Kapitel 49 - Déjà-vu

Die nächsten beiden Wochen schwebe ich wie auf Wolke sieben. Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich den Raum der Wünsche, die grün-goldenen Tapeten und das große Himmelbett wieder vor mir. Spüre die seidigen, flüsternden Laken an meiner Haut und Dracos Körper auf meinem. Fühle, wie sich unsere Hände ineinander verschränken, während sich unser Atem vermischt. Höre den beschleunigten Herzschlag meines Slytherins in seinem Brustkorb neben den leise gemurmelten Worten, die er mir ins Ohr flüstert. Und jedes Mal wieder lassen die Erinnerungen an diese magische Nacht mein Herz vor lauter Glück und Liebe überfließen, bis ich das Gefühl habe, gleich platzen zu müssen. 

Alles andere tritt in dieser Zeit in den Hintergrund. Selbst die Frage, wer mich vergiftet und bedroht hat, erscheint mir nicht mehr so wichtig zu sein und kümmert mich deutlich weniger, als Draco lieb ist. Allerdings konnte uns die nachträgliche Analyse der Gummibärchen auch nicht weiterhelfen, so dass wir uns, was das angeht, sowieso in einer Sackgasse befinden. Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als auf den nächsten Zug des Saboteurs zu warten.

Was mich jedoch selbst ein bisschen nervt, ist die Tatsache, dass auch die Schule unter meinem abgelenkten Zustand leidet. Zu meinem eigenen Missfallen fällt es mir nämlich deutlich schwerer als sonst, mich auf den Unterricht und die Hausaufgaben zu konzentrieren. In Verwandlung ertappe ich mich beispielsweise mehrfach dabei, wie ich mit einem verzückten Lächeln vor mich hinträume, anstatt den Ausführungen von Professor McGonagall zum Piertotum locomotor Zauberspruch zu folgen. Als sie mich daraufhin zum Ende der Stunde bittet, noch für ein kurzes Gespräch unter vier Augen zu bleiben, befürchte ich schon, mir gleich eine Strafpredigt anhören zu müssen. Zu meiner Erleichterung bleibt die Rüge dann aber doch aus. 

"Miss Granger, ich will Sie gar nicht lange aufhalten. Ich möchte nur von Ihnen wissen, ob es mit den Nachhilfestunden von Mister Weasley und Mister Malfoy Probleme irgendeiner Art gibt, denn wie wir beide wissen, können sich diese Herren manchmal etwas, sagen wir...ungeschickt anstellen. Sagen Sie mir daher bitte sofort bescheid, falls es organisatorische Konflikte oder sonstige Schwierigkeiten geben sollte. In Ordnung?"

Die direkte Art unserer Schulleiterin entlockt mir ein amüsiertes Grinsen, das ich nicht einmal zu verbergen versuche. Trotzdem schlage ich für meine Antwort einen beschwichtigenden Tonfall an: "Keine Sorge, Professor McGonagall, die Nachhilfe der beiden läuft wirklich super. Die Schüler, die Draco und Ron betreuen, erscheinen regelmäßig zu den Terminen und machen bereits deutliche Fortschritte in Muggel- und Kräuterkunde. Auch sonst gibt es keine Probleme. Sie müssen sich also wirklich keine Sorgen machen."

"Das freut mich zu hören!", erwidert Professor McGonagall, während sie mir über den Rand ihrer quadratischen Brille einen wohlwollenden Blick zuwirft. "Vielen Dank auch an Sie, Miss Granger, dass Sie die beiden Streithähne bei ihren Aufgaben unterstützen. Bitte zögern Sie nicht, mich zu kontaktieren, falls doch mal irgendetwas sein sollte. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, es warten noch einige dringende Angelegenheiten auf mich."

Mit energischen Schritten und wehendem Umhang verschwindet sie im nächsten Moment aus dem Klassenzimmer, so dass ich allein zurückbleibe. Seufzend mache ich mich daran, meine restlichen Bücher zusammenzusuchen, um mich ebenfalls auf den Weg zu machen. Mit geschulterter Tasche folge ich kurz darauf dem Beispiel unserer Schulleiterin und trete durch die Tür in den Flur des fünften Stockwerks von Hogwarts. Da ich für die nächste Unterrichtsstunde schon spät dran bin, ist der Korridor vor dem Verwandlungsklassenraum verlassen. Als ich um die nächste Ecke biege, blitzen dann aber plötzlich charakteristisch-rote Weasley Haare vor mir auf. Lächelnd beschleunige ich meine Schritte.

"Hey Ron, warte auf mich!"

Auf mein Rufen hin bleibt Ron stehen und dreht sich zu mir, um mich winkend zu begrüßen.

"Hallo Hermine. Bist du auch auf dem Weg zu Zauberkunst?"

Ich nicke, während ich weiter auf ihn zu laufe. Sobald ich Ron erreiche, fallen wir gemeinsam in einen zügigen Schritt.

"Ja genau. Ich wurde von Professor McGonagall aufgehalten, deshalb bin ich etwas spät dran. Ich hoffe, Professor Flitwick ist heute mal nicht überpünktlich."

"Als ob Flitwick irgendwann mal nicht früher da sein wird, als der Rest der Welt. Naja, ich hoffe nur, wir sind nicht die Einzigen, die später..."

Mitten im Satz verstummt Ron plötzlich, während er gleichzeitig stehen bleibt. Ich schaue etwas irritiert zu ihm rüber, da ich keinen Grund für einen so abrupten Stopp erkennen kann, halte aber auch an.

"Alles okay, Ron? Wieso gehst du nicht weiter?"

"Jaja, alles in Ordnung. Ich hab nur gedacht, ich hätte was gehört."

Mein bester Freund runzelt die Stirn und legt konzentriert lauschend den Kopf schief. Auch ich spitze die Ohren, kann im ersten Moment jedoch nichts Besonderes entdecken. Dann jedoch...

"Ich glaube, ich höre es auch! Jemand ruft um Hilfe! Und ich denke, es kommt dahinten aus der Besenkammer!"

Ron und ich tauschen noch einen kurzen Blick, ehe wir Seite an Seite zu der massiven Holztür eilen, hinter der sich laut meiner siebenjährigen Hogwarts-Erfahrung ein wenig genutzter Abstellraum befindet. Mit jedem Schritt, den wir uns der Kammer nähern, hören wir die Hilfe-Rufe deutlicher und lauter. Daher zögere ich bei Erreichen der Kammer auch keine Sekunde, die Tür aufzureißen und den dahinterliegenden verrümpelten Raum zu betreten. 

Sofort umfängt mich undurchdringliche Finsternis. Das wenige Licht, das hinter mir durch den Türspalt fällt, reicht nicht aus, um wirklich etwas erkennen zu können. Auch die Hilferufe, die vorher noch so klar zu hören waren, scheinen verstummt zu sein und bieten mir keine Orientierungshilfe. Kein Geräusch ist mehr zu hören. 

Vorsichtig und mit ausgestreckten Händen taste ich mich ein paar Schritte in die Kammer hinein, während ich gleichzeitig nach meinem Zauberstab krame. Hinter mir höre ich Ron, der mir zögerlich folgt. 

"Hallo?", frage ich in die Dunkelheit hinein. 

Im nächsten Moment passiert dann plötzlich alles auf einmal: Meine Finger schließen sich um meinen Zauberstab, ich stolpere über ein Objekt vor mir auf dem Boden, und die schwere Holztür fällt mit Schwung hinter uns ins Schloss. Vor Schreck verliere ich für einen kurzen Augenblick vollkommen die Orientierung, aber dann erinnere ich mich an den Zauberstab in meiner Hand.

"Lumos!"

Das bläuliche Licht, das aus der Spitze des Stabs austritt, enthüllt Rons entsetztes Gesicht und einiges Gerümpel, das vor Spinnweben nur so strotzt. Eine weitere Person, die Hilfe benötigt, ist hingegen nirgends zu entdecken.

"Hermine? Was ist hier los?"

Rons leicht zitternde Stimme verrät mir, dass ihm die Situation hier alles andere als geheuer ist. Und wenn ich ehrlich bin, geht es mir ganz genauso.

"Ich weiß es nicht, Ron. Die Rufe kamen ganz sicher aus diesem Abstellraum, aber es ist niemand hier, deshalb...lass uns einfach erstmal hier rausgehen. Dann können wir weiter überlegen."

Der rothaarige Gryffindor stimmt mir mit einem Nicken zu und dreht sich dann zu der Tür um. Ich sehe, wie er nach der Klinke greift und an dem Türgriff zieht, allerdings ohne Erfolg. Auch ein erneutes energischeres Rütteln führt nicht dazu, dass sich die Tür auch nur um einen Millimeter bewegt. Ein Déjà-vu durchläuft mich wie ein eisiger Schauer als mir klar wird, dass ich offensichtlich schon wieder in einem der Zimmer von Hogwarts eingesperrt bin.

Das kann doch echt nicht wahr sein! 

 "Geh mal kurz zur Seite, Ron", höre ich mich selbst sagen. Mein bester Freund gehorcht ohne Widerworte und lässt mich vortreten, so dass ich einen besseren Blick auf Tür und Türschloss habe.

"Alohomora!", murmele ich im nächsten Augenblick, aber wie erwartet springt die Tür nicht auf. Wie beim letzten Mal setzt auch jetzt eine physische oder magische Barriere die Wirkung des Zauberspruchs außer Kraft. Und das wiederum bedeutet, dass wir uns, wie beim letzten Mal, nicht von alleine befreien können.

"So ein verdammter Mist! Kann dieser verfluchte Poltergeist nicht mal aufhören, ständig Leute einzusperren?!? So langsam geht mir das wirklich auf die Nerven!"

Ron starrt mich verständnislos an, während ich mir gereizt die Haare raufe. 

"Was meist du denn damit, Mine? Ist das hier Peeves Schuld, oder wie?"

Ich nehme einen tiefen Atemzug und lasse meine Hände dann wieder sinken, ehe ich Ron antworte.

"Keine Ahnung, aber es würde zu Peeves passen. Er hat mich und Draco vor ein paar Wochen im Zaubertränke-Klassenzimmer eingesperrt und uns dann noch verhöhnt. Wahrscheinlich hat er sich vorhin hier versteckt und uns mit diesen Hilferufen angelockt, um dann die Tür zu verriegeln. Es würde jedenfalls zu ihm passen. Und ich bin ziemlich sicher, dass wir ohne Hilfe nicht hier rauskommen."

Erschöpft lasse ich den Kopf in den Nacken sinken und massiere mir mit der rechten Hand meinen Nasenrücken. Egal, wie fieberhaft ich nachdenke, ich finde keinen Ausweg. Wenn Alohomora nicht funktioniert, sehe ich keine Möglichkeit, die Tür zu öffnen.

"Na toll", seufzt Ron und schluckt schwer, "dann können wir es uns wahrscheinlich für eine Weile in dieser winzigen Kammer bequem machen, in der bestimmt Tausende von Spinnen leben. Ich meine, es ist ja nicht so, dass uns jemand hören würde, wenn wir um Hilfe rufen."

"Ja", seufze ich. "Alle anderen sind schon längst im Unterricht und wir können ihnen leider nicht mitteilen, wo wir-"

Die Idee trifft mich wie ein Blitzschlag. 

"Bei Merlins Namen, ich bin so doof!", frustriert schlage ich mir mit der Hand gegen die Stirn.
"Natürlich können wir es ihnen sagen! Warum habe ich nicht schon früher daran gedacht?!? Draco und ich saßen beim letzten Mal stundenlang fest, dabei hätten wir einfach einen Patronus schicken können, um jemandem bescheid zu sagen und Hilfe zu holen!"

Ohne auf eine Antwort oder Reaktion von Ron zu warten schließe ich die Augen und atme tief durch. Obwohl ich meinen Patronus in den letzten Jahren schon hunderte von Malen heraufbeschworen habe, erfordert es jedes Mal wieder ein immenses Maß an Konzentration. 

"Expecto Patronum!", flüstere ich, ein Bild von mir und meinen Eltern wie immer fest vor Augen. 

"Äh, Hermine..."

Ron führt den Satz nicht zu Ende, aber an seiner betretenen Stimme erkenne ich, dass irgendetwas nicht stimmt. Als ich meine Augen öffne, erkenne ich sofort, was das Problem ist: Anstatt meines silberfarbenen Otters wabert nur ein gestaltloser, leuchtender Nebel vor mir durch den Raum.

"W-was? Das kann nicht sein! Ich habe schon seit Jahren keine Schwierigkeiten mehr mit dem Patronus-Zauber, du weißt das! Ich...ich..."

Meine Stimme versagt, während ich fieberhaft nach einem Grund für meinen Fehlschlag suche. Aber wenn ich ehrlich bin, habe ich keine Ahnung, was schief gelaufen sein könnte.

"Ist doch nicht schlimm, Mine, das passiert. Versuch es einfach nochmal! Vielleicht war die Erinnerung, auf die du dich konzentriert hast, einfach nicht glücklich genug. Mir passiert das total oft, dass ich es nicht gleich schaffe, ein Glücksgefühl heraufzubeschwören, das stark genug ist, weißt du?"

Rons gut gemeinte Worte schaffen es nicht wirklich, mich zu beruhigen. Die Erinnerung, an die ich gedacht habe, hat bisher immer ausgereicht, um einen vollwertigen Patronus hervorzubringen. Was also ist dieses Mal anders? Was hat sich verändert?

Oh...

"Vielleicht hast du Recht...warte, ich versuche mal was anderes."

Um alles andere auszublenden, schließe ich erneut die Augen. Anstatt aber an meine Eltern zu denken und eine Erinnerung aus meiner Kindheit als Anker zu verwenden, konzentriere ich mich dieses Mal auf etwas anderes. Auf jemand anderes. 

In Sekundenschnelle und wie von selbst entsteht vor meinem geistigen Auge ein Bild: Leuchtend graue Augen in einem schmalen Gesicht, umrahmt von hellblondem Haar. Kraftvolle, schlanke Finger, die durch die blonden Strähnen fahren und sie durcheinander bringen. Grün-silberne Akzente in der Kleidung. Ein Grinsen, das herrlich offen, aber eine Spur zu selbstbewusst und arrogant ist, das aber trotzdem ein wahnsinniges Glücksgefühl in mir auslöst. 

Als ich dieses Mal die Zauberformel spreche, durchströmen mich die positiven Empfindungen und Emotionen so stark, dass sie die Zweifel an mir selbst auslöschen. Trotzdem löst sich tief in meiner Brust ein erleichterter Seufzer, als mein Otter schließlich tatsächlich Gestalt annimmt.

"Okay, so weit so gut. Jetzt finde Draco, oder Harry, oder Ginny, und führ sie hierher. Richte ihnen aus, dass wir festsitzen und Hilfe brauchen. Los!"

Auf meinen Befehl hin verschwindet der körperlose Patronus direkt durch die Tür, die uns den Ausgang aus der Abstellkammer versperrt. Ich stoße die Luft aus, die ich in den letzten Sekunden angehalten hatte und drehe mich dann wieder in Rons Richtung, der meinen Blick aufmerksam erwidert.

"Und jetzt?"

"Jetzt warten wir."

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