· 12 ·
🔪
· agony ·
extreme physical or mental pain or suffering
× × ×
Ich hätte den falschen Harry Styles gerne vor die Tür gesetzt, doch da er sich sofort wie selbstverständlich in mein Bett hatte fallen lassen und dort sein immer noch aschgraues Gesicht in den Polstern vergräbt, muss ich ihn wohl oder übel ignorieren.
Ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen, ziehe ich eine Tasche unter meinem zugemüllten Schreibtisch hervor und stopfe unordentlich allerhand Kleidung hinein. Dabei richte ich mich eher nach der Sportlichkeit des Schnittes als der Farbkombination, denn auf Mode wird es beim Um-mein-Leben-Rennen wohl kaum ankommen.
Einen episch-dramatischen Abgang wird es sowieso nicht für mich geben, wie die perfekt gestylten Schauspieler in Filmen es immer vorzeigen.
Zusätzlich packe ich noch Zahnbürste und -paste ein, Haarbürste und -bänder brauche ich ja zum Glück nicht mehr. Ich entdeckt wahrlich immer mehr Vorteile an dieser Sache; ich hätte mir keinen besseren Friseurtermin nehmen können, als direkt vor der Apokalypse.
Vorsichtshalber stecke ich auch Pflaster, Desinfektionsspray und Verbandzeug in die Seitentaschen - man weiß ja nie, was so alles auf einen zukommen mag.
Zum Schluss ist die Tasche ganz schön behäbig und prall gefüllt, sodass ich mir reichlich schwer tue, den obersten Zipp zu schließen. Mühsam lehne ich mich mit dem gesamten Gewicht auf den Rucksack und ziehe und zerre, bis alles halbwegs sicher verschlossen ist.
Zufrieden wende ich mich um, nur um den dunklen Lockenkopf dabei zu erwischen, wie er mich schamlos bei meinem Tun beobachtet. Etwas zu spät wird mir nun bewusst, dass ich ihm gerade für bestimmt fünf Minuten meinen Hintern mehr oder weniger direkt ins Gesicht gestreckt habe; zum Glück trage ich wenigstens eine weite Jogginghose, die sämtliche Kurven verschluckt.
"Was starrst du so blöd?"
"Was ist mit dem Vieh?"
Wir beginnen gleichzeitig zu sprechen, keiner ist so nachgiebig und bricht seine Frage für den anderen ab. Einen Moment lang mustern wir uns gegenseitig, ehe er sich langsam hochrappelt, bis er schließlich aufrecht an der Bettkante sitzt. Seine langen Locken hängen ihm dabei wirr und ungebändigt ins Gesicht, was ihn aber nicht daran hindert, mich mit seinen engelsblauen Augen anzustarren.
"Wie heißt du überhaupt?",
sage ich, als eine drückende Stille den Raum zu erfüllen droht. Er pustet sich erfolglos eine widerspenstige Strähne aus dem Gesicht, bevor er antwortet.
"Samson Coleman."
Samson.
Kleine Sonne.
Sonne und Mond.
Was für eine Ironie des Schicksals. Immerhin hat es ja Humor.
"Du hast doch hoffentlich nichts dagegen, wenn ich dich bloß Sam nenne. Samson klingt wie eine fette Bisamratte, aber passt ganz gut",
sage ich möglichst gleichgültig und monoton. Dabei hätte ich ihn gerade zu gerne einfach nur ausgelacht.
Beleidigt verschränkt die Ratte die Arme vor der Brust und schiebt schmollend die Unterlippe vor. Dabei komme ich nicht drum herum, kurz seinen zuckenden Bizeps anzustarren; warum muss ich auch ausgerechnet zwischen zwei Bodybuilder geraten? Jedes andere - vor Hormonen triefende - Mädchen in meinem Alter hätte sich ein Bein dafür abgetrennt, doch leider habe ich scheinbar das Kleingedruckte im Vertrag nicht gelesen.
Dass der eine Katzenohren und der andere ein beflügeltes Ego besitzt, stand nicht auf meiner Bestellung.
Trotz der ansehbaren Oberarme, den breiten Schultern und einer durchaus akzeptablen Größe langt der Fake-OneDirectioner jedoch nicht im Entferntesten an Jacys Körperstatur heran. Zwar verschluckt sein Fell die meisten Details, doch die Bezeichnung breiter als der Türsteher trifft bei ihm ganz gut zu...
Scheiße, vergleiche ich diese beiden gerade tatsächlich miteinander?
Das muss der Stress sein.
Er zeigt die ersten Nebeneffekte.
"Wie heißt denn du, wenn du schon so dumm daher redest?",
bringt die beleidigte Leberwurst nach ewigem Stillschweigen endlich hervor, und prompt verpufft mein Höhenflug an Schadenfreude.
Mist. Da kann ich mich leider nur bedingt behaupten.
"Nenn mich Mercy",
gebe ich bemüht lässig vor mir und tue es ihm gleich, indem ich die Arme kreuze. Sam zieht eine Augenbraue hoch, wofür ich ihm am liebsten eine gescheuert hätte. Gleich nach Jacy.
"Ach ja? Die Gnädige, oder was?",
spöttelt er grinsend. Knirschend presse ich die Zähne aufeinander und recke das Kinn möglichst selbstbewusst in die Höhe.
"Exakt. Und mein Nachname ist Parca. Die Parze, die Schicksalsgöttin. Wenn du in Latein aufgepasst hast, weißt du ja, dass die drei Spinnerinnen den Lebensfaden basteln. Und deiner ist gerade zum Zerreißen gespannt."
Es tut gut, etwas Intelligentes von mir geben zu können, ohne an dessen Richtigkeit zu zweifeln. Denn ich war immer schon stolz auf die Bedeutung meines Nachnamens; was gäbe es da epischeres, als eine Schicksalsgöttin, die über Leben und Tod bestimmt?
Scheinbar ist mein Gesprächspartner von diesem genialen Hintergrund nicht ganz so überzeugt wie ich, denn er lacht schallend auf und würdigt mich eines herablassenden Blickes.
"Ich bevorzuge die Merci-Schokolade, die ist nicht so bitter wie du",
zischt er mich an und nesselt ungeschickt an seinen Haaren herum, welche sich ihm einfach nicht unterwerfen wollen. Wirr und verknotet stehen sie immer noch in alle Richtungen und lassen ihn aussehen wie einen ungeföhnten Pudel.
Ich kann sie vollkommen verstehen. Ich würde auch nicht auf so einem Kotzbrocken wachsen wollen.
"Du provozierst meine Gnade, Sterblicher. Außerdem gibt es auch Bitterschokolade",
schnaube ich bloß.
Sam verdreht übertrieben weit die Augen.
"Die mag aber keiner."
Ich schüttel darauf nur den Kopf und wende mich erneut meinem Gepäck zu. Unter lautem Geächze schultere ich das bleischwere Teil und mache Anstalt, aus dem Zimmer zu verschwinden, als Sam plötzlich hochfährt und mich grob am Arm packt, sodass ich fast ins Straucheln gerate.
"Warte! Du willst doch nicht etwa da runter gehen? Zu diesem Vieh?"
Seine Persönlichkeitenwechsel grenzt beinahe schon an Schizophrenie. Eben noch war er so aufgeblasen wie ein balzender Frosch, und nun zieht er schon wieder den Schweif ein. Hunde, die bellen, beißen bekanntlich nicht; und Sam hat das Maul viel zu weit aufgerissen, als dass etwas anderes als heiße Luft dahinter stecken könnte.
Nun bin ich es, die spöttisch grinst.
"Ach was? Angst vor dem Hauskätzchen?"
Sams Augen verengen sich kaum merklich, sein Griff verstärkt sich.
"Warum tötet er uns nicht?"
Da es die einzige Antwort ist, die ich ihm wahrhaftig ehrlich zu bieten habe, zucke ich bloß mit den Schultern. Das habe ich mich auch schon oft genug gefragt; immerhin scheint ja wirklich etwas mit Jacy nicht zu stimmen. Oder, besser: Etwas stimmt mit seinen Kollegen nicht, die wie wahnsinnig durch die Gegend rennen und alles Leben abschlachten, was sie vor die Klauen bekommen. Warum ausgerechnet er nun unter die Heiligen getreten ist, will mir keiner verraten.
Natürlich bin ich nicht so dumm und blind wie manche Protagonisten und stelle nicht meine eigene Rolle in diesem Zusammenhang in Frage. Mir ist bereits der Gedanke gekommen, dass diese Gehirnwäsche etwas mit meiner versuchten Erdolchung zu tun haben könnte; doch warum sollte es Wahnsinnige heilen? Ein Schlag auf den Hinterkopf wäre einleuchtender gewesen. Vielleicht ist er ja irgendwie unsanft aud dem Parkett gelandet oder so, doch das spielt sowieso keine Rolle für mich.
Da die Bisamratte mich offensichtlich nicht so einfach ohne Erklärung gehen lassen wird, lasse ich die schwere Tasche wieder von den Schultern gleiten und baue mich vor dem großen Angsthäschen auf.
"Jetzt sperr mal kurz die Lauscher auf und hör mir zu, denn ich will das nur einmal erklären, klar? Ich habe einen Deal mit dem Kater, dass er mich vor seinen mordlustigen Freunden beschützt. Im Gegenzug erzähle ich ihm, was hier so vor unserer Begegnung passiert ist, denn er hat aus irgendeinem Grund scheinbar ein Blackout. Und egal was er dich fragt: Du wirst ihm nichts sagen, haben wir uns verstanden?"
Herausfordernd funkel ich den Studenten an, welcher nur perplex nickt und schweigt. So eingeschüchtert gefällt er mir gleich viel besser.
Gerne hätte ich jetzt elegant das Haar über die Schulter geworfen, doch so kann ich mir bloß durch die kurzen Strähnen fahren. Hoffentlich schaut es ungefähr genauso cool und taff aus.
"Und jetzt komm, Samsung Kohlmann. Alleine bleibst du mir nicht hier oben, ich traue dir nicht."
Mein toller Abgang wird etwas abgestumpft, da ich den schweren Rucksack wenig elegant die Treppen hinunterzerre, doch immerhin schweigt Sam jetzt. Ob aus wachsender Panik vor Jacy oder meiner Moralpredigt, weiß ich nicht.
Ich muss mich so auf meine Beladung und dessen Behäbigkeit konzentrieren, dass ich beinahe über den Kater gestolpert wäre, der zusammengesunken auf der letzten Stufe hockt.
Sam hinter mir schnappt erschrocken nach Luft und presst sich flach gegen die Wand, doch weder ich noch Jacy beachten ihn. Viel mehr gilt meiner Aufmerksamkeit nun den Räumlichkeiten des Erdgeschoßes, welche allesamt im Dunkeln liegen.
Stirnrunzelnd blicke ich zu dem seltsamen Kerl am Fuße der Treppe hinab, welcher gerade langsam, als hätte er geschlafen, den Kopf hebt und mich ausdruckslos ansieht. Doch seine Augen sind viel zu wach und leuchtend, als dass ich ihn gerade aus heißen Mäuseträumen gerissen haben könnte.
Seine Miene ist seltsam verspannt, und sofort macht sich ein mumliges Gefühl in meiner Magengegend breit.
"Ich hab das ungute Gefühl, das hässliche Mädchen da hinten hat uns ein paar Freunde auf den Hals gehetzt",
gibt Jacy sehr leise und eintönig von sich, doch es ist ohnehin mucksmäuschenstill.
"Was soll das heißen?",
quiekt Sam über meine Schulter, und ich zucke bei der plötzlich so nahen Stimme leicht zusammen.
"Ich bin kein hässliches Mä..."
"Und das Reptil hat sogar Verstärkung mitgebracht",
murmelt Jacy nun, mehr zu sich selbst als zu einer bestimmten Person. Sein Blick ist starr in die Dunkelheit gerichtet, seine Ohren zucken unaufhaltsam hin und her wie Satelliten, die nach einem Signal suchen. Erst jetzt fällt mir das Messer in seinen Pfoten ins Auge, das er sachte von der einen in die andere Handfläche gleiten lässt.
Seltsamerweise entscheidet mein Puls sich diesmal, nicht wieder auf Höhe des Mount Everest unterwegs zu sein, sondern bleibt tatsächlich relativ bodenständig. Vermutlich wird sich das ändern, sobald ich sabbernden Mutationen gegenüberstehe.
"Und was sollen wir jetzt machen?",
frage ich, da ich mir beim besten Willen keine geeignete Reaktion aus dem Hut zu zaubern weiß.
Langsam dreht Jacy seinen Kopf zu mir, seine giftgrünen Augen verhaken sich einen Moment lang mit meinen; ich kann die Emotionen darin beim besten Willen nicht deuten. Er wirkt auf keinen Fall ängstlich, bloß etwas unschlüssig und unsicher. Ob sich Mutationen wohl gegenseitig auch töten? Wäre das nicht kontraproduktiv für ihre Mission?
Ich erwarte eigentlich eine einfache verbale Antwort, stattdessen aber springt der Kater ruckartig auf, drückt mir ohne Vorwarnung das Küchenmesser in die Hand und schubst mich die Treppen hoch, sodass ich mitsamt einem abermals totenblassen Sam wie Dominosteine umfliege.
Keine Sekunde später kracht es; der Lärm kommt vom Vorraum, von mir aus gesehen also links von unseren Standpunkt. Die Haustüre knirscht dumpf in den Angeln, als würde sie schmerzerfüllt aufstöhnen, dann knackt es ohrenbetäubend laut und etwas fällt hallend zu Boden.
Sie haben die Tür eingetreten.
Und da fliegt mein Puls auch schon wieder, hoch, hoch hinaus...
Zu meiner Überraschung ist es Sam, der sich als erster von uns beiden fängt. Geistesgegenwärtig, wie ich es ihm nie zugetraut hätte, packt er mich am Arm und zerrt mich auf die Beine. Bloß aus dem Augenwinkel kann ich sehen, wie Jacy mit angelegten Ohre und ausgefahrenen Krallen in den Flur springt, jedoch nicht unbedingt sehr offensiv.
Im nächsten Moment stürzt sich auch schon eine Gestalt auf ihn; ihm fahlen Licht der Beleuchtung des Obergeschoßes reflektieren dumpf glänzende Schuppen, ein dicker Reptilienschweif saust hinter der wulstigen Gestalt hinterher. Der Körper dieses Wesens wirkt auf mich, als habe ein Bodybuilder zu viel Doping benutzt; die Muskeln sind aufgeblasen und formen den Leib eher unförmig als attraktiv. Gelb leuchtende Repitlienaugen funkeln im Halbdunkeln zu mir herüber, eine Reihe nadelspitzer Zähne blitzt im schwachen Licht des Treppenaufgangs.
Mehr sehe ich auch nicht mehr, denn da zerrt mich Sam auch schon um die Ecke in den nächsten Stock. Perplex stolpere ich hinterher, in meine eigenen vier Wände hinein. Keiner von uns sagt ein Wort.
Nur das laute Kreischen der Kämpfenden ist zu hören; wem genau welcher Laut gehört, vermag ich nicht zu sagen.
"Wir... Wir müssen hier weg! Hier oben sind wir ein gesperrt wie die Mäuse im Schlangenkäfig."
Was für einen schönen Vergleich sich der Herr Student doch selbst unter Todesangst aus dem Ärmel schütteln kann. Meine Deutschlehrerin wäre stolz auf ihn.
Meine Gedanken rasen. Wie flimmernde Lichter ziehen sie vor meinem inneren Auge vorbei, viel zu schnell, als dass ich eine nützliche Idee hätte fassen können. Pures Adrenalin fegt durch meine Adern und lässt meine Atmung unkontrolliert hektisch werden.
Ich hasse Stress. Ich hasse ihn so sehr...
Ich schniefe unterdrückt, doch glücklicherweise wird dieser kurze Anfall von Schwäche von dem Lärm aus dem Erdgeschoß verschluckt. Unten kracht und rumst es, als würde dort unten ein dritter Weltkrieg ausgefochten werden, hin und wieder hallt ein spitzer Schrei vom Treppenaufgang zu uns herüber. Doch sie alle sind zu hoch und schrill, als dass sie Jacy gehören hätten können. Dafür kommen mir ein paar andere Kandidaten in den Sinn...
"Vielleicht... können wir auf das Dach klettern... Oder die Dachrinne hinunterrutschen... oder..."
Sams Stimme wird rau und heiser, je mehr er redet, als habe er schreckliches Halsweh. Seine Augen werden wässrig und er wischt sich immer häufiger über das fleckige Gesicht. So eine Pussy.
Selbst ich heule nicht, und als Mädchen wäre es immerhin mein gutes Recht, in jeder noch so unangenehmen Situation auf die Tränendrüse zu drücken.
Doch zugegeben, brennen meine Augen doch schon recht verräterisch.
"Ich will nicht sterben...",
wimmert der starke Militärbesucher nun. Seine Schwäche bewegt mich seltsamerweise tatsächlich dazu, mich halbwegs zusammenzureißen, und ich packe ihn grobe am Handgelenk. Sofort schießt sein Blick zu mir, seine Pupillen sind riesig vor Angst.
"Da ist keine Regenrinne. Aber jede Menge Efeu."
Ich fixiere sein blasses Gesicht, sowie auch er mich stumm anstarrt. In seinem vor Angst benebelten Gehirn scheint meine Andeutung zu einer Erkenntnis heranzuwachsen.
"A-aber hält er uns...",
setzt er an, wird dann aber unterbrochen.
Nicht von mir oder von einem Geräusch, sondern von Stille.
Sie tritt so abrupt ein, dass sich sofort sämtliche Härchen auf meinen Armen aufstellen und ich prompt den Atem anhalten.
Es ist nun totenstill im Haus.
Und diese alles verschlingende, eisige Ruhe ist viel, viel schlimmer als ein tobender Kampf.
Denn der Tod kommt bekanntlich immer still und leise dahergeschlichen, bevor er sich seine Opfer holt.
× × ×
Sam heißt er also. Hört Hört.
Was haltet ihr bis jetzt von der Bisamratte? Ganz süß, oder mehr Richtung Ungeziefer?
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