· 2 ·

🚍

· survive ·

to continue to live or existespecially after coming close to dying

× × ×

Für den Bruchteil einer Sekunde scheint es mir, als hätten die zahllosen Scherben das Gesetz der Schwerkraft gebrochen und würden nun regungslos in der Luft verharren. Wie in einer Slow Motion Szene, nur epischer und noch dazu in 4D.

Es sieht wirklich wunderschön aus, wie ein gläsernes Spinnennetz. Das Zentrum befindet sich etwa auf der Höhe des Fahrers, von dort aus ziehen sich mehrere dicke Linien bis zum Rand des Rahmens. Diese werden jedoch von etlichen feinen Rissen verwoben, sodass die gesamte Scheibe in der tiefstehenden Nachmittagssonne wie ein aus tausend Kristallen gefertigtes Kunstwerk funkelt.

Es ist atemberaubend.

Zumindest für diesen Bruchteil einer Sekunde.

Denn dann beginnt die Welt sich gemeinerweise wieder in Bewegung setzen, der coole Zeitlupeneffekt verpufft und zurück bleibt ein lauter Knall, welcher von dem hellen Klirren winziger Glasstücke begleitet wird. Ein Regenguss aus spitzen Scherben ergießt sich über meinen Körper und ich stolpere erschrocken einige Schritte rückwärts. Die Splitter sind jedoch glücklicherweise zu fein, um durch den bloßen Fall die Haut zu ritzen.

Anders jedoch ergeht es dem Busfahrer.

Er schreit.

Und wie er schreit.

Sein hallendes Gebrüll bebt mir in den Ohren, er schlägt mit seinen Armen unkontrolliert um sich und rammt mehrere Male die Knie gegen das Lenkrad. Zuerst beobachte ich nur perplex sein Tun, ohne eine Reaktion geben zu können. Dass mir das Herz beinahe aus der zugeschnürten Brust springt, nehme ich nur am Rande wahr, als hätten sich Körper und Geist für einen Atemzug separiert. Um mich herum ist der Lärm, doch in meinem Kopf ist es still.
Dann sehe ich das Blut.

Viel Blut. Ich meine, wirklich verdammt viel.

Es färbt sein blassblaues Hemd, seine graue Hose, das Leder des Lenkrads, den Stoff des Sitzes. Alles ist durchtränkt von dieser dunkelroten, zähen, schleimigen Substanz. Der metallische Geruch schlägt mir heiß und stickig entgegen, doch ich habe ohnehin vor Schock die Luft angehalten.
Eigentlich sollte ich wegschauen, denn ich bin nicht unbedingt eine Liebhaberin von klaffenden Wunden, in Filmen genauso wenig wie in der Realität, wie mir die eine oder andere Assistenz im Betrieb meiner Mutter bewiesen hat. Aber, was mache ich? Genau, ich lasse meinen Blick einfach unbeirrt an dem sich vor Qualen windenden Mann hinabgleiten, bis ich den Grund seines Leids entdecke.

Ein... Pfeil?

Nicht einer der schlanken, gefiederten Sorte, mit der niedlichen kleinen Spitze und dem braungebrannten Indianer als Schütze. Dunkelhaarige, halbnackte Muskelprotze. Tolle Mannsbilder.
Nein, dieser hier besitzt den Durchmesser dreier meiner dünnen Finger, ist aus einem rindenlosen Ast gefertigt und wirkt beim näheren Betrachten fast schon wie eine abgebrochene Speerspitze. Was jedoch viel irritierender ist, als dass jemand wie ein Waldmensch hier Stöckchen um sich wirft, ist die Tatsache, dass das Ding durch die Scheibe und in die Brust des Fahrers gedrungen war, als wäre beides aus Butter. Das Geschoss war mit solch einer Wucht hier eingefahren, als hätte Herkules persönlich es geschleudert.
Egal wer es geworfen hat; ich will ihn nicht kennenle...

Oh.

Oh.

Meine Lippen formen das Wort nur stumm, ohne Laut.

Oh.

Ich rühre mich keinen Millimeter, sondern verharre starr wie eine Statue in meiner halb aufrechten Position. Meine rechte Hand klammert sich krampfhaft um den Haltegriff, welchen ich in meinem Schrecken zu fassen bekommen hatte, sodass meine Knöchel tatsächlich weiß hervortreten. Und ich dachte immer, dies wäre nur eine fälschliche Beschreibung in all den Büchern. Was ich heute alles so dazulerne...

Dass kurzes Haar um Längen bequemer ist als langes, zum Beispiel.
Oder ich immer noch eine soziale Niete bin.
Oder eben jene mysteriöse Umschreibung eines Muskelkrampfes im Handgelenk.

Oder... das hier.
Was auch immer das ist.

Es hat entfernte Ähnlichkeiten mit dem Hund meiner Nachbarin, die spitzen, haarigen Ohren und das dunkle Fell. Einen passenden Schweif hat es auch: Lange Haarsträhnen schweben wie leichte Federn hinter dem sich stetig bewegenden Teil einher, ziehen eine betörende Flugbahn wie die Bänder einer Tänzerin. Die Schritte sind grazil, fest, unaufhaltsam, gleich einem Raubtier, das sich der Beute nähert.
Aber der Gang... der Gang ist unverkennbar aufrecht auf zwei Beinen, wie ein menschlicher. Der Körper mag zwar pelzig sein, besitzt aber eindeutig die Anatomie meiner maskulinen Artgenossen, mit schmaler Hüfte, breiten Schultern und muskulösen Armen, die nach optischen Schätzungen einen größeren Umfang aufweisen als meine Oberschenkel - und ich bin keine stelzenbeinige Magersüchtige, nur so am Rande erwähnt. Das Gesicht ist männlich, mit flacher Nase, tiefliegenden Augen, schmalen Lippen und ausgeprägten Kieferknochen. Nur die gefletschten Zähne sind die eines Tieres. Sie sind nicht weiß, sondern rot - wie eigentlich alles, was dieses Monsters am Leib trägt. Neben der eigenen Wolle ist das nur eine kurze Hose, die nun locker auch als Baywatch-Badeshorts durchgehen könnte. Das Vieh sieht aus, als hätte es sich buchstäblich in Blut gebadet.

Doch es scheint dem Wesen noch nicht genug zu sein, denn es bewegt sich in einer erstaunlichen Geschwindigkeit und Präzision auf den Bus zu. Es macht sich dabei nicht einmal die Mühe, unbemerkt oder vorsichtig vorzugehen - als wüsste das Ding genau, dass wir ohnehin keine Chance haben.

Der Busfahrer hat aufgehört zu brüllen, nun röchelt er nur noch heiser vor sich hin. Ich kann ein leises, dünnes Wimmern aus seinen abgehackten Atemzügen heraushören, ansonsten bewegt er sich nicht mehr viel. Ob wegen des Anblicks dieses Außerirdischen, oder aus anderen Gründen, will ich gar nicht so genau wissen.
Die Mutation - die womöglich passendste Bezeichnung - hat nun den Wagen erreicht und klettert die flache Schnauze des Gefährts empor. Sie braucht gerade einmal einen Klimmzug, um das zersprungene Fenster zu erreichen; sicher ist es zwei Meter groß. Selbst aus der erhabenen Perspektive sieht es riesig aus.

Erst als sich das Monster auf meine Augenhöhe hievt, taue ich auf. Schlagartig weicht die eisige Schockstarre aus meinen steinernen Gliedern, mein Puls schraubt sich innerhalb einer Viertelsekunde auf 180 und jagt mir adrenalingesättigtes Blut durch die Venen. Aus einem inneren Impuls heraus springe ich vorwärts, mein rechter Arm saust nach vorn und meine flache Hand schlägt auf das feucht-klebrige Lenkrad. Die Hupe des Busses zerreißt schlagartig die angespannte Stille und lässt mich selbst erschrocken zusammenfahren. Wo ich sie doch ausgelöst habe, ich Idiot.

Doch ich bin glücklicherweise nicht die Einzige, welche nicht mit dem aggressiven Ton gerechnet hat.

Die Mutation macht einen gewaltigen Satz nach hinten. Wie ein Superheld landet sie perfekt auf allen Vieren fünf Meter - fünf verdammte Meter! - entfernt auf der Asphaltstraße und bleibt dort einen Herzschlag lang regungslos sitzen. Dann, als habe sie realisiert, dass das eben nur Ablenkung - oder so denke ich zumindest, dass es so etwas Ähnliches werden hätte sollen - gewesen war, wirft sie plötzlich den Kopf in den Nacken und gibt ein wütendes Knurren von sich. Mit einem kehligen Schrei, welcher nach einer Mischung aus Donnergrollen und dem zornigen Gekläffe eines Hundes klingt, macht das Wesen abermals einen Sprung, nun aber direkt durch das Fenster.
Aus fünf Metern Entfernung.

Der Busfahrer wimmert auf, als das gigantomanische Menschen-Tier direkt vor ihm zum Sitzen kommt, doch die glühenden Augen fixieren... mich.

Sie sind dunkel. Die Augen.
Die Ränder der Iriden gehen knapp ins Schwarze, doch desto näher man den Pupillen kommt, desto heller wird die Farbe. Um die unnatürlich winzigen schwarzen Punkte nimmt das Braun einen beinahe schon cremefarbenen Ton an, hell leuchtend wie heißer Wüstensand. Es ist vermutlich ein ganz schlechter Zeitpunkt, sich auf solche Details zu konzentrieren, aber das Farbenspiel ist wirklich äußerst beeindruckend.
Die kleinen Pupillen heften sich mordlustig auf mich, und mit einer Tonfolge durch alle Oktaven wirft sich die Kreatur auf meine Wenigkeit.
Das heißt, das wollte sie. Doch die nadelspitzen Krallen sausen wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt vorbei und graben sich stattdessen in den Sesselüberzug gegenüber, welcher sich unter ihnen teilt wie heißes Wachs. Die Hundemutation jault vor Zorn abermals laut auf, dann langt sie plötzlich hinter sich und reißt dem Fahrer - welcher das Vieh scheinbar mit letzter Kraft am Bund der Hose gepackt hält - mit einer einzigen, fließenden Bewegung die Kehle auf. Es gurgelt; dann sehe ich weg.
Mir wird speiübel.

Meine Augen beginnen verräterisch zu brennen, doch etwas in meinem Inneren verbietet mir, mich der Angst hinzugeben, so wie es am einfachsten wäre.
Ein Instinkt. Der Überlebenswille.

Ich darf mich jetzt nicht weinend zusammenkrümmen und mich hinter den Stühlen verkriechen. Es würde meinen sicheren Tod bedeuten.

Mit einem Tempo, das angesichts meiner gefühlsmäßig nicht vorhandenen Knie beachtlich flink ist, stürme ich den Gang hinab auf die mittlere Tür zu. Ich denke nicht, fühle nur die kalte Panik in mir brodeln, die lähmende Angst in meinen Gliedern. Mein Brustkorb fühlt sich schwer an, wie aus Blei, meine Finger zittern schlimmer als nach einer dreistündigen Mathematikarbeit.

Doch ich schaffe es trotzdem, ohne Fehlversuche die Tür mithilfe des Notfalls-Drehmechanismus zu öffnen.

Ich schaffe es trotzdem, ins Freie zu stolpern, genau in jenem Augenblick, als die Mutation seine gesamte Existenz gegen mich schleudern wollte, doch nun nur die Haltestange erwischt.

Der lodernde, hungrige Blick des Raubtiers fokussiert mich und ich kann jeden Muskel auf Spannung gehen sehen, bereit zum nächsten Sprung und mir ein Ende zu bereiten.
Als sie schreien.

Die Kinder.
Die Kinder!

Ich hasse mich.

Ich hasse mich dafür, tue es ab dem Moment, an dem ich allein daran denke. Doch der Überlebenswille ist stark, stärker als meine Moral zu diesem Zeitpunkt.

Der Kopf des Viehs fliegt herum, seine gesamte Aufmerksamkeit liegt auf den heulenden Teil des Busses, aus dem nun schrille Hilfeschreie klingen. Es beachtet sie; nicht mich.

Und das ist der Moment, in dem ich mich am Stand umwende und renne.

× × ×

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top