·23·

😾

· vulnerable ·

able to be easily physically, emotionally or mentally hurt, influenced or attaced

× × ×

Der Untergrund, auf welchem ich schließlich zu mir komme, ist erstaunlich gemütlich und weich und lässt mich erst einmal einige Minuten still daliegen, bevor ich mich überhaupt dazu überwinden kann, die klebrigen Lider blinzelnd zu öffnen.
Ich habe weder Kopfweh, noch ist mir übel, doch wohl fühle ich mich trotzdem nicht in meiner Haut. Am liebsten hätte ich mir die Decke, welche sich straff um meine Beine gewickelt hatte, einfach über den Kopf gezogen und noch eine Runde geschlafen, in der Hoffnung, unter besseren Umständen wieder zu erwachen.
Die kratzende Trockenheit in der Kehle und ein flaues Hungergefühl im Magen sind schließlich die beiden dominanten Faktoren, welche mich dann doch zur Tat überreden.

Beinahe schon provokativ friedlich fallen warme Sonnenstrahlen durch die halb zugezogenen, blaugrauen Gardinen und zeichnen weiche Schattenmuster auf den farblich dazu passenden Teppichboden des Zimmers. Würden jetzt noch ein paar Vögelchen fröhlich ein Lied zwitschern und die Luft milde nach Kaffee duften - oder stinken, in meinem Fall, denn ich hasse Kaffee - hätte man nach dem festgefahrenen Klischee die perfekte Aufwachszene im Kasten.
Leider ist jedoch weder das eine, noch das andere der Fall. Viel eher ist der mir vollkommen unbekannten Raum gehüllt in erdrückende Stille, welche sich zäh wie Teig in meinen Kopf drängt und dort alle Triebwerke verlangsamt, sodass ich zwei Atemzüge brauche, um den roten Faden des Geschehens wiederzufinden.

Etwas zu hastig kicke ich die dünne Leinendecke von den Füßen und schwinge die Beine aus dem fremden Bett. Mein müder Kreislauf benötigt da leider etwas länger, weswegen ich erst einmal einige Herzschläge auf der Bettkante verweilen muss, bis der Schwindel sich gelegt hat und ich aufstehen kann.
Mein Haar hat sich während meines Schlafs ganz entgegen seines Fallscheitels auf die andere Seite gelegt und prangt nun gefühlsmäßig wie ein wildes Vogelnest auf meinem Haupt. Meine Haut fühlt sich hart und faltig an, wie sprödes Leder, welches zu lange in einer bestimmten Position gelegen hatte und nun zwanghaft gerade gebogen wird.
Die Turnschuhe wurden mir ausgezogen, doch des weiteren trage ich die selbe Kleidung wie schon davor - schwarz in schwarz, eng anliegend und vor allem: frei von Blut. Ich kann mich nicht daran erinnern, irgendwo eine trockene Stelle auf dem getränkten Boden gesehen zu haben, doch allen Anschein nach habe ich es doch irgendwie geschafft, nicht in einer der vielen Pfützen zu landen. Ansonsten wäre ich nun nicht so trocken und sauber.

Erstaunlich sicher sind meine Schritte, als ich über den weichen Faserteppich schreite, zielgerade auf die einzige Tür im Raum zu. Ebenso sind meine Gedanken ruhig, frei von Angst oder Sorge.
Vielleicht wäre es angebrachter, nach einer plötzlichen Ohnmacht und dem abrupten Szenenwechsel in ein fremdes Haus ein wenig panisch zu reagieren, doch dies kümmert mich tatsächlich außerordentlich wenig. Eigentlich sollte ich nach einem Fall auf harte Fliesen ja auch zumindest Kopfschmerzen haben, doch diese bleiben ebenso aus.
Wirklich, so gesehen könnte ich nicht in besserer Form sein - sieht man von Durst und Hunger einmal ab.

Das unbekannte Haus ist nicht sehr groß, weswegen ich mich schnell zurechtfinde. Der Flur, in welchen ich gelange, grenzt nur an drei weitere Räume, von welchen einer ein offener Vorraum ist, der direkt gegenüber von meinem Ausgangspunkt liegt. Die mir näher liegende Tür ist in den Raum hinein weit geöffnet und gibt den Blick auf ein spärlich eingerichtetes Wohnzimmer frei, welches gleich einmal eines meiner drei Zielobjekte beinhaltet.

"Sam?", frage ich vorsichtig in die Stille hinein, als ich leise über die Schwelle trete, ärgere mich sogleich aber über die Raue und Dünne meiner Stimme. Seit wann bin ich denn bitte so zurückhaltend? Das ist ja fast schon peinlich.
"Sam, hey!"
Mein Ton gewinnt an Schärfe und Lautstärke. Entsprechend laut stampfe ich auch auf die lange Gestalt zu, welche sich auf der viel zu kurze Couch zusammengerollt hat, das Gesicht zur Lehne gewandt. Die wilden Locken haben sich in alle Richtungen verteilt und kringeln sich ungezähmt über nackte Schultern - der Freak liegt schon wieder halb nackt herum. Na, den will ich sehen, wenn er in Boxershorts vor einer Mutation flüchten muss.

Der bleiche Knochensack murrt etwas Unverständliches, ehe er sich umwendet und schlaftrunken mit den Händen über die Augen reibt. Ein rötlicher Abdruck ziert seine rechte Gesichtshälfte, wo er auf dem zerknitterten Stoff des Sofas gelegen hatte. Seine Mine gleicht drei Jahren Regenwetter mit Schneesturm und Hagel, weswegen ich annehme, dass irgendetwas vorgefallen sein muss.
Leider bleibt mir keine Zeit, nach der Ursache zu fragen, denn da ertönen dumpfe Schritte aus dem Flur und im nächsten Moment springt mir etwas Kleines, Pummeliges in den Rücken. Ein freudiges Quietschen ertönt, als dunkelhäutige Arme sich um meinen Unterbauch schlingen und zudrücken.

"Mercy! Sag, wie geht dir? Gott, hatte ich Angst um dich. Du bist einfach umgekippt! Tut dir etwas weh? Willst du Aspirin? Ist dir schlecht?", redet Olivia wild darauf los. Halbherzig winde ich mich aus ihrer festen Umarmung, nur um dann noch einmal von vorne umschlungen zu werden. Zuerst mache ich Anstalt, auch hier freizukommen, doch die zitternden Schultern des Klammeräffchens halten mich dann doch davon ab. Es scheint so, als gilt diese übereifrige Zuneigung gar nicht wirklich meinem Wohl, sondern eher ihrer eigenen psychischen Besänftigung. Auch sie wirkt aufgebracht; irgendetwas muss passiert sein, und ich habe eine vage Ahnung, was es sein könnte.
Seufzend tätschel ich ihr den Rücken, drehe ich den Kopf dabei aber Sam zu.
Der freiberufliche Stripper hat sich nun wenigstens eine Hose übergestreift, an wessen Bund er gerade herumfummelt. Auf mein Räuspern hin sieht er zu mir auf.

"Wo ist..."

"Keine Ahnung", unterbricht er mich sofort und schnappt sich knurrend sein Shirt, als hätte ich ihn gerade beleidigt. Fragend ziehe ich die Brauen zusammen, doch erst als ich die Frage nach dem Verpassten frei in dem Raum stelle, erbarmt sich auch jemand meiner Unwissenheit.

"Es war Wahnsinn! Du hättest es sehen müssen, Mercy. Also, du konntest es nicht, weil du ja bewusstlos wurdest, aber... Naja. Jedenfalls, so schnell war noch nie irgendetwas, was ich kenne, und dann ist Samson so gemein geworden ich war verzweifelt, und dann..."

"Wow-wow-wow", mache ich und löse mich dann schließlich doch aus Olivias Griff. Das übereifrige Geplapper ergibt nur bedingt Sinn für mich, weswegen ich ihr erst einmal deute, tief durchzuatmen. Sie folgt meiner Aufforderung, wirkt danach aber nicht viel weniger aufgeregt als zuvor.

"Also, langsam. Was ist passiert, nachdem ich bewusstlos wurde?"

Olivia scheint sich für einen Moment zu sammeln, als würde sie für eine lange Rede ansetzen, doch das Endprodukt fällt enttäuschend kurz aus:
"Die Katze hat dich aufgefangen."

Verständnislos blinzel ich sie an, bis ich verstehe, was sie meint.

Jacy hat mich aufgefangen, als ich umgekippt bin? Wie soll das denn bitte gehen? Ich war doch meterweit von ihm entfernt, das schafft doch nicht einmal Usain Bolt.
Olivia setzt eine kurze Kunstpause, doch als sie meine Verwirrung bemerkt, fährt sie sogleich fort.

"So schnell habe ich noch nie jemanden laufen gesehen, ehrlich! Er hat dich aufgefangen, ganz knapp über dem Boden. Hättest du noch lange Haare gehabt, wären die sicher voller Blut gewesen. Netter Schnitt, übrigens. Irgendwie habe ich verpasst, dir das vorher zu sagen. Du siehst älter aus."
Olivia fährt mir mit einer Hand durch das unordentliche Haar, was ich mit einem widerstrebendem Laut quittiere. Sie scheint wenig beeindruckt davon und ruiniert unbeirrt weiter meine nicht vorhandene Frisur.

"Jedenfalls, gab es erst dann mal ziemlich viel Schockstarre und Verwirrung. Ich habe dann vorgeschlagen" - ich komme nicht darum herum, den Stolz zu bemerken, der bei der Betonung des Wortes mitschwingt - "in eines der leeren Häuser zu gehen und dich dort einmal abzulegen. Bis du zu dir kommst, du weiß schon. Hat übrigens eine Stunde gedauert, ungefähr.
Und dann...", sagt sie, und deutet schamlos mit nacktem Finger auf den angezogenen Sam. Dieser sitzt nun aufrecht, sieht jedoch überall hin, nur nicht zu mir. Die hässlichen Gemälde an der Wand scheinen plötzlich höchst interessant für ihn zu sein.

"Dann ist er gemein geworden. So richtig gemein. Er hat dem armen Kater vorgeworfen, dass er uns jetzt schon umbringt und dass er asozial und ein Monster ist, nicht menschlich und böse, dass er in ein Labor gehört oder in einen Zwinger. Er hat gemeint, dass Bauern seinesgleichen in der Güllegrube ertränken und dass das richtig so ist. Und er ist Tierarzt, verdammt! Wer ist hier jetzt asozial, hm?"

Ich habe Olivia vor diesem Tag noch nie wirklich wütend erlebt. Und das ist heute schon ihr zweiter Anfall. Diese Apokalypse tut ihr offensichtlich gar nicht gut.

Während ihrer Hasstirade an Sam hat die kleine Jugendliche wild zu gestikulieren angefangen, sodass ich einen Schritt zurück machen muss, um nicht von ihren ausladenden Bewegungen eines übergebraten zu bekommen. Sam dagegen zeigt augenscheinlich keine Reaktion, außer genervt die Augen zu verdrehen, als wäre die Angelegenheit für ihn bereits veraltet.

"Stimmt doch", nuschelt er jedoch ganz und gar nicht so selbstsicher, wie er sich gibt.
Ich seufze und massiere mir symbolisch die Schläfe, um meine Genervtheit etwas mehr Ausdruck zu verleihen. Meine dumpfe Ahnung nimmt langsam Gestalt an.

"Und dann? Ist der Kater abgehauen?"

Olivia nickt bedrückt, als wäre es ihre Schuld.
Ich seufze erneut.

"Da bin ich einmal eine Stunde nicht da, und schon...", murmel ich theatralisch, kann das kleine Pieksen in meinem Brustkorb jedoch nicht leugnen. Etwas Sorge bereitet mir es schon, dass Jacy schon wieder abgehauen ist - und diesmal sogar im Streit.

"Keine Sorge", sage ich, als ich Olivias Zittern bemerke. Ihre Augen sind schon wieder riesengroß und schwimmen gefährlich auf. Ich hasse es, Leute weinen zu sehen; und schon gar nicht kann ich es leiden, Freunde weinen zu sehen, weswegen ich mir hastig ein aufmunterndes Lächeln aufzwinge.
"Der kommt schon wieder. Das ist ein trotziges Pubertier, nach einer Weile erholt er sich von der Phase. Wir haben ja noch einen Deal."

Hoffentlich, denke ich mir.
Hoffentlich treibt die Neugier ihn bald wieder zurück.
Bald.
Sehr bald.

× × ×

Jacy lässt auf sich warten; nach einer halben Stunde ist er immer noch nicht zurück.
Nach einer Stunde auch nicht.
Eineinhalb Stunden.
Zwei Stunden.

Ich habe inzwischen etwas gegessen. Der Kühlschrank des Haushalts war zum Glück voll - und Olivia liebt es, zu kochen. Zwar benützt sie bei ihren Gerichten nach jamaikanischer Art immer etwa zu viel scharfe Soße, doch kürzt man ihr diese Angewohnheit, schmeckt es wahrlich vorzüglich. Dies muss sogar Sam eingestehen, als er sich von der begeisterten Köchin gnädigerweise zu einer Portion überreden lässt, aus der ganz schnell drei werden.

Ich esse eine halbe.
Auf nervösem Magen war ich noch nie gut zu sprechen gewesen, und nun, erneut unter permanenter Lebensgefahr, bin ich sehr nervös. Da wünschte ich doch tatsächlich, die Naivität von Olivia zu besitzen und dem Anderen aufs Wort zu glauben, wenn dieser frei heraus behauptet, wir seien in Sicherheit. Sams Versuche, diese heile Seifenblase zu zerstören, ersticke ich mittels böser Blicke im Keim - und er hält ausnahmsweise tatsächlich brav die Klappe.

Vielleicht ist er auch selbst nur verzweifelt. Seine Angst äußert sich scheinbar gerne in Wut; ich kann es ihm eigentlich gar nicht so übel nehmen, denn bei mir ist es nicht anders. Im Grunde bin ich ebenso ein Idiot wie er. Eigentlich bin ich genauso scheiße und unfreundlich. Eigentlich...

Jetzt bekomm' nicht den Theatralischen!, keift mein verwundetes Ego mich an, als ich diese deprimierten Gedanken zulasse, doch die Wehmut übermannt mich. Jedes Geräusch, jedes Klicken oder Klopfen oder Zischen lässt mich zusammenzucken und scharf einatmen, nur um dann einen langen Seufzer der Erleichterung zu projizieren, als meine Angst sich als unbegründet herausstellt.

Nach zweieinhalb Stunden ohne Jacy beginnen wir uns zu unterhalten. Wir reden miteinander, Sam und ich.
Normal.
Ohne Streit.

Der Wahnsinn beginnt mit langweiligen Stories aus seinem Studium, über Kindheitsschwänke bis hin zu wahrlich witzigen Erzählungen, die sogar Sam zum Lachen bringen.
Das ist das erste Mal, dass ich Sam herzlich lachen höre; er gackert ein wenig und hustet dazwischen, weil er dabei zu wenig einatmet, doch es ist kein hässliches Lachen. Vielleicht nicht schön, aber immerhin geringfügig erheiternd.

Olivia stellt ihm immer wieder Fragen, welche die Kommunikation aufrecht erhalten, denn ich trage eigentlich herzlich wenig dazu bei. Mein Blick weilt immerzu an der Tür, doch solange ich auch starren mag, es tauchen keine Katzenohren auf.

"Unsere Englischlehrerin hat eindeutig den falschen Job gewählt. Sie sagt immer Homeworks und Peoples. Und Zebracrossing. Ihre beste Meldung war: Because I say it so!"

Olivia kichert erheitert, als sie Sam von Mrs Blokster erzählt, welcher sogar etwas grinst. Der Student hat einen Ellbogen auf die Tischplatte gestützt und das Kinn auf den Handrücken gebettet, mit der anderen spielt er mit einem Kaffeelöffel. Die braune Brühe in der Tasse muss bereits ausgekühlt sein, doch er hat das Getränk bisher nicht angefasst.
Gedankenverloren ziehe ich mit der Fingerspitze die Konturen der Vollholz-Platte des Tisches nach, während ich mit schwitzigem Griff das Heft des Küchenmessers umfasse, welches ich mir heimlich zurechtgelegt habe. Olivia hat das Teil bisher noch nicht bemerkt, viel zu vertieft ist sie in der Erzählung von einer Auslandsreise nach Edinburgh, bei der die schrullige Lehrerin beinahe von einem Bus erfasst wurde, weil sie die verkehrten Fahrtrichtungen des Verkehrs vergessen hatte.
Sam schüttelt darüber nur den Kopf, seine Locken fegen hin und her wie ein drahtiger Wischmop.

"Ich habe Englisch als Fach immer verabscheut. Mein Lehrer hat mich gehasst."

Der Student beginnt nun ebenfalls, das faserige Holz zu inspizieren. Ich halte in meiner Bewegung inne und beobachte, wie er die dunklen Linien wie ich mit dem Finger verfolgt und schließlich vor meiner Hand halt macht. Fast schon ein wenig ertappt sieht er zu mir auf und zieht sich wieder auf seinen Platz zurück, als hätte er etwas Illegales getan.

"Warum sollte dich denn jemand hassen?", frage ich mit leicht ironischem Unterton.
Ich hab's echt versucht, ehrlich; doch der böswillige Sarkasmus lässt sich einfach nicht aus meiner Stimme vertreiben.
Erneut hebt Sam den Blick, seine hellblauen Augen fixieren meine. Ich kann eine gewisse Angriffslust in ihnen blitzen sehen; er hat die unterschwellige Beleidigung nicht überhört.

"Weiß nicht. Vielleicht, weil ich besser Englisch konnte als er, und mir die Freiheit genommen habe, ihn einmal zu verbessern."

Wie in Zeitlupe taucht der Student den Löffel in den kalten Kaffee und rührt ebenso langsam um. Ein kleiner Strudel bildet sich im weißen Schaum und vermischt die helle Oberfläche mit dem schwarzen Grund.

"Er hat immer gemeint, von einem hässlichen Nagetier wie mir lässt er sich keinen schlechten Ruf machen. Also hat er mich durchfallen lassen, und ich musste Schule wechseln."

Das war keine Beleidigung.
Das war ein Vorwurf.
Sams bittere Miene spricht Bände.

Ich habe mit meiner Behauptung, er sehe aus wie eine Bisamratte, scheinbar ein altes Trauma wachgerüttelt. Möglicherweise lässt es sich sogar gleichsetzen mit meiner Abneigung gegen negative Kommentare bezüglich meiner Körperform. Kein Wunder, dass er mich so hasst.

"Also, ich finde nicht, dass du wie ein Nagetier aussiehst", meint Olivia tröstlich und tätschelt ihm leicht den Arm. Der kurze Moment des Mitleids verblasst und ein selbstgefälliger Ausdruck tritt in die unschuldigen Engelsaugen.

"Ich weiß", meint er nur und nimmt einen Schluck von seiner Tasse, verzieht dann aber sofort das Gesicht und wischt sich angeekelt über den Mund. Das hätte ich ihm auch vorher sagen können, dass das Zeug nicht mehr schmeckt. Seine wirren Schaflocken, welche er sich dabei genervt hinters Ohr klemmt, bringen mich jedoch auf einen neuen Einfall.

"Nagut, Shaun", sage ich nun bewusst scharf, doch leider geht die Pointe in die falsche Richtung los.

"Shawn? Shawn Mendes? Also bitte, Mercy, wenn, dann schon Harry Styles. Oder Tom Hiddleston. Eine Kombination davon. Aber Shawn Mendes sieht ganz anders aus, nicht einmal ansatzweise wie er."

Olivia legt den Kopf schief und mustert den Studenten, welcher ebenfalls recht verwirrt über den Nicknamen wirkt. Mit zusammengezogenen Brauen mustert er zuerst mich, dann die Jamaikanerin.
"Bitte kein OneDirection. Ich bin kein Mädchen", murrt er schließlich wenig angetan von dem Vergleich. Auch wenn ich ebenso keine Leidenschaft an der Boy-Band hege, schnaube ich abfällig.

"Weißt du, was der Unterschied ist zwischen dir und der Band?
Die vier Kerle haben wenigstens one D."

Olivia japst nach einer kurzen Weile, die der Sickerwitz braucht, um seine Wirkung zu entfachen, entrüstet auf, jedoch bin ich mir nicht sicher, ob sie die Anfeindung ihrer Lieblingssänger stört oder meine Bösartigkeit gegenüber Sam. Dieser knirscht hörbar mit den Zähnen, ihm scheint jedoch spontan kein Konter einzufallen.
Mein Talent zum Beleidigen kommt merklich wieder in Fahrt, als ich die aufkeimende Wut meines Gegenübers bemerke, welche regelrecht nach mehr Brennholz schreit.
Eigentlich sollte ich ihn nicht provozieren; eigentlich will ich ihn nicht provozieren. Doch irgendwann muss ich auch mal wieder etwas Dampf ablassen, und in diesem Fall hält nun Sam unfreiwillig den Kopf hin. Nach drei Stunden ohne Lebensversicherungen brennen mir irgendwann die Nervenstränge durch, es tut mir leid.

"Weißt du was, Bi-sam-ratte? Dein Englischlehrer ist mir sehr sympatisch. Ich hätte dich auch sitzen lassen sollen, in meinem Haus. Ich hätte dich nicht mitnehmen sollen. Ich hätte..."

Tja, was hätte ich?
Niemand wird es je erfahren, nicht einmal ich selbst. Denn egal woher dieser plötzliche Zorn meinerseits herkam, er verpufft abrupt, als das leise Klicken einer sich öffnenden Tür im Flur ertönt.

Sofort gefriert jeder einzelne in seiner Bewegung, als hätte man einen Film auf Pause geschaltet. Ein sanfter Windzug weht in den Raum hinein, frische, kühle Abendluft vermischt sich mit der alten, abgestandenen im Zimmer. Sie bringt einen seltsamen Duft mit sich; süßlich-herbe, wie gärendes Obst.
Mein Blick heftet sich starr auf den Türrahmen, mein Puls vervielfältigt sich beinahe sofort auf das Doppelte und lässt mich wanken, obwohl ich sitze. Blind und ein wenig zu hektisch taste ich mit einer Hand nach dem Messer, welches unter die Kissen der Sitzbank gerutscht war. Als ich das kühle Metall endlich zu fassen bekomme, knarrt wie auf Kommando das Parkett und ein atemloses Schnaufen ertönt - ein heiseres, raues Röcheln, welches sämtliche Körperflüssigkeiten in mir zum Stillstand bringt. Ganz leise nur war es, fast wie der Ton eines Windhauches; kaum wahrnehmbar, und doch spürbar präsent und real. Viel zu real.

"Ist das...", flüstert Olivia, verstummt jedoch abrupt, als das Keuchen plötzlich zu einem hohen Winseln anschwillt. Ein hoher Ton hallt durch die Wände und klingelt in meinen Ohren, wie ein anhaltender Tinitus. Als hätte jemand eine trockene Kreide über eine Tafel gezogen.
Das war alles andere als das Geräusch einer Katze.

Nein, das ist nicht Jacy.
Das ist nicht der Kater.

Das ist unser Tod.

× × ×

Frohes neues Jahr euch!
Habt ihr Neujahres-Vorsätze? ;)

Ich für meinen Teil möchte gewisse sportliche Ziele erreichen, weniger Naschen und ein Buch fertig stellen... Kein Bestimmtes, nur eines!
Mal sehen ob das funktioniert haha :D

× × ×


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