·15·

🌃

· déjà vu ·

the strange feeling that in some way you have already experienced what is happening now.

× × ×

Ich höre sie wieder.
Die Schreie.

Ich kannte die Kinder nicht sehr gut, hatte kaum Kontakt zu ihnen. Doch ich konnte sie alle einzeln beim Namen nennen - in einem Nest wie diesem ist jeder jedermanns Nachbar. Sie waren bekannte Gesichter, keine Fremden.

Jedoch ist mir kein einziger Gesprächsfetzen, keine einzige Konversation miteinander im Gedächtnis geblieben. Stattdessen wird meine Erinnerung ausgefüllt von panischen Rufen, spitz und schrill, dass mir allein bei dem Gedanken daran eine eisige Gänsehaut über den Rücken rieselt. Rufe nach Hilfe; und ich haute einfach ab. Ich Egoist.

Mir schnürt es vor Schuldgefühlen beinahe die Kehle zu, so sehr übermannt mich der Flashback von vorgestern. Starr sitze ich immer noch am schmutzigen Asphalt, während ich Jacy stumm dabei zusehe, wie er zum Einen den Speer in die Dunkelheit schleudert, zum Anderen die Eule zurückstößt, welche sich erneut auf mich stürzen wollte. Diese zwei Handlungen passieren so rasch hintereinander, dass sie beinahe gleichzeitig ausgeführt scheinen.
Er bewegt sich geschmeidig wie eine echte Katze, dass es eine wahre Wonne ist, ihm zuzusehen. Jeder seiner Hiebe ist mit einer enormen Präzision und Schnelligkeit ausgeführt, sodass man die Luft vor dem inneren Auge regelrecht splittern sehen kann.

Plötzlich gebannt von seiner Kampfkunst beobachte ich seine Haltung, seine Handlungen, wie sie kontrolliert Schlag auf Schlag folgen. Er duckt sich, weicht den scharfen Greifern des Eulenviehs aus und greift gleichzeitig nach dessen Handgelenkt, welches er in einer einzigen Bewegung verrenkt. Im nächsten Moment zuckt er auch schon wieder zurück; etwas war haarscharf an seiner Nase vorbeigezischt.
Der Kater flucht laut auf, und erst nach dem dritten Blinzeln fällt mir auf, dass es sich um eine andere Sprache handelt. Klingt irgendwie Spanisch. Vielleicht auf Portugiesisch; jedenfalls rollt er das R recht aggressiv.

Woher kann er denn jetzt plötzlich...

"Mercedes!",
schreit er mich an, das R in meinem Namen wird zu einem wütenden Knurren verformt und ich zucke heftig zusammen. Verdammte Tagträumereien. Wenn es zu stressig wird, neigt mein Hirn eindeutig zu stark zum Stand-by-Modus.

"Könntest du bitte deinen Arsch hier wegbewegen?"

Zuerst blicke ich nur verständnislos zu ihm auf.
Weg? Wohin?
Nach Hause will ich ja nicht, ich will in die Stadt. Aber ich kann unmöglich ganz alleine losgehen! Und wo Sam steckt, weiß ja leider keine Sau.

Erneut saust etwas durch die Luft, ein zartes, fast schon gehauchtes Surren begleitet den Gegenstand wie das ekelhafte Geräusch eines Moskitos. Diesmal ist Jacy schnell genug und wirft sich mit einem raschen Satz gegen mich, sodass ich - mehr gegen den Boden als in die Horizontale gedrückt - über die unebene Straße schlittere. Kleine Steinchen bohren sich scharf in meine Haut und hinterlassen fiese Bremsspuren auf meinem Arm, doch der Aufprall einer Speerspitze knapp vor meinem Gesicht lässt den Schmerz sofort erträglicher wirken.

"Warum wirft dieser Hund auch seine eigenen Stöckchen...",
murmelt Jacy dicht neben meinem Ohr, doch er scheint eher mit sich selbst zu sprechen. Er berührt mich zwar nicht, jedoch kann ich bei den leisen Worten deutlich seinen unnatürlich heißen Atem im Nacken spüren. Er dürfte also sehr knapp hinter mir zum Erliegen gekommen sein.

Die Vorstellung, dem Kater so nahe zu sein, ekelt mich an, doch ich wage es nicht, mich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Dafür kommt umso mehr Bewegung in Jacy, denn er steht sofort wieder auf den Beinen und stößt die Eule beiseite, bevor sie in meine Reichweite kommt.
Schon langsam sollte ihr Spatzenhirn kapieren, dass sie gegen die Katze nicht ankommt.

Mein Blick verweilt noch auf der hageren, gefiederten Gestalt, welche meterweit bis hin zum Gehsteig segelt, ehe sie erneut hart den Boden küsst, als eine erneute Bewegung meine Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Es ist nur ein leichtes Flimmern im Augenwinkel; eine stumpfe Reflektion des schmutzigen Laternenlichts.

Ein Pfeil saust durch die Luft, haarscharf am Jacys Gesicht vorbei. Wenn ich mich nicht täusche, hat er sogar seine Schnurrhaare gestreift.
Die Eule stößt einen schrillen Schrei aus und setzt erneut zum Sprung an, unermüdlich haftet ihr gelber Blick auf mir. In der Ferne grummelt es unheilvoll, wie ein Motor, der kraftvoll aufschnurrt.

Die Sträucher auf der rechten Straßenseite teilen sich, und ein massiger, geschuppter Leib schiebt sich aus dem dunkeln Grün. Nun sehe ich das Reptil deutlicher als davor, doch meine Meinung bleibt die Gleiche. Es ist wahrlich eine hässliche Gestalt, bullig und unförmig, geradezu entstellt. Sein hallendes Brüllen gleicht dem eines Dinosauriers in Jurassic Park, dabei reißt es sein breites Maul weit auf und entblößt seine gelben Beißerchen. Er hält jedoch nicht auf mich zu - sondern auf Jacy. Diesem war beim Anblick der Echse sämtliche Gesichtszüge entglitten, sodass unter seinem gekonnten Pokerface nun leichte Panik durchschimmert.

Ich will schlucken, doch mein Hals ist zu trocken.

Egal was der Grund sein mag, weshalb diese Viechern so wahnsinnig werden, dumm sind sie jedenfalls nicht. Denn anstatt sich blind in den Kampf zu stürzen, bringen sie eindeutig System in ihre Feldzüge: Sie spielen Jacy aus.
Sie überfordern ihn, das merke selbst ich nun.

Langsam, als wollten sie uns beide einkreise wie die Löwen ein Zebra, nähern sich beide Mutation in zügiger, gleichmäßiger Geschwindigkeit. Dabei springen ihre irren Blicke zwischen Jacy und mir stetig hin und her, als könnten sie sich nicht entscheiden, wen sie zuerst umbringen wollen.
Der Kater hat seine Krallen kampfbereit ausgefahren, doch anstatt seine Kampfpartner zu fokussieren, ruhen seine blitzenden Augen nun auf mir. Er scheint mir irgendetwas mitteilen zu wollen, doch ich bin taub für seine stumme Sprache. Vielleicht liegt es an den spitzen Pupillen; die haben bestimmt einen anderen Akzent als runde.

Etwas verzweifelt schießt mein Kopf abwechselnd nach links und rechts, wo Eule und Echse die Schlaufe immer enger ziehen. Sie haben gewonnen. Und das scheinen sie auch genau zu wissen.
Das ist mein verdammtes Ende. Scheiße aber auch.

Da saust erneut ein Pfeil durch die Luft; Jacy duckt sich noch rechtzeitig weg, doch der kurze Moment der Ablenkung hat gereicht.
Wie auf ein stilles Kommando hin werfen sich Feder und Schuppe vorwärts, geradewegs auf mich zu. Mir bleibt nicht mal Zeit für ein letztes Stoßgebet.

Ein grellweißer Lichtkegel erfasst mich und lässt die Welt um mich herum in strahlender Helligkeit ertrinken. Reflexartig reiße ich die Arme hoch und presse die aufgerauten Handflächen gegen meine tränenden Augen, helle Punkte tanzen vor meinen geschlossenen Lidern auf und ab. Kurz bin ich am Überlegen, ob dies nun der phänomenale Flashback des Lebens ist, und ich ihn nun gerade verpasse. Bei meinem Glück würde ich mir das durchaus zutrauen.

Ich hätte mir für diese emotionale Diashow allerdings schon traurige Hintergrundmusik gewünscht, um dem Ganzen etwas mehr Dramatik zu verleihen - mein Leben selbst war ja wenig spektakulär. Doch stattdessen höre ich nur meinen eigenen Puls in meinen Ohren explodieren, wie das Hämmern eines Presslufthammers. Unterschwellig nehme ich ein Knurren wahr, doch es klingt seltsam; nicht passend zu einem Lebewesen, irgendwie.

Kaum dass ich eine Entscheidung treffen kann, ob ich vielleicht doch noch gucken sollte, quietscht es plötzlich direkt vor mir - und damit meine ich wirklich, direkt. Kaum einen Meter entfernt.
Eine aggressive Hupe jault mir in die Ohren, worauf ich erschrocken die Augen aufreiße.

Keine Armlänge vor mir war unter großartigem Staub-Aufgewirbel ein protziger BMW zum Stehen gekommen. Sein helles Fernlicht lässt die Umgebung plötzlich grell und farblos wirken, beinahe schon realitätsfremd.
Und am Steuer sitzt - dreimal dürft ihr raten.

Ehe mir noch eine passende Reaktion für diese saublöde, aber zugegebenermaßen nun lebensrettenden Aktion einfallen kann, erinnert mich ein schriller Vogelschrei an die Gesellschaft der Mutationen. Alle drei - einschließlich Jacy - waren bei der Vollbremsung des Wagens zurückgewichen, allesamt verstört und geschockt. Doch nun fangen sie sich wieder, und meine Existenz gerät wieder in den Mittelpunkt der Interesse.

"BEWEG DICH!",
schreit sowohl Jacy, welcher sich schon wieder zwischen mich und einem Angreifer werfen muss, als auch Sam durch das offene Autofenster. Als hätten die beiden sich abgesprochen; gruselig.

Ohne groß darüber nachzudenken, leiste ich dem Befehl sogleich folge und ziehe mich rasch an der Stoßstange des Gefährts hoch. In Rekordtempo eile ich zur Beifahrertür und finde mich sogleich neben Samson sitzend wieder.
Ich warte unbewusst schon auf irgendeinen dummen Spruch seinerseits, stattdessen aber legt er wortlos den Rückwärtsgang ein und das Auto schießt nach hinten. Ich werde ruckartig nach vorne geschleudert und knalle mit dem Oberkörper gegen das Armaturenbrett, der Aufprall wird aber glücklicherweise von dem Rucksack etwas abgedämpft.

Mit waghalsigem Tempo saust der Student nun die Straße hinab, die Kampfszene wird rasend schnell kleiner und verschwimmt im düsteren Schein der Laternen. Entsetzt starre ich durch die Frontscheibe in die grell erleuchtete Dunkelheit. Sämtliche passende Flüche waren gerade meinem Gedächtnis entfallen.

"Was zur...",
setze ich rau an, doch Sam unterbricht mich.

"Es ist kein Mercedes, sorry."

"Du... Idiot...!",
knurre ich, doch meine Stimme klingt dünn und zittrig. Diese pseudo Rettungsaktion war so rasant verlaufen, dass mir der Schrecken von eben noch fest in den Knochen sitzt. Unbewusst hatte ich meine Nägel in den Rucksack gegraben, doch meine Hände zittern immer noch ein wenig.

"...hat dir gerade das Leben gerettet."

"A-aber der Kater..."

"...ist mir egal",
sagt Sam monoton. Seine Hände krallen sich ebenfalls recht unentspannt in den Lederüberzug des Lenkrades. Sogar seine Knöchel werden weiß vor Anspannung.
Er hat Angst; und wie er die hat.

Und trotzdem ist er zurückgekommen.

Wo war er überhaupt? Was zur Hölle hat er sich dabei gedacht, einfach abzuhauen?
Genau so stelle ich ihm die Frage auch, doch er zuckt nur mit den Schultern.

"Ihr habt sowieso nur gestritten, da habe ich mal etwas Nützliches gemacht."

Einen Wagen kurzgeschlossen also. Ist das etwa nützlich? Zugegebenermaßen... Ja. Das ist es durchaus.

Ein drückendes Schweigen breitet sich im Innern des Autos aus, welche nach dem lautem Kampfgeschrei nur umso heftiger wirkt. Mein rasender Puls will sich nicht und nicht beruhigen, mein Herzmuskel schlägt immer noch doppelt so heftig, wie es gesund für ihn ist und meine Haut ist feucht vor Angstschweiß. In regelmäßigen Abständen wische ich meine schmierigen Hände nervös am rauen Stoff des Rucksacks ab, doch auch sie bleiben unverändert.

Sam hat an einer Kreuzung bereits gewendet und fährt nun auf die gegenüberliegende Seite des Dorfes zu, also genau in die verkehrte Richtung. Wir entfernen uns in hohem Tempo von der Stadt, anstatt uns zu nähern.

Vernehmlich räuspere ich mich.

"Sam?"

Stille.

"Wir fahren in die falsche Richtung."

Der Student atmet tief durch, antwortet jedoch nicht. Unruhig beginne ich mit dem Zippanhänger zu spielen.

"Sam! Wir müssen zurück."

Der Dunkelhaarige wirft mir einen raschen Blick zu, ehe er wieder verbissen auf die Straße schaut. Als ob jetzt viel Verkehr unterwegs wäre.

"Dein Kätzchen schafft das schon",
murrt er nun endlich. Jedoch war es nicht die Antwort, die ich gerne hätte.

"Wir wollen in die Stadt",
zische ich nun schon eindringlicher. Er fährt genau in die falsche Richtung, verdammt. All die errungenen Meter werden gerade restlos zunichte gemacht.

"Und? Was soll ich machen? Wieder zu den Irren fahren?",
fährt mich Sam plötzlich aus heiterem Himmel an, und ich zucke erschrocken zurück. Doch er ist noch lange nicht fertig.

"Die werden uns killen, verdammt. Wir müssen weg hier, kapierst du das nicht? Egal wohin! Nur weg!"

Gegen Ende wird er richtig laut. Doch was er kann, kann ich schon lange.

"Damit sie uns folgen und später umbringen? Wir müssen dorthin, wo sie uns helfen, du Nuss! Nicht in die Einöde!",
gebe ich in derselben Lautstärke zurück. Nun ist es er, der dumm guckt.

"Und außerdem",
setze ich sogleich nach, das kochende Blut in mir lockert mein angsterstarrtes Mundwerk,
"ist Jacy unser Ticket zum Überleben! Er kann uns schützen, weil er auf dem gleichen Level wie die steht! Deshalb brauchen wir ihn!"

"Warum Jacy...?",
kommt es irritiert zurück, jedoch unterbricht er sich selbst. Denn auf einmal bricht der Wagen ohne Vorwarnung seitlich aus, ohne dass Sam das Lenkrad verrissen hätte. Die Schnauze des Gefährts gerät ins Schlingern und gräbt sich im nächsten Moment auch schon in einen hässlichen Drahtzaun eines verwucherten Schrebergartens, wo wir schließlich ruckartig zum Stehen kommen. Ein ungewollt lauter Schrei entkommt mir, als das Auto regelrecht von dem Gitter verschluckt wird, doch da hüpft Sam auch schon auf die Bremse und die quietschenden Reifen übertönen meine Stimme. Zum zweiten Mal innerhalb drei Minuten knalle ich gegen das Armaturenbrett, diesmal jedoch leider ohne Puffer.
Wo hat dieser Freak nur seinen Führerschein gemacht?

Mein Kopf war seitlich aufgeschlagen, meine Schläfe pocht schlimmer als mein aufgeregter Puls und zersprengt mir beinahe meine Schädeldecke. Stöhnend richte ich mich wieder auf, den Gaumen voll Beleidigungen, als mein Blick auf den Fahrer fällt.

Sam ist käsebleich, seine Hände klammern sich immer noch verkrampft um das Lenkrad, sodass nun nicht nur seine Knöchel, sondern seine gesamte Handwurzel weiß hervorsticht. Sein keuchender Atem ist das einzige, was die eisige Stille durchdringt. Der Motor war abgewürgt worden.

"Ich... hab nicht gelenkt...",
flüstert er so rau, als wäre er Kettenraucher mit Husten und Halsweh. Ganz langsam und zittrig hebt er die rechte Hand, als könnte er sie nur schwer seines Willens gefügig machen. Zuerst glaube ich noch, er will sie an die Gangschaltung legen, doch dann schwenkt er auf halben Weg ab und fasst stattdessen an meine Schläfe. Ich bin so verwirrt, dass ich gar nicht auf diese plötzliche Berührung reagiere; ansonsten hätte ich ihn sicher zumindest angeschrien.

"Du blutest",
keucht er entsetzt. Echt?
Ist mir nicht aufgefallen.

Aber nun, wo er es sagt... fühle ich tatsächlich eine ekelhaft warme Nässe über meinen Nasenrücken kriechen, bis das Rinnsal sich spaltet und wie blutige Tränen über meine Wangen kullert.

Reflexartig hebe auch ich die Hand, um mir das Blut aus den Augen zu wischen, als etwas in meinem Augenwinkel vorbeifliegt. Schon langsam wird dieser huschende Schatten zu einer wahren Mantra, wie der rote Ballon bei Stephen Kings Es.

Wohl wissend, was folgen wird, greife ich anstatt meinem Gesicht Sams Handgelenk und reiße ihn zu mir, sodass er - schlaff und zittrig, wie er zusammengesunken in seinem Sitz kauert - halb über die Mittelkonsole und direkt auf mich stürzt. Möglicherweise verwandelt mich das dickflüssige Adrenalin in meinen Adern auch gerade in Hulk. Ansonsten hätte ich seine massige Gestalt bestimmt nie so ruckartig bewegen können.

Meine Reaktion kam keine Sekunde zu spät, wie sich herausstellt, als im nächsten Augenaufschlag die Frontscheibe in winzigen Kristallen explodiert, nicht ohne vorher ein wunderschönes, gläsernes Spinnennetz zu bilden. Ein bitterer Geschmack macht sich in meiner Kehle bemerkbar, wie kurz vor dem Erbrechen.

Was haben wir heute bitteschön?
Flashback-Friday?

× × ×

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