Kapitel 2
Hätte ich Freunde, würde ich jetzt einen von denen besuchen gehen. Aber schon nach Valerys Tod wurde mir klar, dass ich keine neuen Freundschaften knüpfen und alte beenden sollte. Es wäre zu schlimm, wenn ich noch jemanden aus meinem Freundeskreis umbringen müsste. Mit unbekannten Menschen ging es viel einfacher. Deshalb hatte ich die Bekanntschaften nur auf meine Eltern begrenzt. Doch ehrlich gesagt wusste ich nicht, was ich tun sollte, falls die Erinnerungen des einen von beiden in meinem Kopf auftauchen. Wahrscheinlich würde ich mich selbst umbringen.
Ich verlangsamte meinen Schritt und überlegte, wann mir zuletzt ein Opfer zugeteilt wurde. Und war mir ziemlich sicher, dass ich in diesem Monat noch keinen hatte. Dann sollte ich mich wohl langsam vorbereiten, jemanden töten zu gehen. Ich verglich diesen Fluch immer mit Perioden. Ich hatte's halt und musste damit leben, denn aufhören würde es doch ganz bestimmt nicht. Außerdem konnte ich in dieser Zeit wieder richtig sehen und sollte mich zumindest dafür bedanken. Und hey, meine Augen passten sich auch der Dunkelheit an. Seit Kürzerem.
An der Kreuzung bog ich nach rechts ab und überquerte die Straße. Noch hundert Meter und ich hätte eine Bäckerei erreicht. Doch ein stechender Schmerz fuhr plötzlich von meinem Kopf aus durch alle Nerven, ich drückte die Hände an die Ohren und ging mit einem Aufstöhnen in die Knie. Es war schon lange nicht mehr so schmerzvoll gewesen. Bilder tauchten vor meinem geistlichen Auge auf, ich hörte unbekannte Stimmen, die mir auf eine Weise doch bekannt vorkamen.
Aber dann drang eine andere Stimme zu mir durch, die mich langsam aus falschen Erinnerungen zurück in die Realität führte.
"Hey! Ey, was ist mit dir los?! Hallo! Hörst du mich? Du! Kannst du mich hören?"
Meine Sicht besserte sich und ich fand den Jungen von vorhin vor mir knien. Er sah mich besorgt an, eine Hand auf meiner Schulter.
Ich nahm meine Hände runter und berührte den leicht warmen Boden.
"Ja.", sagte ich noch gequält von den plötzlichen Schmerzen und fügte hinzu: "Und ich heiße Jane und nicht 'du'."
Ich hasste es, wenn man nur 'du' zu mir sagte. Das klang für mich immer so, als ob man mich nicht für einen Menschen halten würde. Und ich war durchaus ein Mensch.
Der Junge schnaubte grinsend. "Okay, merk ich mir. Geht's dir gut, Jane?"
"Ja.", antwortete ich.
Eigentlich ging es mir noch nicht gut, aber die Wahrheit sollte ich mal für mich behalten.
Die Welt bekam nach und nach wieder an Farbe, jede Kante, jede Ecke sah scharf und spitz aus. Endlich konnte ich mir den Junger genauer ansehen.
Ja, er war wirklich hübsch. Seine so richtig türkisen Augen glänzten leicht, die blonde Haare standen zu allen Seiten ab und es sah nicht mal annähernd danach aus, als hätte er sie am Morgen gekämmt.
Ich muss mir auf die Zunge beißen, um meine Gedanken nicht auch noch laut auszusprechen.
Er verengt die Augen und sieht mich prüfend an. Gewöhnlicherweise hätte ich schon längst 'Was glotzt du so gesagt?', seine Hand gepackt und sie von meiner Schulter genommen. Gewöhnlicherweise wäre ich aufgestanden und einfach gegangen. Hm, warum tat ich es nicht auch jetzt? Gute Frage, nächste Frage.
"Was hast denn du?", meinte ich statt allen Gedanken, die mir gerade durch den Kopf gingen.
"Es kommt mir vor, als würdest du mich sehen.", sagte er und schüttelte den Kopf.
Während ich ihn verstört ansah - was er aber durch die Brille sicher nicht erkennen konnte -, schüttelte er den Kopf und nahm die Hand von meiner Schulter. Er stand auf und reichte mir sie. Aus Reflex wollte ich schon danach greifen, aber dann schlug er sich auf die Stirn, schüttelte erneut den Kopf und lachte leicht. "Bin ich dumm."
Er schnappte sich meine Hand und zog mich mit einem Ruck auf die Beine, ich stieß kurz einen überraschten Schrei aus. Er lachte wieder, wurde dann aber ernst.
"Was war mit dir los?", fragte er.
Haaalt...!, stoppte ich mich, bevor ich auch nur den Mund öffnete. Was machte er überhaupt hier? Er war doch in die andere Richtung gegangen. Und auch wenn er mir gefolgt wäre, warum hatte ich ihn nicht gehört?
Ich nahm die Brille ab und ließ ihn meinen kritischen Blick sehen.
"Warum bist du überhaupt hier?"
Er lächelte ausweichend und kratzte sich am Hinterkopf.
"Ich dachte mir, dass du vielleicht doch Hilfe brauchst." Er machte eine Pause. "...Jane."
"Wenn ich sage, ich brauche keine Hilfe, dann brauche ich auch keine.", entgegnete ich unzufrieden.
Ich sah, wie er erzitterte.
"Boahhhh ist das gruselig. Als ob du mich wirklich sehen würdest."
Nun war ich an der Reihe, die Augen zu verengen. Wieso spürte er mein Können so sehr? Meine Eltern merkten nie, dass ich sie wirklich sehen konnte.
"Ehm, hör mal.", fing ich an, setzte die Brille wieder auf und verschränkte die Arme vor der Brust. "Mir geht es gut und ich komme wunderbar ohne jegliche Hilfe klar. Ich danke dir für gerade eben, aber jetzt würde ich es vorziehen, wenn du dahin gehst, wo du hingehen wolltest."
Wie oft hatte ich schon so abstoßend zu jemandem gesprochen, der mir eigentlich sympathisch vorkam? Ehm... Sehr oft? Ja, das passte hin, sehr oft. Ich hasste es, aber das war halt mein Selbstschutz.
Der Junge sah mich plötzlich kalt an, seine Augen waren wie gefährlich spitze Eiszapfen. Er drehte mir den Rücken zu und ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
Diese Reaktion tat zugegebenermaßen ziemlich weh. Ich wollte den Jungen nicht verletzten, wo er doch so nett zu mir war. Doch ich musste es machen. Wer sagte da was von Erfüllung meines Geburtstagswunsches?
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