Kapitel 4

Schon eine Woche war vergangen, seitdem ich diesen Jungen getroffen hatte. Und es gab keinen einzigen Tag, an dem ich nicht zumindest ein Mal an ihn gedacht hatte. Es regte mich auf. Nein, wirklich. Was war mit mir los, dass ich so oft an einen Fremden dachte? Jetzt drehte ich aber wirklich durch.
Es klopfte an meine Zimmertür. Ich nahm die On-Ear-Kopfhörer vom Kopf und sah erwartungsvoll zum Eingang. Meine Mutter betrat das Zimmer.
"Schatz, ich bin's.", sagte sie.
Sie setzte sich zu mir auf das Bett.
"Wir bekommen morgen Besuch. Du kennst doch die Lindersons, die vor zwei Jahren nach Angeles umgezogen waren? Klar kennst du sie. Also... Sie sind wieder hierher gezogen. Und du weißt doch noch, dass sie keine Kinder kriegen konnten... In Angeles haben sie einen Jungen adoptiert."
Interessante Vorgeschichte, aber ich würde gern das Wesentliche erfahren. Irgendwas wollte sie von mir. Aber ich wartete geduldig, bis sie das selbst ansprach.
"Also hatten wir uns mit Papa überlegt, ob ihr denn vielleicht nicht Freundschaft schließen könntet."
Ohhhh neiiiiin. Warum erwarteten meine Eltern denn genau das von mir, was ich so sehr verhindern wollte?
"Ist es wirklich nötig?", fragte ich genervt.
"Der Junge hatte eine schwere Vergangenheit und wir dachten, du..."
Sie stoppte ihre Rede und sah weg. Was hatte sie zu sagen gewollt? Dass ich und der Junge durch meine Erblindung so etwas wie verwandte Seelen waren? Guter Witz, Mom.

Ich hörte das laute Klingeln an der Tür. Meine Mutter kam in mein Zimmer, um mich durch das Haus ins Wohnzimmer zu führen, wo mein Vater schon mit den Gästen wartete. Es wäre so viel einfacher, wenn ich meinen Eltern sagen könnte, dass ich im Stande war, sie zu sehen. Doch als ich es mal versucht hatte, fuhr so ein heftiger Schmerz durch meinen Körper, dass meine Eltern gedacht hatten, ich hätte einen epileptischen Anfall.
Die Lindersons hatte ich noch gut in Erinnerung. Der Mann war etwas dicker und hatte so richtig dunkle Haare, dunklere Haut und schokobraune Augen. Die hellhäutige Frau hingegen sah einfach nur zu schlank aus, ihre kurzen Haare hatten einen langweiligen Braunton, aber die Augen... Sie hatten immer in einem satten blau geglitzert. Schade, dass ich das alles jetzt nur grau sah.
Ich erstarrte, als mein Blick auf den Jungen fiel. Haare, die zu allen Seiten abstanden, und Augen, die sogar jetzt noch türkis aussahen. Ich war einfach nur entsetzt und das sah man mir auch mit der Brille an. Wie?! Wie ging das?!
"Jane, alles gut?", fragte mein Vater.
"J... ja.", stammelte ich und blinzelte, um wieder zu mir zu kommen.
"Tyler, was ist los?", wollte die Mutter des Jungen von ihm wissen.
Tyler. Er sah genauso entsetzt aus wie ich. Dann schüttelte er den Kopf und lächelte leicht.
"Nichts, nichts. Ich fand es nur schon immer interessant, wie Menschen leben, denen etwas gesundheitlich fehlt.", antwortete er.
Ja, ja, ja, als ob. Der war aber ein schlechter Lügner. Meine Mom hatte gesagt, sie und Dad fänden die Freundschaft zwischen mir und dem Lindersons-Jungen gut, weil ich ihm was beibringen konnte. Sie meinte die guten Manieren. Ich dachte jetzt über das Lügen.
"Jane, hättest du was dagegen, wenn Tyler in dein Zimmer mitkommt?", fragte mich meine Mutter.
Ja, ich hatte was dagegen. Es war mein Zimmer und Fremden war der Zutritt verboten.
"Nein, natürlich nicht.", log ich.
Also erklärte sie dem Jungen den Weg zu meinem Zimmer, hackte mich bei ihm ein - das gefiel mir so ganz und gar nicht - und er führte mich dann aus dem Wohnzimmer.
"Fass hier nichts an.", sagte ich gleich, als wir das Zimmer betraten, drehte den Stuhl vor meinem Tisch in seine Richtung und setzte mich hin. "...Tyler."
Er sah sich kurz in meinem Zimmer um und setzte sich auf mein Bett, musterte mich.
"Du kannst also wirklich sehen.", entgegnete er. "...Jane. Wie geht das?"
Ich zuckte die Schultern.
"Warum wissen deine Eltern nichts davon?"
"Weil ich es ihnen nicht erzählen darf. Noch mehr Fragen?"
"Ich sehe, du bist wirklich erpicht auf unser Treffen. Du quillst ja vor Freundlichkeit.", ironisierte er.
Ha ha ha, er war ja lustig.
Ich seufzte. "Tut mir leid. Aber ich kann mich nicht mit dir anfreunden. Liegt nicht an dir."
"Eifersüchtiger Boyfriend?", warf er leicht grinsend ein.
Machte er Witze?
"Also bitte! Wie soll ich damit" Ich wies mit dem Zeigefinger auf meine Augen. "einen Freund finden? Es verderbt ja den ganzen Anblick."
Früher waren meine Augen schön gewesen. Smaragdgrün. Jetzt hasste ich sie. Was hasste ich eigentlich noch alles?
"Wo liegt also das Problem?", wollte Tyler wissen und hob eine Augenbrau.
Das Problem war größer, als er sich denken könnte. Aber ich konnte ihm ja schlecht sagen, dass ich eine Killerin war. Da wäre sogar die Eifersucht glaubwürdiger. Für diese Lüge war es jedoch schon zu spät. Tja, dumm gelaufen, Jane.

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