Kapitel 001
1 Jahr zuvor
Die regelmäßige Atmung dreier sich liebender Menschen erfüllte den sonst so leeren Raum. Es war kein besonders schöner Tag. Der Regen prasselte nur so gegen das Fenster und der kühle Wind wirbelte das Laub auf der Straße auf. Es war einfach nur kalt, nass und ungemütlich.
Die kleine Familie war schon fast im Krankenhaus eingezogen. Schließlich konnten die drei nicht ohne einander. Vor allem nicht die beiden Ältesten.
Ein junges Ehepaar.
Vom Äußeren könnten sie nicht unterschiedlicher sein. Der eine groß gewachsen mit lockigen Haaren und grünen Augen, welche pure Liebe widerspiegeln. Der andere war kleiner, stets wuschelige Haare und strahlend blaue Augen.
Da der Ältere von den beiden auf der Hospiz-Station des Krankenhauses lag, schlug man ihnen auch keinen Wunsch ab. Schließlich setzte man hier alles daran den Kranken einen so angenehmen Abschied wie möglich zu verschaffen. Und den Angehörigen versuchte man den Abschied so einfach wie möglich zu machen. Selbst an diesem Tag hatte die kleine Familie Besuch von einem Trauerbegleiter. Erst hatten sie sich dagegen gesträubt. Doch nach ein paar Wochen kam die Einsicht, dass es besser wäre. Vor allem für das kleinste Mitglied der Familie.
Harry saß völlig ausgelaugt und mit seinen Kräften am Ende an dem Krankenhausbett seines Mannes. Seine Stirn war vollkommen in Falten gelegt und seine Haare waren unordentlich in einem Dutt hochgebunden. Die letzte Rasur war auch schon ein paar Tage her. Er wollte die Zeit lieber in etwas wichtigeres investieren. Die eigenen Bedürfnisse stelle der groß gewachsene Mann ganz hinten an.
Aber für ihn war das in Ordnung. Lieber steckte er zurück, als das den beiden Menschen, ohne die der Lockenkopf nicht konnte, etwas fehlte.
Seine linke Hand strich im Takt seiner Atmung über den Bauch seiner Tochter. Sophie saß auf dem Schoß ihres Vaters und schlummerte in einer Decke eingepackt mit ihrem Rücken an seine Brust gelehnt.
Sophie erblickte das Licht der Welt vor vier Jahren und war das Beste, was den beiden jungen Vätern jemals passieren konnte. Sie war ein sehr fröhliches und aufgewecktes Mädchen. Sie brachte immer Licht ins Dunkle. Momentan war sie jedoch eher in der Trotzphase und strapazierte die Geduld ihrer Eltern. Doch es störte sie nicht. Im Gegenteil, sie sahen es als ihren Weg die momentane Situation zu verarbeiten. Sophie hatte sich in den vergangenen Tagen viel gesträubt. Sie wollte nicht in den Kindergarten und so hatte Harry keine andere Wahl gehabt und nahm sie mit.
Aber wer konnte es ihr verdenken? Sie war noch so klein und ihr Vater war tot krank. Sophie hatte einfach nur Angst.
Die rechte Hand des Lockenkopfes hielt die Hand seines Mannes. Dieser schaute mit seinen blauen Augen müde in die Richtung der beiden wichtigsten Menschen in seinem Leben.
"Liebling? Schlaf bitte etwas. Du musst deinem Körper auch einmal Ruhe gönnen. Sophie und ich sind hier. Es ist alles gut." Seine Stimme zitterte und er musste ein paar Mal tief durchatmen bevor er weitersprach. Alles in seinem Körper fühlte sich schwer an. Als würde ein Felsbrocken auf seinem Oberkörper liegen. In Wahrheit war es kein Felsbrocken, sondern alle Sorgen des sterbenden Vaters. Er hatte keine Angst vor dem Tod. Seit seiner ersten Diagnose war viel Zeit verstrichen. Doch die zweite Diagnose brachte das Dunkle ins Leben, aber er hatte es akzeptiert.
Vielleicht sogar besser als die Menschen in seinem Umfeld. Er wusste das es früher oder später soweit kommen würde. Schließlich lag es in der Familie. Seine Mutter Johannah starb schließlich auch am Krebs.
Der blauäugige hatte allerdings Angst um seinen Mann. Er hatte Angst, dass er zusammenbrechen würde, dass er in ein Loch fallen würde, ohne es jemals wieder verlassen zu können.
Seit ein paar Tagen konnte er auch nicht mehr mit dem Lockenkopf sprechen. Und das war etwas, was ihn mehr als nur traurig stimmte. Sie konnten sonst über alles reden. Naja, fast alles.
Schlimmer noch war, dass der Mann mit den verwuschelten Haaren ein Geheimnis hatte. So groß und schwer, dass es ihn fast lähmte, wenn er daran dachte. Er wusste, dass es richtig wäre es seinem Mann mitzuteilen. Schließlich hatten sie sich geschworen immer ehrlich zu sein. Aber das konnte er nicht. All die Jahre hat er versucht es über seine Lippen zu bringen. Doch er schaffte es nicht. Er konnte nicht. Seine Angst vor Ablehnung war zu groß. Und so behielt er gegenüber seinem Lockenkopf Stillschweigen.
"Bitte schlaf etwas, Harry." Der blauäugige wiederholte seine Bitte. Anschließend hustete er und klopfte sich schwach auf die Brust. Er hatte das Gefühl zu ertrinken.
Der Mann mit den grünen Augen drückte behutsam die Hand seines Ehemannes und versuchte ihn mit liebevollen Worten zu beruhigen. Es schmerzte in seiner Seele, seine zweite Hälfte zu sehen. Am liebsten würde er mit ihm tauschen. Hauptsache der Wuschelkopf müsste nicht mehr leiden.
Harry schüttelte langsam seinen Kopf und amtete schwer aus. "Ich will nicht schlafen, ich möchte einfach nichts verpassen. Was wenn du... Was wenn...", er brach den Satz ab und sein Körper bebte. "I-Ich kann das nicht, ich will das nicht." Harry schluchzte und rang nach Luft. Er versuchte so gut es ging seine Tränen zurückzuhalten, um Sophie auf seinem Schoß nicht zu wecken.
Sie war gerade erst eingeschlafen und das sollte auch so bleiben. In der vergangenen Nacht war sie so oft aufgewacht und hatte einfach nur geschrien. Auch sie war mit ihren Kräften am Ende. Harry hatte alles gegeben. Er hatte versucht sie abzulenken, er hatte sich mit ihr hingesetzt und ihr etwas vorgesungen. Sie verstand nicht was um sie herum wirklich geschah, dafür war das kleine Mädchen zu jung. Doch Sophies Empathie ließ sie den Schmerz ihrer Eltern spüren. Sie wusste das etwas nicht stimmte.
Der Ältere löste sich aus dem Griff von Harry und legte seine dürre Hand auf dessen Wange und strich mit seinen schmalen Fingern sanft auf und ab.
"Harry, es ist in Ordnung. Ich werde immer für euch da sein. Ich lebe in euren Herzen weiter. Wir wussten was uns erwartet. Hab bitte keine Angst, ich habe auch keine. Ich liebe dich." Seine Stimme wurde immer leiser, er brauchte viel Kraft, um die letzten Worte verständlich auszusprechen: "Ihr seid mein Leben. Ich liebe euch."
Der blauäugige versuchte angestrengt weiterhin sanft über die Wange seines Mannes zu streichen und versuchte noch so viel Trost zu spenden wie er nur konnte.
Doch die Schwere in seinem Körper breitete sich mit jedem Atemzug weiter aus. Es wurde auch zunehmend anstrengender für ihn wach zu bleiben. Er wollte nicht mehr. Er hatte sich bereits von der Welt verabschiedet und Harry wusste dies.
Harry nahm die Hand des Älteren wieder in seine und platzierte federleichte Küsse auf die Handinnenseite. Der Handrücken war von einer Kanüle durchstochen und versorgte ihn mit genügend Flüssigkeit und Vitaminen. Die Chemotherapie hatten die Ärzte vor wenigen Wochen abgebrochen. Die Therapie schlug nicht an und daher entschieden sie sich, diese abzubrechen. Vor allem um Harrys Mann die verbliebene Zeit so angenehm zu gestalten wie es nur ging.
Sie waren sogar mit dem einen befreundeten Arzt in die Innenstadt gegangen nur um noch ein letztes Mal Fish and Chips von ihrem Lieblingsladen zu essen. Denn ganz ohne Begleitung hatten sie sich nicht getraut. Harry hatte Sorge, dass genau dann etwas passieren werde, wenn sie nicht in der Reichweite des Krankenhauses waren. Und so machten sie mit dem Arzt einen kleinen Kompromiss.
Der blauäugige hatte den Kampf gegen den Krebs schon so lange geführt. Doch bei jeder Kontrolle wurden die Befunde schlechter und die Hoffnung auf Genesung schwand. Sie wussten das er nicht alt werden würde, nur Harry hatte gehofft, dass ihm wenigstens ein paar Jahre mehr blieben als nur wenige Wochen. Der Krebs hatte sich mittlerweile von den Lungen über das Lymphsystem im ganzen Körper verteilt.
"Versprich mir, dass du dich wieder auf jemanden einlässt. Ich möchte dich in guten Händen wissen. Du sollst jemanden an deiner Seite haben der dich glücklich macht."
"Du machst mich glücklich", entgegnete der Lockenkopf empört und schaute mit rot unterlaufenden Augen zu seinem Mann. "Ich will niemand anderen."
"Harry... Du weißt ganz genau was ich meine." Besorgnis spiegelte sich in den Augen des kranken Mannes wider.
"Ich habe Sophie." Der Jüngere wimmerte und versuchte nicht zusammenzubrechen. Doch genau danach war ihm zu mute. Er konnte seit Tagen nicht mehr schlafen. Er wusste das es bald soweit war, und dass sein Mann das Thema wieder aufgriff verdeutlichte es nur noch mehr.
"Du sollst nicht sterben. Ich schaffe das alleine nicht." Harry strich sich mit seiner linken Hand über sein Gesicht und strich sich die Tränen weg.
"Liebling, es ist okay. Wir sind doch nicht alleine. Du schaffst das, da bin ich mir sicher." Der blauäugige schloss seine Augen und schlief langsam ein.
Der Lockenkopf verkrampfte sich, als die Hand in seiner langsam an Wärme verlor. Weinend presste er seine Lippen zu einem Strich zusammen und legte nun auch seine linke Hand auf die Brust seines Mannes. Sie hob sich immer langsamer bis seine Atmung vollständig zum Stillstand kam.
Harry nahm es schlagartig die Luft zum Atmen. Immer mehr Tränen strömten über sein Gesicht. Er rang nach Luft. Harry hatte das Gefühl, dass er erstickte. Alle Gefühle, vor allem der Schmerz, zerquetschten sein Herz. Es schlug viel zu schnell und zu unregelmäßig. Ihm wurde unglaublich übel.
Mit aller Kraft versuchte er dagegen anzukämpfen und blicke zu seiner Tochter hinunter.
Sie gab ihm Kraft. Für sie würde er weiterkämpfen. Was wäre er für ein Vater, wenn er sie im Stich lassen würde?
Der Lockenkopf saß noch eine weitere Stunde am Bett und streichelte mit seinen Fingern über die Brust seines Mannes, bis er anschließend die Decke etwas höher zog und von ihm schweren Herzens abließ.
Sophie hatte er inzwischen auf das zweite Bett im Raum gelegt. Er wusste das es eine Zumutung war sie hier zu lassen. Nur er brachte einfach kein Wort über die Lippen um Hilfe zu holen.
Froh darüber, dass sie in einen sehr tiefen und festen Schlaf gefallen war, richtete er sich auf, stütze sich am Bettgestell ab und legte seine Lippen auf die Stirn seines Mannes.
"Ich liebe dich, ich werde immer nur dich lieben." Er kniff die Augen zusammen und versuchte die Tränen zurückzuhalten. Ein letztes Mal sog er seinen Duft ein und stich ihm durch die Haare.
Sein Mann war fort und würde nun vom Himmel aus seiner kleinen Familie beschützen.
Nie wieder würden sie mit Sophie zusammen sonntags im Bett frühstücken können.
Nie wieder kleine Spaziergänge nach dem Essen durch den Park und gemeinsam die Enten füttern.
Nie wieder gemeinsam ihre Tochter vom Kindergarten abholen können.
Das Harry auch nie wieder seinen Mann spüren konnte zerfraß ihn.
Es nahm ihm alles. Alles, bis auf den kleinen Sonnenschein, welcher im Land der Träume schlummerte.
Harry schreckte auf, als Sophie plötzlich begann zu weinen. Schnell nahm er sie mit der Decke aus dem Bett und wog sie in seine Arme. Bedacht darauf, dass sie ihren Vater nicht sehen konnte drehte er sich von ihm weg und ging seitlich zur Tür. Bevor er diese jedoch öffnen konnte ertönte ein leises Klopfen.
Harry wollte Ruhe. Wenigstens noch für einen kurzen Moment. Es war gerade schon schwer genug und jemand anderen in diesen Moment der Privatsphäre zu lassen missfiel ihm völlig.
Zu Harrys Überraschung betrat seine Mutter Anne das kleine Zimmer und schaute zum Bett.
"Ist...?" Anne stoppte mitten im Satz als sie die wache Sophie in den Armen ihres Sohnes erblickte. "Ich hole eine Schwester. Ich bin sofort wieder da." Mit schnellen Schritten verlies die ältere Frau das Zimmer.
Harry nickte leicht und drückte Sophie an sich. Mit ihr in den Armen ging er auf den Flur hinaus und setze sich auf einen der Sessel, welche in den Gängen platziert worden waren.
"Papa?" Sophie rieb sich gähnend die Augen und blickte zu ihrem Vater hinauf. Die Tränen waren wieder getrocknet und der Schock des Albtraums überwunden.
"Wo ist Papi?" Müde lehnte sie sich wieder an Harry und schaute ihn mit ihren grünen Augen gespannt an.
Harry rang mit sich und versuchte die passenden Worte für seine Tochter zu finden. Doch es viel ihm alles andere als leicht. Ein dicker Kloß hatte sich in seinem Hals gebildet und er konnte einfach nichts darauf erwidern.
"Ist Papi jetzt bei Oma?"
Harry zerbrach es das Herz und drückte seine Tochter nur noch mehr an sich und nickte benommen. Er wusste das sie das ganze Ausmaß noch nicht verstand. Schniefend vergrub er sein Gesicht in ihren Locken und versuchte sich wieder zu beruhigen.
Harrys Mutter kehrte mit einer Krankenschwester an ihrer Seite zurück. Diese nahm sich den jungen Mann beiseite, als die Dame sich um ihre Enkeltochter kümmerte. Harry kannte sie schon aus vorherigen zusammentreffen. Es war eine junge Frau, welche vor wenigen Wochen hier angefangen hatte zu arbeiten. Harry mochte sie. Sie verschleierte nichts und war immer offen und ehrlich. Das war es was der Lockenkopf so mochte. Keine Beschönigungen, sondern die Wahrheit. Egal wie sehr diese schmerzte.
"Mein aufrichtiges Beileid, Herr Tomlinson."
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2214 Wörter 08/07/2020 Widmung: dayandnight-dreamer
Herzlich Willkommen zum ersten Kapitel!
Ich habe mich wirklich über die ganzen Kommentare beim letzten Kapitel gefreut. Wahnsinn zu was ihr alles im Stande seid.
Lasst mich weiterhin an euren Spekulationen und Theorien teilhaben. Ich finde es immer sehr amüsant, was ihr euch so zusammenreimt; )
Hierbei handelt es sich um eine Erinnerung, solche Art von Kapiteln wird es immer mal wiedergeben, also bleibt gespannt.
Mögt ihr solche "Erinnerungskapitel"?
Die Geschichte hat jetzt nun offiziell begonnen und geht, so wie die anderen, jeden Sonntag weiter xx
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