Aufbruch
Ja, in dieser Nacht konnte ich gut einschlafen. Ich war bis in die Poren aufgewärmt und erfüllt von Optimismus. Ich wusste jetzt, dass wir irgendwo im Nirgendwo ein besseres Leben führen würden und ich wusste, dass wir dort ankommen würden. In dieser Nacht ließ ich meine Tochter nicht los, und Thabo hielt mich fester im Arm als sonst. Es war unsere letzte Nacht hier, das war uns beiden bewusst. Und während ich schlief, blieb er wach, um für mich da zu sein, wenn ich einen schlechten Traum haben und aufwachen würde. Diese Nacht achtete er auf jeden meiner Atemzüge. Aber ich wachte nicht auf. Ich schlief bis zum Morgengrauen und kam mit einem wunderbaren, verliebten Kribbeln im Bauch in die Realität zurück. "Guten Morgen." Thabo drückte mir einen Kuss auf die Stirn, bevor ich erst die Augen öffnete. "Hey", gähnte ich und setzte mich auf. Innerhalb von Sekunden war ich hellwach. "Wir müssen packen." Vorsichtig und darauf bedacht, sie nicht zu wecken, legte ich Rooba in ihr Bettchen. Thabo zog mich sachte zu sich zurück. "Das habe ich schon erledigt", nuschelte er in mein Haar. "Ist es viel?" Ich fuhr seine Unterarme auf und ab. "Es geht. Wenn man es anschaut, besitzen wir gar nicht mal so viel." Er stieß einen kleinen Lacher aus, doch mir blieben die Töne im Halse stecken. Es gab nun kein Zurück mehr, niemals. Wir, beziehungsweise ich, hatte mich für diesen Einschnitt in mein Leben entschieden und auch wenn ich nun von Ruhe und Zuversicht erfüllt war, es fühlte sich doch so komisch an, den Ort zu verlassen, der mir so vieles gewesen war. Die hölzernen Arme meiner Hütte hatten mich beschützt, mich in den Arm genommen, wenn ich Trost gebraucht hatte. Der Wind hatte für mich gesungen. Jesa hatte viele Jahre lang eine wunderbare Begleiterin abgegeben; der Fluss hatte mich gestillt wie ein Kind. Die Savanne war mir eine Ersatzmutter gewesen. Hier hatte ich gelernt, getanzt, gelacht, geweint, gejagt, mich verliebt. Doch der Fluss der Liebe zog uns heraus in fremde Länder und das war auch gut so. Trotzdem, mir fiel der Abschied nicht leicht. Ich schluckte. "Also können wir gleich aufbrechen?", fragte ich heiser. "Nimm dir Zeit", antwortete Thabo liebevoll. Ich nickte, dann löste ich mich vosichtig aus seinen Armen. "Lass mir ein paar Minuten, ja?" Mein Lächeln scheiterte zu einer traurigen Grimasse. Thabo drückte meine Hand. "So viele, wie du brauchst", sagte er verständnisvoll. "Ich werde bei Rooba bleiben." Ich seufzte dankbar. Er verstand, dass ich Zeit für mich brauchte, um mich zu verabschieden. Lautlos tapste ich aus dem Haus. Draußen färbte sich der Himmel gerade lila-blau, es war sehr früh. Ich schloss die Augen und atmete den Geruch von trockenem Gras, vom Wasser des Flusses, von der Würze der verschlafenen Savanne ein, die still und unberührt vor mir lag. Alles schlief. Alles, außer Thabo und mir. Seufzend wandte ich mich ab und durchquerte den Fluss. Anders als sonst waren meine Schritte heute sehr schleppend, fast war es mir, als stapfe ich nicht durch Wasser, sondern durch dickflüssiges Blei, das mich festhalten wollte. Aber so war es nicht. Es war derselbe Fluss wie all die Jahre zuvor.
Am Grab meiner Familie angekommen kniete ich mich hin. Sie sollten wissen, dass ich ihnen in diesem Moment so nahe wie möglich sein sollte, also schwieg ich einige Sekunden und versuchte, mir ihre Gesichter ins Gedächtnis zu rufen. Als sie in meinen Gedanken auftauchten, lächelten sie befreit und entspannt. Ich sah keine Qual und keine Enttäuschung in ihnen. "Es tut mir leid", hauchte ich zittrig. "Lebt wohl." Mit den Fingern meiner rechten Hand strich ich über das Gras auf ihrem Grab. Ich tastete nach dem Stein, den ich damals im Fluss gefunden hatte, drehte ihn in den Händen und drückte ihn schließlich an meine Brust. Kurzerhand steckte ich ihn in die kleine Tasche meines Kleides, sodass ich wenigstens eine kleinere Erinnerung von ihnen und diesem magischen Ort bei mir trug. Ich würde ihn an meinem neuen Zuhause an einem ganz speziellen Ort aufbewaren, einem kostbaren Ort, den ich nur besuchen würde, im für ein paar Minuten bei meiner Familie zu sein.
Ich unterdrückte die aufkommenden Tränen nicht, denn sie waren es wert, meine Familie war es wert. Tropfen um Tropfen fiel auf den ausgedörrten Boden. Ich stellte mir vor, dass dort, wo meine Tränen in die Erde drangen, eine wunderschöne Blume wachsen würde. Danach ging es mir erheblich besser, doch eine Kleinigkeit musste ich noch sagen, um in Frieden zu gehen. "Ich liebe euch." Langsam stand ich auf, legte meine Hand auf den Stein in meiner Tasche und sah lächelnd auf das Grab zu meinen Füßen. Jedoch sah ich kein Gras, ich sah sie, wie sie lachten und nickten und sich an den Händen nahmen, um zu tanzen. Mit diesem Bild im Kopf drehte ich mich schließlich um und watete durch das Wasser, zurück zur anderen Seite.
Thabo hatte Rofus schon beladen und war dabei, die Vorratstaschen so aufzufüllen, dass sie uns einige Wochen reichen würden. Schweigend nahm ich zwei große Krüge, ging zum Wasser und ließ sie volllaufen. Danach zwei weitere. "Bist du bereit?", fragte Thabo, als ich zurück war. "Nein", sagte ich und lachte gequält. Er sah, dass ich geweint hatte, das wusste ich, aber er sprach mich nicht darauf an, was ich ihm sehr hoch ansah. Ich wollte nicht darüber reden und scheinbar hatte er ein sehr feines Gespür für meine Gefühle. Vielleicht sprach mein Gesichtsausdruck auch einfach nur Bände. "Die Meerschweinchen", brachte ich krächzend hervor und lief zu ihrem Gehege, um sie zu befreien. Thabo hatte ein paar von ihnen geschlachtet und eingepackt, aber das war okay. "Lauft", wisperte ich. "Lauft und genießt eure Freiheit." Das ließen sie sich nicht zweimal sagen. Kaum hatte ich den Zaun aus der Erde gerissen, strömten sie in ihrer kleinen Herde davon. Einige von ihnen fiepten aufgeregt. Sehnsüchtig sah ich ihnen hinterher, bevor mein Blick auf die Erdmännchenstadt fiel. Nie mehr würde ich sehen, wie kleine Erdmännchen die Welt entdecken. Aber dafür würde ich die Welt entdecken. Ich würde so viel mehr sehen von dieser Erde als sie. Eigentlich müssten sie mich beneiden, wenn sie es könnten, stattdessen wünschte ich mich in ihre Erdbauten. "Sei kein Feigling", zischte ich mir zu. Schließlich trabte ich zu Thabo zurück. "Nichts wie weg", rief ich, wischte mir verstohlen über die Augen und stürmte davon. Thabo packte Rofus' Zügel. "Bist du wirklich bereit?", fragte er wieder. "Und wie!", sagte ich atemlos und blieb stehen. Er folgte mir erst zögerlich, doch als er merkte, wie ernst ich es meinte, wurden sein Schritte entschlossener und strammer. Lächelnd schob er seine Hand in meine, während wir dem Sonnenaufgang entgegen gingen. Lächeln konnte ich nicht. Aber ich war stark genug, mich nicht umzudrehen, denn ich wollte das Ziel sehen und nicht das Mädchen, das ich mal gewesen war.
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Jetzt sind sie weg. ♥ Was meint ihr, wie es weitergehen wird? Schreibt es in die Kommis! ♡ Ab 8 fange ich mit dem neuen Kapitel an. ;)
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