Ablenkung

Erics POV

Nun sitze ich bereits den halben Tag in meinem Büro. Wie ich diese eintönige Arbeit hasse. Doch leider gehört das auch zu den Aufgaben eines Anführers. Zum Glück habe ich mittlerweile fast alles geschafft. Da fallen mir die Unterlagen von Lilly in die Hand. Unwillkürlich muss ich an gestern denken und daran, wie ich ihr geholfen habe, dass Max nichts von ihrem Ausflug bemerkt.

Obwohl ich dabei nicht ganz uneigennützig war. Zum einen konnte ich so gleich damit anfangen, den zweiten Teil meines Planes um zu setzen, indem ich Max meine volle Unterstützung zugesichert habe. Ich bin sogar so weit gegangen, mich bei ihm zu entschuldigen, weil ich so misstrauisch war, was Lilly betrifft. Hoffentlich hat er es mir abgekauft.

Außerdem war es ebenfalls deswegen gut, dass Max nichts erfahren hat, weil ich sonst ja kein Druckmittel mehr in der Hand gehabt hätte. Ich möchte schließlich nicht, dass Lilly es sich noch mal anders überlegt. Dummerweise musste Max diese Gelegenheit gleich ausnutzen, um mich zu fragen, ob ich nicht morgen für ihn zum Anführertreffen gehen kann. Damit hatte ich absolut nicht gerechnet.

Und dann ist mir auf die Schnelle nichts Sinnvolles eingefallen. Mir kam nur Lillys Spruch in den Sinn, ob das meine Art wäre, sie um ein Date zu fragen und da habe ich doch wirklich zu Max gesagt, dass ich ein Date hätte. Jetzt könnte ich mich dafür echt ohrfeigen. Ich kann nur hoffen, dass niemand etwas davon erfährt. Schließlich bin ich nicht der Typ, der Frauen datet. Und ich möchte auch nicht, dass irgendjemand so von mir denkt. Ich habe nämlich einen Ruf zu verlieren.

Endlich! Gerade habe ich die letzten Dokumente sortiert, als es an der Tür klopft. Wer stört mich denn jetzt?! Eigentlich wollte ich nur noch von hier verschwinden und mich nicht von irgendjemanden nerven lassen!

„Was gibt's?", rufe ich in einem kalten Ton.

„Hey Eric. Du bist ja doch hier. Ich habe dich überall gesucht." Es ist Bill. Ich kenne ihn bereits von den Ken. Wir sind zur selben Zeit hier hergewechselt und haben somit auch unsere Initiation zusammen absolviert.

Ich will mich jetzt ja nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, aber ich würde ihn schon fast als etwas wie einen Freund bezeichnen, obwohl er mir manchmal echt auf den Keks geht.

„Musst du noch lange in diesem staubigen Kabuff bleiben?", will er wissen.

„Nein, ich bin gerade fertig. Warum fragst du?"

„Ein paar Leuten sind heute zur Seilbahn gefahren. Hast du Lust auch mal wieder ein bisschen Spaß zu haben?"

Eigentlich wollte ich ja nur meine Ruhe. Ich bin nicht so der gesellige Typ, obwohl das Angebot schon sehr verlockend klingt. Immer nur diese langweiligen Anführersachen sind manchmal wirklich öde. Ich bin ja gerade mal 17 Jahre alt, da muss man sich echt ab und zu ein bisschen Gaudi gönnen. Und mit der Seilbahn zu fahren ist einfach das Tollste, nur ich werde meine Begeisterung nie so offen zeigen, wie die anderen.

Nach diesem langen Tag mit der faden Büroarbeit ist das jetzt bestimmt genau das richtige. Also sage ich zu und wir machen uns gleich auf den Weg. Nur ein paar Minuten später sitzen wir bereits im Zug. Bill ist heute mal wieder sehr gesprächig, allerdings höre ich ihm nur mit einem Ohr zu. Wäre da nicht die Vorfreude auf die Fahrt mit der Seilbahn, würde ich ihm wahrscheinlich gleich seinen Mund stopfen.

Er erzählt irgendwas davon, dass eine recht große Truppe bereits an der Seilbahn ist. Scheinbar muss Zeke diese ganze Aktion heute ins Rollen gebracht haben. Aber das ist nicht wirklich verwunderlich. Bei so was ist er immer ganz vorn mit dabei. Vom Ernst des Lebens hat er noch nicht viel mitbekommen.

Und so wie es scheint, hatte Zeke heute dafür einen besonderen Grund. Bill meint, dass er damit irgendein Mädchen beeindrucken möchte. Interessant wird es erst, als Bill mir gesteht, dass er keine Ahnung hat, wer die Kleine ist. Und das soll wirklich was heißen. Er wusste bereits während unserer Initiationszeit alle Namen der hübschesten Frauen und ist immer auf dem neuesten Stand wer gerade zu haben ist oder nicht.

Die Kleine muss sogar, laut Bills Aussage recht auffällig sein. Als er schließlich mich fragt, ob ich sie kennen würde, muss ich laut lachen.

„Bill, du bist doch hier derjenige, der sich immer mit den Frauen auskennt!"

„Ja, ich weiß. Das ist ja gerade das, was ich nicht verstehen kann. Ich kenne sie einfach nicht. Deswegen dachte ich, dass sie bestimmt noch nicht so lange bei den Ferox ist und du als Anführer müsste doch eigentlich wissen, ob es jemand neuen in unserer Fraktion gibt."

„Da hast du Recht. Wenn es so wäre, müsste ich was davon wissen." Langsam macht er mich wirklich etwas neugierig. Spielt sich da etwa irgendwas hinter meinem Rücken ab, von dem ich nichts weiß.

„Was ist denn so auffällig an ihr?", frage ich deswegen nach.

„Sie hat lila gefärbte Haare. Und das ist selbst bei den Ferox nicht so häufig" Mir kommt sofort ein Bild von einer Frau mit lila Haaren in den Kopf, aber das kann nicht sein. Sie sollte jetzt schließlich brav in ihrem Zimmer sitzen.

„Und kann es vielleicht sein, dass sie sich erst vor kurzem die Haare gefärbt hat und dir vorher einfach nur nicht aufgefallen ist?", ich versuche uninteressiert an dieser Thematik zu klingen. Er schaut mich mit hochgezogener Augenbraue an.

„Also so einfach lasse ich mich doch nicht austricksen! Ich bin mir sicher, dass ich sie nicht kenne.", meint er überzeugt. Na gut, da bleibt mir nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass ich mit meiner Vermutung falsch liege.

Wir sind gleich da, deswegen machen wir uns für den Absprung bereit. Nach der Ladung bewegen wir uns sofort Richtung Hochhaus. Bill hat inzwischen das Thema gewechselt und berichtet mir ausführlich von seiner neuesten Eroberung, aber seine Bettgeschichten interessieren mich absolut nicht, deswegen schalte ich auf Durchzug. Ich bin nur hier, um den Kopf ein bisschen frei zu kriegen und etwas abzuschalten.

Oben auf dem Dach sind noch einige Leute am Feiern, Trinken oder sie warten darauf, bis sie an der Reihe sind. Ich gehe davon aus, dass alle anderen bereits gefahren sind und nun unten das Netz zum Auffangen bilden. Schließlich kann ich hier weder Zeke noch eine Frau mit lila Haaren entdecken. Während Bill gerade ein Gespräch mit irgendeiner Frau beginnt, gehe ich direkt zu Roger. Das ist der Ferox, der alle anderen im Gurt absichert.

Ich kenne ihn bereits seit meiner ersten Fahrt. Er ist immer für die Absicherung zuständig. Allerdings habe ich ihn noch nie selber fahren sehen. Bill hatte mir mal das Gerücht erzählt, dass Roger Höhenangst hat und sich deswegen immer nur im Hintergrund aufhält, aber ich weiß nicht, ob das stimmen kann. Denn Roger sieht eigentlich nicht wie ein Typ aus, der vor irgendetwas Angst hätte. Er ist riesig, mindestens 2,10 m. Ansonsten ist er eher einer von der ruhigen Art.

„Hey Eric. Dich habe ich ja schon lange nicht mehr hier gesehen!", begrüßt er mich.

„Ja, immer viel zu tun. Da bleibt nicht mehr so viel Zeit für spaßige Dinge übrig."

„Wenn du möchtest, kannst du gleich als nächster fahren.", meint er dann. Ich schaue mich kurz nach Bill um, doch der ist ganz vertieft in sein Gespräch. Dann halt nicht!

„OK!", stimme ich ihm zu. Sofort beginnt Roger damit, mich im Gurt ab zu sichern.

Kurz danach kann der Flug endlich losgehen. Ich nehme Anlauf und stoße mich ab. Obwohl ich dieses Gefühl schon einige Male erlebt habe, ist es immer wieder aufs Neue absolut fantastisch. Hier kann man wenigstens für einige kurze Momente einfach mal alles hinter sich lassen und vergessen. Hier zählt keine Stellung mehr oder was man bereits erreicht hat oder halt noch nicht. Hier zählt nur dieser Moment und dieses Gefühl, mehr nicht.

Leider sehe ich bereits nach viel zu kurzer Zeit das Ende der Strecke vor mir. Bevor ich in die Sichtweite der Ferox am Boden gelange, setze ich wieder meine eiskalte Maske auf, auch wenn mir das aufgrund des Adrenalins, dass gerade durch meinen Körper schießt, wirklich extrem schwerfällt. Wenig später stehe ich schon bei den anderen. Innerlich total aufgewühlt und überglücklich, äußerlich aber unbeeindruckt.

Doch dann entdecke ich sie. Am Rand der Gruppe. Da steht Zeke und bei ihm ist die Frau mit den lila Haaren. Sie stehen mit dem Rücken zu mir, aber ich weiß sofort, wer es ist. Das darf jetzt nicht wahr sein! Warum versteht sie nicht, was das Wort Hausarrest bedeutet?! Vor allem hat sie schon wieder vergessen, dass ihr Vater bald zu Hause sein wird. Schließlich ist es mittlerweile recht spät.

Ich nähere mich den beiden, die aber so vertieft in ihr Gespräch sind, dass sie mich gar nicht bemerken.

„Was willst du sonst?", höre ich Lilly gerade fragen. Er beugt sich ein Stück zu ihr herunter.

„Verrate mir etwas von dir, dass sonst niemand weiß!" Hilfe! Das ist ja mal wieder so ein richtig typischer Ferox Anmachspruch! Was Besseres fällt dem anscheinend nicht ein. Allerdings interessiert mich die Antwort auf diese Frage auch, deswegen greife ich noch nicht ein.

Lilly überlegt einen Moment, bevor sie antwortet.

„Ich habe zwei Tattoos." OK, das ist bestimmt auch wieder etwas, dass sie hinter dem Rücken ihres Vaters gemacht hat. Warum kann sie sich eigentlich nie an Regeln halten? Zekes Stimme reißt mich aus meinen Überlegungen.

„Zeig her!" Sag mal geht's noch? Was will der Kerl nur von ihr?! Bevor ich reagieren kann, hält sie ihm schon ihr Handgelenk hin.

Was ich dann sehe, verschlägt mir fast die Sprache. Er nimmt ihr Handgelenk und fährt vorsichtig mit den Fingern darüber. Was bildet sich dieser Typ eigentlich ein? Wer hat ihm erlaubt, sie einfach an zu fassen? Der soll seine Griffel gefälligst bei sich behalten. Ich höre, wie Lilly ihm irgendwas erklärt, aber da habe ich sie bereits von ihm weggerissen. Das ging jetzt eindeutig zu weit!

„Was hast du denn hier zu suchen? Ich glaube Max wird nicht so begeistert sein, wenn er davon erfährt.", fahre ich sie an. Sie schaut mich nur überrascht an.

„Eric, lass Lilly los! Ich verstehe nicht, was Max hiermit zu tun hat. Wir haben uns nur ein bisschen unterhalten. Das ist schließlich nicht verboten." Scheinbar hat Lilly ihm nicht verraten, wer ihr Vater ist. Wenn der wüsste!

„Ja, ich habe genau gesehen, wie ihr euch unterhalten habt!", knurre ich ihn an. Dann wende ich mich an Lilly.

„Hast du eigentlich eine Ahnung, wie spät es ist?" Sie schaut mich aus weit aufgerissenen Augen an und schüttelt den Kopf.

„So spät, dass du dringend nach Hause solltest!", sage ich weiter. Endlich reagiert sie.

„Sorry Zeke, ich muss jetzt sofort los." Sie dreht sich schon zum Gehen, doch er lässt nicht locker.

„Warte, Lilly! Ich werde dich zurückbringen." Er will zu ihr, allerdings schiebe ich Lilly hinter mich, so dass sie außer seiner Reichweite ist.

„Nein, das übernehme ich!", sage ich in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet. Ich sehe es Zeke genau an, dass es ihm absolut nicht passt, aber ich bin sein Anführer, also kann er nicht viel dagegen unternehmen.

Deswegen ruft er Lilly nur noch hinterher.

„Wann sehen wir uns wieder?" Sie scheint es ihm ja echt angetan zu haben. Das gefällt mir ganz und gar nicht!

„Spätestens am Mittwochabend in der Kantine.", ruft Lilly ihm über die Schulter zu.

„Dann bin ich ja auch mal gespannt, wie er auf die Info reagieren wird, dass du Maxs kleine Prinzessin bist!", gebe ich meinen Kommentar dazu.

Ich bin etwas verwundert, dass ich keine freche Antwort von ihr zu hören bekomme. Vielleicht habe ich sie ja gerade auf etwas hingewiesen, was sie selbst noch gar nicht bedacht hatte. Oder ist sie wegen Zeke so drauf? Auch sonst ist sie auf dem Weg zur Bahnstrecke extrem schweigsam, sie sagt kein einziges Wort. Ich will gerade nachfragen, doch da kann ich in der Ferne schon den Zug erkennen.

OK, dann also erst im Zug. Außerdem muss ich mir dringend etwas wegen Zeke einfallen lassen. Nicht das er meinen ganzen schönen Plan zunichtemacht!

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