Über Panik und Tapferkeit

Lange konnte ich die Ruhe und Zweisamkeit mit Rooba jedoch nicht genießen, denn bald schoss eine Herde Gnus an uns vorbei, ein Zug aus tausenden Tieren, der nicht enden wollte. Die Gnus preschten so nah am Zaun des Heims vorbei, dass mir fast das Herz in die Hose rutschte. Rooba begann zu weinen, der Boden vibrierte. "Pscht, mein Schatz", hauchte ich und hielt ihr etwas unbeholfen die Ohren zu. Was treibt diese Tiere dazu, hier vorbeizurennen?, dachte ich, obwohl ich die Antwort kannte. Trockenzeit. Es wurde Sommer in Afrika, und auch wenn sich die Temperaturen nicht wirklich unterschieden, so regnete es im Sommer doch wesentlich weniger. Wir hatten Glück, an einem Fluss zu leben, der von einer sicheren Quelle gespeist wurde. Trotzdem würde eine harte Zeit auf uns zukommen. Die Löwen würden hungriger werden, denn sie ziehen nicht weiter. All ihre Beutetiere zogen zu Gegenden, in denen es genügend saftiges Gras gab. Hier würde der Boden aussterben, Pflanzen, von denen wir aßen, vor Trockenheit eingehen. Und auch wir waren Jäger, die zusehen mussten, wie die Beute davon zog. Wir lebten von Wurzeln und Beeren, die nur sprossen und wuchsen, wenn es Wasser gab. Und das würde es ein halbes Jahr nicht geben. Die Löwen würden uns für dieses halbe Jahr als Beute sehen, zumindest in den letzten Wochen der Trockenzeit. Fast schon alamiert sprang ich auf, flitzte hinüber auf die andere Seite des Flusses, hinein ins Haus. Inzwischen rauschten die letzten Gnus an uns vorbei und natürlich brauchte ich Thabo nicht wecken. Das Vibrieren des Bodens hatte ihn geweckt. Ich brauchte ihn auch nicht ansprechen auf das, was auf uns zukam, er war nicht dumm. Im Gegenteil, er kannte den Zyklus des Jahres womöglich besser als ich. Es reichte ein langer, ernster Blick und wir wussten beide, dass wir zu tun hatten. Wir brauchten Vorräte, Wurzeln, mussten uns um das Weizenfeld kümmern. Unsere einzigen konstanten Nahrungsquellen, die uns bleiben würden, waren die Fische aus dem Fluss und Früchte aus dem Regenwald. Wobei man bedenken musste, dass ein Ritt dorthin in den kommenden Monaten ein hohes Risiko bedeutete. Früher wäre ich dieses Risiko eingegangen, aber jetzt hatte ich Verantwortung zu tragen. Ich war gebunden an Mann und Tochter. Was jetzt eigentlich ein Nachteil war, doch den Gedanken verbannte ich aus meinem Kopf. "Ein paar Zebras werden uns bleiben", sagte Thabo. "Zumindest die, die zu alt oder zu schwach für die Reise sind." "Ihr Fleisch ist aber weder gesund noch nahrhaft, noch schmackhaft", gab ich schroff zurück. Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Ich wollte mich sofort auf Rofus' Rücken schwingen, mit meinem Speer und Pfeil und Bogen und jagen. "Rhona, beruhige dich." Thabo hatte meine Anspannung gemerkt und drückte mich sanft auf den Boden. "Beruhige dich", wiederholte er. "Uns bleibt eine Woche, maximal zwei, in der wir für sechs Monate vorsorgen müssen!", rief ich und rang die Hände. Thabo fuhr liebevoll durch mein Haar. "Hör zu: es bringt nichts, mit leerem Magen loszuziehen." Wo er recht hatte, hatte er recht. "Wer passt auf Rooba auf?", fragte ich hysterisch. "Ich nehme sie mit zum sammeln", sagte Thabo, "dann kannst du jagen." "Dann beißt dir wieder eine Schlange ins Bein, oder ihr! Und sie ist so klein, es braucht nicht viel Gift, um sie zu töten. Was ist mit anderen Jägern?" Ich stopfte mir eilig ein Stück Banane in den Mund. "Die anderen Jäger sind noch nicht hungrig, Rhona", sagte Thabo ruhig. "Sieh dich doch um, die Savanne strotzt vor lauter Leben. Die Nahrung verschwindet nicht von jetzt auf gleich." Es stimmte. Ich war viel zu sehr abgedreht vor lauter Panik. Jetzt tat es mir leid, dass ich ihn so angebrüllt hatte. Schuldbewusst drückte ich ihm einen Kuss auf die Schulter und schlang meine Arme um seinen Bauch. "Es tut mir leid", sagte ich leise. Thabo winkte lächelnd ab. "So lange alles in Ordnung ist. Und jetzt schnell. Wir müssen frühstücken und dann los." Und wir genehmigten uns so viele Fette und Kohlenhydrate wie noch nie zuvor. Wir mussten nie wirklich hungern, doch normalerweise rationierten wir die Nahrung, während wir uns heute den Bauch voll schlugen mit saftigem Straussenfleisch, sättigenden Wurzeln und vitaminreichen Früchten und Beeren. Heute und für die nächsten Tage galt es, so lange durchzuhalten wie möglich. Nachdem wir fertig gegessen hatten, verpackten wir die verbliebenen Lebensmittel sorgfältig in Blättern und kühlen Krügen, die sie haltbar machten. Anschließend trafen wir letzte Vorbereitungen, entließen die Tiere, die fortziehen mussten, aus dem Heim. Dann nahmen wir sogar jeder ein paar Mullbinden und Medikamente mit, damit wir uns verarzten konnten, falls uns was zustieß. Als ich mich von Thabo verabschiedete, hatte es etwas endgültiges, etwas langwähriges. Etwas, das meine Hände schwitzen ließ. "Pass gut auf die Kleine auf", sagte ich mit tränenerstickter Stimme. Rooba hatten wir mithilfe eines Lederstriemens auf seinen Rücken geschnallt, wo sie ziemlich sicher war. Außerdem hatte ich Milch abgefüllt und sie Thabo gegeben, falls sie Hunger bekommen sollte. "Und pass auf dich selber auf. Egal, wohin du gehst, merke dir immer den Weg und gib Acht!" Ich warf mich ihm um den Hals, so sehr bangte ich darum, ihn zu verlieren. Thabo hingegen schien meine Panik als übertrieben zu empfinden. "Ich pass schon auf, Rhona, keine Sorge. Achte du lieber darauf, gut zu ziehlen." Er knuffte mir zum Abschied noch in die Seite, dann drehte er sich um und stapfte los. Ich erlaubte mir, zwei, drei Tränen zu vergießen, als er sich plötzlich zu mir umdrehte. Doch er war zu weit weg, um zu sehen, dass ich weinte. "Wir sehen uns zum Abendessen!", rief er mir zu. Ich nickte und reckte das Kinn nach vorn. Ich gefiehl mir ja selbst nicht, wenn ich feige war. Feige sein passte nicht zu mir, denn ich war viel zu tapfer, um mich zu fürchten. Von diesem Gedanken bestärkt schulterte ich den Köcher, in dem sich ein Dutzend Pfeile befanden, nahm den Bogen  und stieg auf Rofus's Rücken. Die Speere hatte ich Thabo mitgegeben, falls er sich würde verteidigen müssen. Doch ich hatte ein Messer bei mir im Gürtel, denn auch wenn ich zielsicher war, kam es hin und wieder vor, dass ich ein Tier nicht richtig traf. Da war es immer praktisch, ein Messer hinterherzuwerfen. Doppelt hält besser.

Sobald wir einige Minuten geritten waren, ging es mir merklich besser. Es wehte ein starker, heißer Wind, der mir die Haare aus dem Gesicht hielt und ich saß hoch oben auf meinem Ross und fühlte mich unbesiegbar. Was auch immer mir in den Weg kommen würde, ich würde es zur Strecke bringen. Heute fühlte ich mich nach jagen. Es war ein guter Tag, das spürte ich. Was ich ebenfalls spürte, während Rofus mich durch die Savanne trug, war, dass das Leben nicht aufgehört hatte. Das wurde mir gerade jetzt bewusst, als ich den Bogen in meiner Hand betrachtete, denn auch wenn ich mit Thabo in unsere eigene kleine Welt abgetaucht war, so ging es doch immer noch ums nackte Überleben.

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Hey, liebe Leser! ♥ Es freut mich, dass 'Evolution' auf dem besten Weg ist, die 25.000 Clicks zu schaffen. ♥ Noch mehr freuen würde mich aber, wenn ihr einen lieben Kommentar hinterlasst, denn die sind wieder weniger geworden. :-( Also dann, schönen letzten Schultag und bis zum nächsten Kapitel! :D

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