sich so schrecklich weit an - im Gegensatz zur halb geschlossenen Tür, welche mit derselben Distanz viel zu nahe scheint.
"Bist du dumm?!", schluchzt Olivia entsetzt, ihre Stimme ist dünn wie ein Schmetterlingsflügel und jagt mir einen eisigen Schauer über den schwitzenden Rücken. Ihre Verzweiflung dagegen brennt sich in meine Seele ein und legt sich um meine Kehle wie ein feiner, glühender Draht.
Darum bemüht, ihre Angst nicht auf mich abfärben zu lassen, schreite ich jedoch weiter stur auf das Unbekannte zu - hinaus aus der scheinheiligen Sicherheit, direkt durch das Höllentor, hinein in die Verdammnis.
Der schmerzhaft hohe Ton wird nun langsam wieder leiser, jedoch kann es ebenso gut sein, dass die Tonfrequenz einfach außerhalb meines Hörbereiches gelangt. Den Biestern traue ich alles zu, auch den Stimmumfang einer Hundepfeife. Nur der Sinn dahinter bleibt fragwürdig.
Gerne hätte ich jetzt einen Regenschirm bei der Hand, um dem Déjà-vu noch einen letzten Feinschliff zu verpassen, doch zum Suchen bleibt jetzt keine Zeit. Viel zu viel davon ist schon verstrichen - eigentlich sollte das Ding schon längsten angegriffen haben. Ja, worauf wartet diese Mutation denn nun? Lauern sie alle so elend lange, bis die Opfer sich vor Angst beinahe selbst umbringen oder einen Herzinfarkt erleiden? Gehört das zu einer Art Ritual oder Show? Langsam ähnelt diese Hetzjagd beinahe einem Katz-und-Maus-Spiel; der Jäger spielt mit seiner Beute. Meine Existenz ist gerade auf das Level eines verdammten Nagetieres gesunken.
Aber Jerry hat Tom immer in den Arsch getreten, nicht umgekehrt.
Ich atme tief durch.
Mein Magen fühlt sich heiß an, als würde darin kochendes Wasser brodeln wie Magma in einem erwachenden Vulkan, Adrenalin ersetzt mein Blut und pumpt zäh durch jede Ader meines Körpers. Noch nie war ich der Gefahr entgegengetreten wie jetzt, und dieser bewusste Blick ins Auge des Todes lässt neue Emotionen in mir aufkeimen; Panik, Wut, Reue.
Und Angst.
Scheiße, und wie ich Angst habe - aber dennoch bin ich entschlossen.
Wäre doch gelacht, wenn Jacy das einzige wäre, das uns die ganze Zeit über am Leben erhalten hat! Bestimmt war es gemütlicher mit ihm, das will ich nicht bestreiten, doch er kann doch nicht der einzige Grund gewesen sein. Ich habe den Hund, sowie ihn überlebt, also werde ich dieses verdammte Vieh auch überstehen. Was auch immer es sein mag; denn der Flur ist leer.
Es hat mich wirklich alle Überwindung gekostet, aus der Küche zu treten. Doch anstatt mich endlich der Gefahr zu stellen, werde ich von einem mutationslosen Gang begrüßt, sowie absoluter Stille. Das Geräusch ist verschwunden, zusammen mit all meinem Mut und Kämpferwillen. Mein Herzschlag scheint einen Moment lang inne zu halten, als würde auch er meinen Körper verlassen wollen, doch dann stolpert das überforderte Ding zum Glück weiter und entlockt mir ein leises, beinahe tonloses Seufzen.
Ich bewege mich nicht, sondern verharre absolut still in meiner Position. Das Messer halte ich eng an mich gepresst, ansonsten hätten meine Hände bestimmt gezittert wie Espenlaub.
Etwas war hier, ganz sicher; wie, zur Hölle, hat es sich nun unsichbar gemacht? Hat es sich versteckt? Hier gibt es kaum Möbel, wo es dies hätte tun können. Warum auch? Wir stellen keine Bedrohung dar, wir sind die Beute. Das stinkt doch zum...
Moment mal.
Ich unterdrücke den Drang, schwer zu schlucken. Dieses Haus mag enge Räume haben; aber die Decke liegt erstaunlich hoch. Wenn dieses Ding...
Etwas tropft auf meine nackte Schulter und rinnt zäh über meinen Arm, als hätte Hollywood diese Szene genauestens ausgelotet. Heiß und klebrig brennt die Flüssigkeit sich in meine Haut, wie Salz auf einer nässenden Wunde.
Ich zucke heftig zusammen, doch im selben Moment weiß ich, dass dies ein Fehler gewesen ist. Ein außerordentlich schwerer sogar.
Der Schmerz kommt so plötzlich, dass das warme Blut zuerst meine Sinne erreicht. Die warme Flüssigkeit wird teils von dem dunklen Stoff meines Tops aufgesogen, teils bahnt es sich seinen Weg über meine Schulter und läuft als dünnes Rinnsal bis zu meinen Fingern.
Es war wie ein innerer Instinkt, der mich dazu veranlasste, mich genau in jenem Moment zusammenzukrümmen. Die Klauen der Mutation rutschen seitlich ab und ziehen ihre schmale Spur über meine Schulter, doch dann trifft das Ding auf Leere und fällt nach vorne - oder, um es genauer zu formulieren, nach unten.
Mit beiden Händen umklammere ich das Heft des Messers, als könnte es mir jeden Moment aus dem Griff entfliehen, und steche noch während der Drehung nach dem Angreifer. Brennender Schmerz schießt durch sämtliche Muskelgruppen meines Rückens, doch im Stress scheint dies als Nebensächlichkeit vollkommen abzutauchen und im Nebel des Adrenalins zu verblassen. Zwar verfehle ich mein Ziel um Meilen und zerschneide jediglich wertvolle Luft zum Atmen, doch immerhin erlange ich so endlich einmal einen Blick auf die Mutation.
Wie Spiderman steht das Biest kopfüber an der Decke, das verunstaltete Gesicht der außerordentlich kleinen Gestalt schwebt etwa einen halben Meter über mir. Zahlreiche dicke Narben zieren das Antlitz, sowie sämtliche sichtbare Hautstellen, ziehen sich wie blasse Würmer unter der schmutzig-braunen Haut und vernetzen sich zu einem groben Muster. Das ist die erste Mutation, welche Restbestände von Wunden trägt, wie mir unnötigerweise auffällt; Jacy hätte ebenso schon samtliche Körperregionen trotz Fell sichtbar vernarbt haben müssen, so oft, wie er sich allein in den vergangenen Tagen mit seinen Kollegen angelegt hat. Jedes Mal war sein Pelz zerrissen und blutverschmiert gewesen; und jedes Mal aufs Neue war er am nächsten Tag verheilt und ohne sichtbare Anzeichen einer Verletzung durch die Weltgeschichte spaziert. Dass die Mutationen eine Art übernatürlichen Heilungsprozess haben müssen, ist mir bereits in den Sinn gekommen, aber wie das biologisch gesehen nur möglich ist...
Ach, was solls. Ich bin ja kein Wissenschaftler. Zurück zum aktuellen Problem.
Geschätzt hat die hässliche Mutation gerade einmal die Größe eines 10-jährigen Kindes, jedoch sind die Arme proportional zum Körper außerordentlich lang; so lang, dass sie mir selbst aus dieser Distanz problemlos über den Rücken kratzen konnten. Ledrige Haut spannt sich von den überlangen Fingern bis zur Hüfte wie ein festgewachsener Umhang, jedoch ist sie zerrissen und löchrig wie ein mottenzerfressenes Kleidungsstück und ist weder nett anzusehen, noch schaut sie sehr praktisch aus.
Außer dass Slenderman-Junior scheinbar der Schwerkraft trotzen kann, hat das Ding jedoch wenig Ähnlichkeit mit dem Marvelhelden im roten Anzug; ab da kommt DC ins Spiel, mit Batman.
Das Ding ist eine verkackte Fledermaus.
Ohren, so groß wie zwei Teller, spitze Zähnchen, welche sich eng aneinanderreihen wie die Zacken einer Säge, und dazu noch verhältnismäßig winzige Augen, die sich optisch kaum von jenen knöpfernen eines Stofftieres unterscheiden. Das Gesicht ist flach und mündet in einem spitzen Kinn, die Wangen stechen viel zu kantig hervor und werden von einer fahlen Haut überspannt.
Gegen diese Ausgeburt der Nacht ist das Reptil ja beinahe ein Deckblatt der neusten Modezeitschrift wert; so ein hässliches Lebewesen sieht man wirklich nicht alle Tage, und dass es mich noch dazu umbringen will, macht es nicht gerade attraktiver.
Die Mutation stößt einen spitzen, hallenden Schrei aus, welcher mir erneut einen hellen Tinitus bereitet. Sie wirft den Kopf hin und her, die Ohren zucken hektisch in alle Richtungen wie Satelliten, die ein Signal empfangen. Bloß einen Augenaufschlag später springt das Vieh von der Decke, dreht den Leib elegant wie eine Katze und kommt auf allen Vieren am Boden zum Sitzen. Nun, da ich das Wesen direkt vor mir habe, wird seine spärliche Größe erst recht verdeutlicht, doch dies beruhigt mich leider kein bisschen.
Dann macht es einen blitzschnellen Satz nach vor, direkt auf mich zu - und verfehlt mich.
Die Wand ist leider auch keine sehr angenehme Option, auch wenn ich sie einer Umarmung mit einer mordlustigen Mutation eindeutig vorziehe.
Vollkommen überrumpelt gebe ich dem plötzlichen Druck in meiner Seite sofort nach und stolpere frontal gegen die harte Fassade, das Messer rutscht mir aus der Hand und kommt klirrend am Boden auf. Der stumpfe Ton der klimpernden Metalls auf Parkett bereitet mir eine ekelerregende Gänsehaut; dies ist meist der Moment in Actionfilmen, in dem ein geliebter Charakter stirbt. Irgendjemand muss bei solch dramatischen Szenen doch immer draufgehen, und wenn ich die Wahl hätte...
Olivia schreit.
Ich habe sie noch nie wirklich aus vollem Halse schreien hören, doch nun wird mir klar, dass das jamaikanische Gen eindeutig viel Potential für eine kraftvolle Lunge in sich bergen muss. Die unglaublich laute Stimme hallt von überall her, schlimmer noch als der entsetzliche Ton der Mutation, welcher mir immernoch als helles Klingeln im Gehörgang sitzt. Reflexartig lege ich meine Hände über die Ohren, als ein zweites Geräusch ertönt: Der Klang von brechendem Glas.
Mein Kopf schießt herum, gerade um mitansehen zu können, wie das dunkelhäutige Mädchen eine zweite Glasflasche auf den Boden aufschlägt. Winzige Scherben stoben auf dem ebenen Parkett auseinander wie kleine Tiere, die das Weite suchen, ehe sie nach kurzer Zeit zur Ruhe kommen. Doch da fliegt schon wieder das nächste Glas; und das nächste. Und das Nächste...
Mein Blick fällt und landet auf die behaarte Gestalt, welche ein wenig orientierungslos den Kopf dreht, die Ohren ständig in Bewegung. Wie ein kleines Kind trohnt es rittlings auf der Brust von keinem anderen als Sam, welcher ausgestreckt am Rücken liegt, die Arme schützend vor dem Gesicht erhoben, sodass ich dieses nicht sehen kann. Nasses Blut klebt an seinen Händen, doch auf den ersten Blick kann ich keinerlei Verletzungen an ihm erkennen.
Meine Sinne sind zu langsam, zu betäubt, um mit dem Tempo der Geschehnissen mithalten zu können.
Sam traut sich tatsächlich, die Mutation vom sich zu stoßen, worauf die kleine Fledermaus wie schlaftrunken gegen die Wand kippt und dort für einen Herzschlag still liegen bleibt. Die Ohren ruhen dabei keine Sekunde lang still, das Maul ist wie zu einem stummen Schrei weit aufgerissen, doch kein Ton verlässt das kleine, bezahnte Mundwerk. Sam schafft es kaum den halben Weg hoch, da fängt sich die Mutation jedoch wieder und springt übermenschlich flink auf die Beine - welche im Übrigen im Gegensatz zu den Armen ungewöhnlich kurz und dünn aussehen, fast so, als habe man die Proportionen falsch aufgeteilt. Sam gibt einen sterbenden Laut von sich, der wie eine Mischung aus Niesen und Schreien klingt, doch die Aufmerksamkeit des Raubtieres gilt nicht mehr dem Studenten; sondern Olivia.
Jener waren inzwischen die Stimme versagt, sowie der Vorrat an Glasflaschen ausgegangen, sodass sie nun atemlos keuchend inmitten einem Meer aus gebrochenen Glas am Türrahmen lehnt und starr der sich rasch nähendernden Gefahr entgegenblickt, ohne auch nur einen Finger zu rühren. Die Totenstarre scheint mir in diesem Fall jedoch keine angebrachte Überlebenstaktik, wo sie doch sogar noch aufrecht steht.
Leicht schräg läuft die Mutation auf das erstarrte Mädchen zu, die Löffel zucken und der Mund bewegt sich ohne Ton. Mein eigenes schweres Schlucken klingt unheilvoll laut in meinen Ohren, das dumpfe Surren meines überstrapazierten Trommelfells hallt als leiser Hintergrundton durch mein Unterbewusstsein.
Alles scheint sich in Sekundenschnelle zu bewegen, jedes Detail zieht rasend schnell an meinen Sinnen vorbei; nur die dunklen Knopfaugen der Mutation bleiben stumpf und ausdruckslos, als starrten sie in unendliche Leere...
Die Erkenntnis schlägt in mein Bewusstsein ein wie eine Bombe.
Ein seltsames Geräusch verlässt meinen Mund; ein Schrei. Ein spitzer, hoher, lauter Schrei, welcher selbst mich dazu veranlasst, die Ohren mit den Handflächen zu bedecken und den Kopf zu senken, als könnte ich mich so vor den unangenehmen Frequenzen schützen, die das Produkt meiner selbst sind.
Ich kann mich nicht erinnern, je solch einen Laut von mir gegeben zu haben, kann nicht einmal behaupten gewusst zu haben, zu so etwas fähig zu sein. Ich habe keine sehr hohe Stimme, meine Oktaven befinden sich nicht in der Liga der Nachtkönigin. Es muss die Panik sein, die sie in die Höhe treiben und ungeahnte Ausmaßen annehmen lässt - blanke, nervenzerreißende Panik.
Ich, Mercedes Parca, schreie gerade wie ein kleines Mädchen. Das ist ein einmaliges Ereignis der Weltgeschichte; so hoffe ich jedenfalls.
Ich weiß nicht, was genau ich erwartet oder erhofft habe, doch im Grunde tut das nichts zur Sache. Alles, was zählt, ist der Fakt, das das Vieh tatsächlich inne hält.
Das gesamte Geschehen dauerte vielleicht fünf, maximal sechs Sekunden, doch mir kommt es vor wie ein halbes Leben.
Fledermaus. Fledermäuse sehen nichts; sie hören nur, orten ihre Beute durch den Schall, den sie ausstoßen. Natürlich erreiche ich nicht die Frequenz, mit dem diese Tiere arbeiten, doch mein Umfang genügt augenscheinlich, um das Tier zu verwirren und kurzzeitig die Orientierung zu nehmen. Vielleicht ist es auch gar nicht kleinwüchsig, sondern schlicht und ergreifend jung und unerfahren - und ich scheue mich definitiv nicht, das nun schamlos auszunutzen.
Erneut kommt Bewegung in die Mutation, doch diesmal bin ich vorbereitet. Ich reiße den Bilderrahmen dermaßen aggressiv von der Wand, sodass der Nagel ruckartig aus dem Verputz gezogen wird und in einem hohen Bogen seinen Weg zum blutbesudelten Boden findet. Das Glas bricht nicht annähernd so laut wie Olivias Glasflaschen, als ich die Fotografie eines 2-jährigen Kindes hinterherschleudere, doch immerhin liegt der Fokus nun nicht mehr auf der jamaikanischen Salzsäule. Dafür nun wieder auf mir; aber ich habe einen Plan.
Naja, so ungefähr zumindest. Details gehören noch ausgefeilt und die Wirkung überdacht, Wahrscheinlichkeiten berechnet... aber ich brauche keinen Taschenrechner, um zu wissen, dass diese Überlegungen zu viel Zeit beanspruchen würden. Ob die Mutation wohl warten würde, würde ich so höflich darum bitten?
Ich bezweifle es.
Mein Blick gleitet von der besagten Kreatur zu Olivia, dann zu Boden. Das Messer ist zu weit entfernt, eindeutig. Als Alternative hätte ich nur weitere Bilderrahmen, kleine wie große, welche sich zu meiner Rechten häufen, sowohl an der Wand hängend als auch in kleiner Form auf einer niedrigen Kommode stehend. Notgedrungen greife ich nach dem mit Schokolade verschmierten Gesicht eines blonden Kleinkindes - hier mussten ältere Leute gewohnt haben, keine andere Bevölkerungsgruppe hat so viele hässliche Kinderfotos in ihrer Wohnung stehen - und will schon zum Wurf ausholen, als ich einen Blick hinter die Kommode erhasche.
Ein... Gehstock?
Ich sollte Psychologe werden, meine Interpretationsfähigkeit übertrifft gerade meine Selbsteinschätzung.
Das glatt geschliffene Holz ist vielleicht nicht die beste Waffe, doch es tut seinen nötigen Dienst. In einer Geschwindigkeit, die ich mir selbst nie zugetraut hätte, fische ich die Gehhilfe aus der Halterung, schwinge sie im nächsten Moment wie einen Baseballschläger über meinen Kopf und lasse sie mit all meiner geringen Kraft auf das kleine Vieh herniedersausen.
Die Fledermaus fängt den Schlag ab.
Natürlich fängt sie ihn ab; ich bin nicht annähernd so schnell wie eine Mutation. Oder stark. Oder überhaupt dazu fähig, zu kämpfen.
Doch so schnell die Reflexe der fliegenden Ratte auch sein mögen, Multitaskingfähig ist sie anscheinend nicht.
Als Sam sich gegen sie wirft und ihr ohne mit der Wimper zu zucken gezielt das lange Messer zwischen die Rippen rammt, als beinhalte sein Studium diese Disziplin, gibt sie nicht einmal mehr ein Quietschen von sich; sie bricht einfach zusammen.
Wie eine Puppe.
Eine kleine, leblose, hässliche Puppe.
Die Hände des Studenten sind blutig und zittern, als er neben der haarigen Gestalt auf die Knie geht. Seine Schultern heben und senken sich schwer, sein Haar hängt ihm ins Gesicht, einzelne Strähnen kleben zusammen oder bleiben an seiner Wange haften. An seiner rechten Wange; denn dort klafft eine centimeterlange, tiefe Wunde.
Die Schnitte an meiner Schulter beginnen im abklingenden Adrenalinspiegel zu schmerzen und zu brennen, doch angesichts der optisch viel schrecklicher wirkenden Verletzung des Studenten wage ich es nicht, auch nur einen Ton des Leids von mir zu geben. Auch mein Atem geht schwer, meine Glieder brennen und fühlen sich gleichzeitig taub an, als wären sie bereits abgestorben. Meine Knie zittern und mein Herzschlag stolpert, doch irgendwie schaffe ich es trotzdem, gerade stehen zu bleiben.
"Aorta descendens", sagt Sam in einer sachlichen Stimmlage, als würde dies alles Geschehene erklären. So, als wäre es keine große Sache, ein Lebewesen brutal zu erstechen. So, als wäre sein halbes Gesicht nicht gerade aufgeschnitten worden wie Leberwurst. Als würde kein Wasserfall aus Blut über sein Kinn fließen und einen dunklen, stetig wachsenden Fleck auf seinem Hemd fabrizieren.
Am Zombieball würde er sich gut machen damit, wahrhaftig.
Schweigen umhüllt das Trio, nur Sams lauter Atem ist zu hören. Ich traue meiner Stimme nicht, und trotzdem wage ich es, sie zu erheben:
"Wir sollten... abhauen. Jetzt."
Die Worte sind leise und rau, aber verständlich.
Keiner stimmt mir zu.
Keiner sagt etwas dagegen.
Keiner rührt sich.
Erst nach einer weiteren langen, stillen Unendlichkeit nickt Sam langsam. Mit dem Handrücken wischt er sich über das Gesicht, um das übermäßige Blut wegzuwischen, ohne die Wunde zu berühren - doch so genau will ich gar nicht hinsehen. Er scheint wenig auf den bestimmt vorhandenen Schmerz zu reagieren, als Kümmere es ihn gar nicht; nur seine Blässe verrät ihn. Diese, und sein sich nicht beruhigen wollender Atem.
"Dann flicken wir uns halt wieder zusammen", murmelt er undeutlich, doch ich verstehe ihn trotzdem. Und irgendwie denkt eine kleine, philosophisch angehauchte Seite von mir dabei nicht nur an die physischen Schäden des Kampfes.
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