Kapitel 004
Mir verschlug es regelrecht die Sprache. Mein Hals schnürte sich zu und es fiel mir immer schwerer zu Atmen. Panisch schnappte ich nach Luft. Doch auch wenn ich mehrmals blinzelte stand er immer noch dort. Ich bildete es mir nicht ein.
"E-Entschuldigung." Ich wollte umdrehen und in die Backstube zurück, doch meine Beine gaben nach. Schnell hielt ich mich an der Theke fest, um nicht zusammenzusacken. Ich schloss meine Augen und versuchte tief durchzuatmen, doch alles was ich wollte schien mein Körper nicht mehr zu können.
"Brauchen Sie Hilfe?" Aufgeschreckt schaute ich zu ihm hin. Er sah William zum Verwechseln ähnlich. Unfähig zu antworten schüttelte ich leicht meinen Kopf. "Sie sehen aber nicht gut aus, soll ich Hilfe rufen?" Seine Stimme war hoch, aber auch irgendwie auch rau. Seine blauen Augen musterten mich besorgt und seine Haare lagen vollkommen verwuschelt auf seinem Kopf.
Er war einfach das exakte Abbild von William.
Umso länger ich ihn betrachtete, desto mehr Tränen stiegen mir in die Augen bis sie mir heiß über die Wangen liefen. Zittrig atmete ich durch. Meine Knöchel traten weiß hervor, da mein Griff sich immer mehr verstärkte. Alles drehte sich und ich hatte das Gefühl es würde mir den Boden unter den Füßen wegreißen.
Er telefonierte, doch ich konnte mich auf nichts mehr konzentrieren. Langsam schleppte ich mich zu einem der Sessel im Café-Bereich und ließ mich dort nieder. Mein Kopf pochte. Langsam schaute ich zu ihm hinauf. Es wirkte wie einer der vielen Träume, welche ich seit Williams Tod hatte. Doch ich konnte mir den Mann vor mir nicht länger anschauen. Ich konnte es einfach nicht. Die Ähnlichkeit war so groß, dass es einfach kein Zufall sein konnte.
Erneut ertönte die Klingel und kündigte jemand neues an, weswegen ich aufschaute und in Lotties Gesicht blickte. Mit aufgerissenen Augen schaute sie zu mir und schlug sich die Hand vor den Mund. "H-Harry. Oh mein Gott, es...", sie sprach nicht weiter, sondern lief direkt zu mir und zog mich in ihre Arme.
"Warte, das ist Harry? Der Harry?" Erschrocken blickte mich Williams Abbild an. Ich verstand nun gar nichts mehr und schaute Lottie verwirrt an. "Es tut mir leid Harry. Ich wusste nicht wie ich es dir sagen sollte, deswegen solltet ihr auch nicht zu uns. Er-" Sie fuhr sich durch ihre hellblonden Haare und holte tief Luft bevor sie weitersprach. "Das ist Louis... Williams Bruder. Zwillingsbruder, um genau zu sein."
Erneut verschlag es mir vollkommen die Sprache, weswegen ich einfach nur mit meinem Kopf schüttelte und langsam aufstand. "Raus." Ich wollte von dem allem nichts hören. Rein gar nichts. Doch beide machten Anstalten und bewegten sich keinen Zentimeter. Vermutlich hatten sie nicht damit gerechnet, doch ich wollte sie aus den Augen haben. Louis wusste von mir, aber Lottie hielt es nicht für möglich mir etwas dazu zu sagen. "Ich habe gesagt ihr sollt verschwinden!"
"H-Harry", Lottie schaute mich schuldbewusst an. "Es tut mir leid, wirklich. Ich wusste nicht wie ich es sagen sollte." Doch ich schüttelte meinen Kopf und stand vom Sessel auf, stolperte zur Tür riss sie auf und machte eine ausladende Bewegung. "Ihr beide verlasst sofort dieses Café", zischte ich. Louis schaute mich mit einem Blick an, welchen ich nicht ganz deuten konnte. Lottie schaute einfach nur traurig mit glitzernden Augen zu mir. "Harry-" Doch ich unterbrach sie direkt. "Nein Lottie."
"Lass mich bitte ausreden. Wenn wir schon einmal hier sind, dann lass uns kurz darüber sprechen. Danach kannst du uns immer noch wegschicken."
Seufzend gab ich mich geschlagen. "Ihr habt fünf Minuten. Nicht mehr."
Ich setzte mich wieder auf den Sessel und die beiden setzten sich gemeinsam auf das kleine Sofa vor mir. Kurz blickte ich zu Louis, doch sobald er seinen Blick hob schaute ich woanders hin. Seine Anwesenheit machte mich nervös. Und das war gewiss nichts Positives.
Ich wollte ihn nicht hier haben.
Ich wollte nicht an William erinnert werden. An etwas was ich haben wollte und nicht haben konnte.
Lottie räusperte sich und schien ihre Gedanken zu sammeln.
"Es fängt eigentlich mit der Geburt der beiden an. Mama war damals erst 18 Jahre alt. Sie hatte gerade die Schule beendet und war schon Mutter von zwei Kindern. Louis und William." Nervös faltete sie ihre Hände ineinander und pausierte kurz. Als sie fortsetze hörte ich ihr aufmerksam zu.
Lottie erzählte wie sich die jungen Eltern trennten und wie sich Jay nicht um zwei Kinder gleichzeitig kümmern konnte. Sie hatte kaum Geld und selbst für ein Kind war es zu wenig. Und so ließ sie Louis bei Troy in Doncaster zurück und zog zu ihrer Tante nach London. Geschockt davon schaute ich sie erstaunt an und blickte zu Louis. Ihm schien es auch nahe zu gehen, denn sein Blick war schmerzverzerrt.
Lottie konnte nicht weitersprechen, weswegen Louis das Gespräch - oder eher die Erzählung - vorsetzte.
"Mein Vater hat mir vor 2 Wochen von meinen Geschwistern erzählt. Von meinen anderen sieben Geschwistern. Und das mit Willam und unserer Mutter. Ich habe ihn angeschrien. Ihn gezwungen mir alles zu erzählen. William wusste von mir, doch er wollte es nichts von mir hören. Den Grund wollte mir mein Vater nicht nennen. Naja, und dann habe ich meine Sachen gepackt und bin hierher. Ich wollte nicht noch mehr von meinen Geschwistern verpassen. Nicht noch weitere 28 Jahre."
"Warte, seit zwei Wochen? Seit zwei Wochen verheimlichst du mir so etwas? Ich dachte wir wären eine Familie Lottie. Eine verdammte Familie!" Erneut ließ ich mir Louis Worte durch den Kopf gehen und riss meine Augen auf. "W-William wusste von dir?"
Beide nickten langsam und schauten mich bedrückt an. "Es tut mir wirklich leid. Wie kann ich es wieder gut machen?" Lottie schaute mich fragend an und griff nach meiner Hand, um sie leicht zu drücken. Doch ich entzog sie ihr wieder.
"Lass mir Zeit."
Beide verließen das Café, weswegen ich erleichtert aufatmete. Ich raufte mir durch die Haare und war einfach nur verzweifelt. Ich wusste nicht wie ich mit all dem überhaupt umgehen sollte. Und dann kam mir etwas in den Sinn, worüber ich überhaupt nicht nachgedacht hatte.
Sophie.
Wie sollte ich es Sophie erzählen? Wie sollte ich meiner Tochter das alles erklären? Sobald sie wieder zu Doris und Ernest wollte, würde sie früher oder später auf Louis treffen. Und ich musste sie darauf vorbereiten. Aber wie? Völlig verzweifelt merkte ich viel zu spät, dass eine Kundin hereinkam. Schnell entschuldigte ich mich und kümmerte mich um ihre Bestellung. Nach und nach betraten immer mehr Menschen das Café, weswegen ich gar nicht dazu kam noch weiter über die gesamte Situation nachzudenken. Geschafft und vollkommen müde wurde ich von meinem Chef abgelöst.
"Harry? Ich weiß, ich habe schon oft gefragt und ich verspreche dir, es wird das letzte Mal sein. Ich suche immer noch einen Nachfolger und von meinen Mitarbeitern bist du der Einzige, der genauso viel Liebe, wenn nicht sogar noch mehr als ich, in dieses Handwerk steckt. Bitte denk doch noch einmal darüber nach. Du müsstest mir auch nichts zahlen. Ich überlasse es dir so wie es ist. Nur langsam machen meine Hände nicht mehr mit."
"Ich überlege es mir. Danke Herr Calder." Ich konnte ihm einfach nicht wieder ablehnen. Und insgeheim war es auch mein größter Wunsch. Nur wie sollte ich das mit Sophie schaffen? Anscheinend konnte man es mir im Gesicht ablesen, denn mein Chef fuhr fort.
"Ich bin ja auch noch da. Im Notfall wäre ich immer zur Stelle. Und wenn ich dir noch eins sagen darf, nimm auch einmal Hilfe an. Du bist nicht allein mein Junge." Er klopfte mir auf die Schulter. "Und nun ab nach Hause. Ruh dich aus. Morgen stehen zwei Hochzeitstorten an. Ich gehe dir dann auch direkt zur Hand." Ich verabschiede mich, zog mir meine Alltagsklamotten an und packte die Torte für meine Mutter in eine Schutzverpackung bestehend aus Styropor.
Keine 10 Minuten später saß ich im Auto auf den Weg zu meiner Mutter. Dort angekommen rief ich Gemma noch schnell an und teilte ihr mit, dass ich Sophie erst heute Abend abholen würde. Doch Gemma hatte andere Pläne. Da ich morgen auch wieder in die Bäckerei musste, wollte sie Sophie erst Samstagmittag wieder hergeben. Vermutlich bedankte ich mich zu oft, denn Gemma legte irgendwann lachend auf.
Mit der Torte in meinen Händen klingelte ich umständlich bei meiner Mutter. Gut gelaunt öffnete sie mir die Tür, doch als sie mich erblickte verschwand ihr Lächeln von den Lippen. Besorgt schaute sie mich an. "Was ist passiert?" Sie nahm mir die Torte aus der Hand, stellte sie ab und widmete sich mir direkt wieder. "Komm wir setzten uns. Ich mache dir gerade noch schnell einen Tee." Meine Boots stellte ich ordentlich zu den anderen Schuhen und hing meinen Mantel an die Garderobe. Mit schlurfenden Schritten begab ich mich in das Wohnzimmer und ließ mich auf dem Sofa nieder. Direkt griff ich nach einer Kuscheldecke und legte sie mir über die Beine.
Als meine Mutter wiederkam, nahm ich ihr direkt meine Tasse ab. Sie setzte sich neben mich und schaute mich erwartungsvoll an. "Und jetzt wag es nicht dich irgendwie herauszureden. Ich sehe das etwas nicht stimmt. Was belastet dich mein Schatz?"
"William hat einen Bruder." Verwirrt schaute sie mich an. "Ja natürlich hat er das. Ich kenne Ernest doch." Ich schloss kurz meine Augen und holte tief Luft. Es war, als musste ich meine Kräfte sammeln. "Ich meine nicht Ernest. Ich meine Louis. Er ist- er ist Williams Zwillingsbruder." Meine Mutter schaute mich geschockt an und brachte für die nächsten Minuten keinen Ton heraus. "Zwillingsbruder?", fragte sie ungläubig. Bestätigend nickte ich und nahm einen Schluck von dem Tee bevor ich die Tasse auf dem Beistelltisch abstellte.
"Er- Er kam einfach in das Café und dann stand er da. Ich-" Tränen bildeten sich und kullerten über meine Wange. "Ich habe zuerst gedacht ich bilde es mir ein. Ich habe für einen kurzen Augenblick geglaubt es sei William. Das er auf unerklärliche Weise zurück wäre. Zurück zu mir." Schluchzend vergrub ich mein Gesicht in meinen Händen und weinte hemmungslos. Alle Gefühle, welche ich mir seit heute morgen verkniffen hatte, brachen über mir zusammen. Mein ganzer Körper zitterte. "Es tut mir so leid Harry. Das tut es mir wirklich." Ihre Stimme drang kaum zu mir durch, doch was ich merkte war, dass sie vorsichtig ihre Arme um mich legte.
Nur leise vernahm ich Schritte. "Was ist denn hier los?" Die tiefe Stimme ließ mich aufschauen. Robin schaute mich mit Sorge erfüllt an und setzte sich neben mich auf das Sofa. Er drückte meinen Kopf an seine Schulter und legte einen Arm um mich. Mit der anderen Hand zog er die Decke etwas höher. Beide blieben ruhig und ließen mir die Zeit, die ich brauchte.
Als ich mich einigermaßen wieder gefangen hatte begann ich das zu erzählen was mit Lottie erklärt hatte. Das William und Louis bei der Geburt getrennt worden sind, weil Jay sich nicht um zwei Kinder kümmern konnte. Sie war ja erst 18 und hatte sich schon während der Schwangerschaft dazu entschlossen sich bald von ihrem Freund und dem Vater der beiden zu trennen. Während ich sprach liefen mir erneut Tränen über die Wange. Mit zittrigen Fingern wischte ich sie schnell weg und zog meine Nase hoch. Ich setzte meine Erzählung fort und erklärte, dass Daniel sowie Lottie und ihre Geschwister seit nunmehr als zwei Wochen davon wussten. Louis' Vater hatte ihm die Wahrheit gesagt und Louis war direkt zu ihnen von Doncaster nach London gefahren. Schließlich wusste er bis dahin nicht, dass seine Mutter auch nicht mehr lebte. Von dem Tod seines Bruders ganz zu schweigen.
"Oh Gott, das ist aber auch eine grausame Familiengeschichte. Wie kommt man denn auf die Idee Zwillinge zu trennen?" Robin schaute entsetzt. "Ich- Wow- Ich fasse das alles nicht. Das ist... ich bin sprachlos."
"Wie soll ich das nur Sophie erklären? Sowas muss ich ihr sagen. Was ist, wenn sie das nächste Mal zu ihren Tanten möchte und dann ist da ein Mann der wie ihr Vater aussieht. Was ist, wenn sie das nicht versteht?"
Fragen über Fragen plagten mich und ich wusste einfach keine Antwort darauf. "Sie ist doch erst fünf... Was ist, wenn sie es nicht versteht? Sie ist doch noch so klein", ich wurde immer leiser und schaute ratlos von Robin zu meiner Mutter.
"Weißt du Harry, durch den Tod von William ist Sophie für ihr Alter schon reifer als andere Kinder in ihrem Alter. Du solltest dich mit ihr in Ruhe hinsetzen und mit ihr darüber sprechen. Natürlich wird sie das alles nicht auf Anhieb verstehen, aber eines Tages wird sie das", erklärte mir Robin und schenkte mir anschließend ein aufmunterndes Lächeln.
"Ich sehe das genauso. Und wenn du Hilfe brauchst sind wir da. Das waren wir und werden wir auch immer sein. Genauso wie Gemma." Bedrückt schaute ich auf meine Hände und spielte mit dem Saum der Decke. "Ich möchte euch nicht immer zur Last fallen. Ihr habt doch auch zu tun."
"Harry!" Erschrocken zuckte ich zusammen und blinzelte meine Mutter überrascht an. "Robin ist doch schon in Rente. Ich bin es in wenigen Jahren. Was meinst du wie Robin sich freuen würde."
Robin lachte und nickte. "Ich würde gerne an meinem Opa-Dasein noch etwas arbeiten. Es macht mir tatsächlich nicht aus, wenn meine Prinzessin ein paarmal mehr vorbeischauen würde."
Nervös kratzte ich mich am Kopf und stotterte vor mich hin bevor ich mich sammelte und etwas vernünftiges zustande brachte. "Da gäbe es vielleicht noch etwas. Herr Calder sucht einen Nachfolger und er hat sich da an mich gewandt. Er möchte, dass ich alles übernehme."
"Das ist doch wundervoll. Mach das bitte unbedingt. Wie lange hast du schon davon geträumt deine eigene Bäckerei zu führen und jetzt hast du die Gelegenheit dazu", meine Mutter lächelte mich an. "Und das mit Sophie schaffen wir auch. Und schau mal, wenn du die Bäckerei hast musst du nicht mehr abends bei Liam singen. Dann hättest du deine Abende wieder."
"Danke." Meine Stimme zitterte, da ich so gerührt war. Womit hatte ich solche wundervollen Eltern verdient.
"Das ist selbstverständlich", grinste Robin. Ich sagte es nicht oft, doch ich empfand es als passenden Zeitpunkt.
"Danke Papa", murmelte ich leise.
Als ich wieder in Robins Gesicht sah grinste er nicht mehr sondern lächelte gerührt und schloss mich fest in seine Arme.
Über meine Schulter hinweg schaute ich zu meiner Mutter, welche sich die Tränen verkniff und glücklich lächelte.
"Aber Harry, weißt du was ich mich frage? Wusste William von Louis?"
"Ja, er wusste von Louis", flüsterte ich. "Troy, der Vater der beiden, hatte schon immer Kontakt mit William. Aber es war etwas vorgefallen und seitdem hat William das Thema totgeschwiegen."
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2430 Wörter 02/08/2020
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