Kapitel 45 - Von alten Freunden und neuen Feinden
Einige Stunden später betreten Ron und ich gemeinsam die große Halle, um eine wohlverdiente Pause und ein leckeres Mittagessen zu genießen. Nach dem anstrengenden Vormittag, den wir mit einer Stunde Verteidigung gegen die dunklen Künste und umfangreichen Planungen seiner Nachhilfe verbracht haben, kann ich es kaum erwarten, meinem rauchenden Schädel etwas Ruhe zu gönnen. Vor allem, da der Nachmittag auch noch einige Schulstunden für uns bereithält. Und für die muss ich natürlich wieder vollkommen fit sein!
In einvernehmlichem Schweigen nähern wir uns dem Gryffindor Haustisch, der sich am rechten Ende der großen Halle befindet. Schon von Weitem erspähe ich Harry und Ginny, die sich relativ weit vorne in der Nähe des Lehrertisches niedergelassen haben. Auch Ron hat die beiden offensichtlich schon entdeckt, denn er läuft zielstrebig in Richtung unserer Freunde.
„Naa", empfängt Ginny uns mit einem breiten Grinsen, als wir die beiden erreichen, „habt ihr euch endlich ausgesprochen?"
Ich verdrehe nur die Augen, lasse mich aber gegenüber von ihr und Harry auf die Bank fallen. Ron nimmt neben mir Platz und bedenkt seine kleine Schwester mit einem scharfen Blick. „Es ist zwar nicht so als ob es dich irgendwas anginge, aber ja. Mine und ich haben geredet."
„Schön, dass du zur Vernunft gekommen bist, Ronald. Hat ja auch lange genug gedauert", erwidert Ginny mit einem Zwinkern, wobei sie Rons böse Blicke gekonnt ignoriert und sich nebenbei Pasteten auf ihren Teller schaufelt.
„Ich hätte es zwar etwas vorsichtiger formuliert, aber Ginny hat Recht. Schön, euch mal wieder zusammen zu sehen", sagt Harry lächelnd. „Ihr zwei habt mir gefehlt", fügt er nach einer kurzen Pause hinzu und erst in diesem Moment wird mir wirklich bewusst, wie sehr auch ich unser Trio, beziehungsweise Quartett, vermisst habe. Schluckend versuche ich, den riesigen Kloß in meinem Hals loszuwerden, während ich von Ginny zu Ron und dann wieder zu Harry sehe.
„Versprecht mir, dass der nächste Streit kein halbes Jahr dauern wird." Harry's schiefes Grinsen entlockt mir ein Lächeln, obwohl ich immer noch mit meiner zugeschnürten Kehle kämpfe.
„Und bitte, vertragt euch beim nächsten Mal vor Weihnachten wieder. Hermine hat mir im Fuchsbau gefehlt", ergänzt Ginny in einem beiläufigen Ton, der mich allerdings nicht täuschen kann. Auch sie hat die Kluft in unserem Freundeskreis alles andere als kalt gelassen.
Ich räuspere mich, um meine belegte Stimme zu verschleiern und quetsche dann ein kaum hörbares „Versprochen!" hervor. Dabei schaue ich unauffällig zu Ron, der ebenfalls damit begonnen hat, seinen Teller mit den Köstlichkeiten zu füllen, die vor uns ausgebreitet stehen. Auch er beobachtet mich. Das schüchterne Lächeln, das dabei seinen Mund umspielt, ist mir so vertraut, dass es beinahe schon weh tut. „Verspochen", wiederholt er dann, genauso leise.
Und in diesem Moment weiß ich mit absoluter Gewissheit, dass unsere Freundschaft vielleicht gelitten hat, aber nicht zerbrochen ist. Ja, Ron hat viele Fehler gemacht und sich in vielerlei Hinsicht unmöglich verhalten, aber nicht nur meine Gefühle wurden verletzt. Er hat auch einiges durchgemacht. Und es wird vielleicht noch eine Weile dauern, aber...ich kann bereits sehen, kann fast fühlen, wie sich die Verletzungen in meinem und seinem Herzen langsam zu schließen beginnen.
Mit einem tiefen Atemzug, der endlich die Blockade in meiner Kehle löst, lasse ich den Blick über die drei Menschen neben mir wandern, die zu den wichtigsten Personen in meinem Leben gehören. Die mein Herz vor Freundschaft und Liebe überfließen lassen. Und genau diese Empfindung lässt eine Woge der Zuversicht in mir entstehen: Ja, wir werden es schaffen, diesen Streit zu überwinden. Ja, wir werden lernen, in Zukunft mehr Rücksicht aufeinander zu nehmen. Und wir werden daran arbeiten, uns gegenseitig zu verzeihen.
Denn ist es nicht gerade das, was wahre Freundschaft ausmacht?
***
Nach einer langen und zugegebenermaßen langweiligen Stunde Geschichte der Zauberei, die Merlin sei Dank das Ende des heutigen Unterrichts markiert, eile ich schnellen Schrittes zurück in die Bibliothek, um noch etwas für den wartenden Berg an Hausaufgaben nachzuschlagen. Harry, Ron und Ginny begleiten mich dabei widerwillig, da auch sie noch einige Aufsätze zu erledigen haben.
Einige Schritte vor den anderen und in Gedanken schon bei den Büchern, die ich für meine Recherchen gleich brauchen werde, biege ich in den nächsten Korridor ein, ohne wirklich auf den Weg zu achten. Dabei werde ich mit einem Mal von einer Gruppe Slytherin- und Ravenclaw-Schüler überrascht, die sich rempelnd und schubsend an mir vorbei drängen.
„Passt doch auf!", knurre ich ihnen nach, aber das bringt mir nur einen verächtlichen Blick von Pansy Parkinson und Millicent Bullstrode ein, die diesen seltsamen Trupp anzuführen scheinen.
„Bucklige Schrumpfkröten!", flucht Ginny hinter mir und streckt der davoneilenden Gruppe die Zunge heraus.
„Wow, die Bezeichnung muss ich mir merken", sagt Ron lachend, während er meine Tasche aufhebt, die mir durch die Schubserei von der Schulter geglitten ist.
„Danke", murmele ich und werfe einen letzten verächtlichen Blick auf Pansy und ihre lärmende Bande, die im nächsten Moment um die Ecke biegen und aus meinem Blickfeld verschwinden.
In der Bibliothek selbst empfängt uns eine angenehme Ruhe, die meine aufgewühlten Nerven gleich wieder etwas beruhigt. Zusammen suchen wir uns einen versteckt liegenden Tisch in der Nähe der Fenster, um möglichst viel Licht zu haben und sammeln dann die entsprechenden Bücher zusammen, die wir für unsere jeweiligen Aufgaben benötigen.
„Oh Mann, ich hasse Kräuterkunde", meckert Ron nur wenige Augenblicke später, während er sich über einen riesigen, uralten Wälzer voller Pflanzenabbildungen beugt.
„Beschwer dich bloß nicht", hustet Ginny mit tränenden Augen. Das Buch für Geschichte der Zauberei, das ausgebreitet vor ihr liegt, scheint tatsächlich schon ewig nicht mehr gelesen worden zu sein. „Kräuterkunde ist tausendmal interessanter als Binns' Unterricht zu Geschichte der Zauberei. Sei lieber froh, dass du dazu keine Nachhilfe geben musst."
„Auch wieder wahr", entgegnet Ron grinsend. Ich werfe ihm und Ginny einen tadelnden Blick zu und verschränke meine Arme, ehe ich zum Sprechen ansetze: „Ich weiß gar nicht, was euer Problem ist. Beide Fächer sind äußerst wichtig und lehrreich. Nicht umsonst sind beides Pflichtfächer, wisst ihr?"
Ron verdreht die Augen. „Trotzdem sind sie langweilig, Hermine. Sprout könnte ihren Unterricht ruhig etwas spannender gestalten, finde ich. Und Binns ist schon so lange tot, dass er gar nicht anders kann, als einschläfernd zu wirken."
Jetzt ist es an mir, die Augen zu verdrehen. „Ich bitte euch. Okay, ich gebe zu, Geschichte der Zauberei könnte spannender gelehrt werden, aber nichtsdestotrotz ist es ein sehr wichtiges und interessantes Gebiet der Zauberei. Wusstet ihr zum Beispiel, dass heute nur noch weniger als achtzig Riesen übrig sind, weil sie seit Jahrhunderten verfolgt und ausgerottet wurden? Oder dass die Hexenverfolgung im Mittelalter kaum richtige Hexen betroffen hat? Die echten Hexen konnten sich nämlich mithilfe von Magie und einfachen Gefrierzaubern vor dem Verbrennen auf dem Scheiterhaufen schützen. Und..."
„Okay okay, Mine, wir haben es verstanden", unterbricht Ginny mich mit einem Augenrollen. „Geschichte der Zauberei ist faszinierend!"
„Genau!", erwidere ich grinsend und suche in meiner Tasche nach der Packung Gummibärchen, die ich für das Naschen während des Lernens immer dabei habe. Überraschenderweise fällt mir die Tüte heute sofort in die Hände, ohne dass ich in dem Gewirr aus Federkielen und Pergament lange kramen müsste. Mit einem zufriedenen Brummen stecke ich mir ein rotes Bärchen direkt in den Mund.
„Kann ich auch eins haben?", fragt Ron neben mir und deutet mit dem Zeigefinger auf die Süßigkeiten vor mir.
„Ja natürlich", will ich sagen, aber aus meinem Mund kommt kein Wort. Irritiert versuche ich es noch einmal, aber wieder passiert...nichts. Ich greife an meinen Hals, meine Hände mit einem Mal so schwer, dass ich sie kaum heben kann.
„Hermine, ist alles in Ordnung?", höre ich Harry's Stimme, aber so leise, als stünde er in weiter Ferne und nicht direkt neben mir. Ich schüttele den Kopf und bemerke dabei, dass auch meine Sicht deutlich verschwommener ist, als sie sein sollte. Und dieses letzte Symptom verrät mir endlich, was zur Hölle mit mir los ist. Auch wenn ich kaum fassen kann, dass das hier gerade wirklich passiert.
„G-G-", stottere ich, bemüht, das Wort hervor zu würgen, das mir auf der Zunge liegt. „Gift!"
Im nächsten Moment schüttelt mich ein Hustenanfall, doch ich bekomme trotzdem mit, wie meine Freunde neben mir wie von Schlangen gebissen von ihren Stühlen aufspringen.
„Bei Merlins Bart, Gift?!? Hat sie das gerade wirklich gesagt? Und...w-was sollen wir jetzt tun?"
In Rons Stimme schwingt deutliche Panik mit.
„Was wohl! Wir bringen sie zum Krankenflügel!", herrscht Ginny ihren Bruder an und greift gleichzeitig nach meinem Arm, um mich von meinem Stuhl hochzuziehen. Ich entziehe mich ihr aber mühsam, eine bessere Idee vor Augen. Wenn es mir denn gelingt, sie den anderen mitzuteilen.
„N-Nein", stoße ich unter größter Anstrengung hervor, „m-mach das...das F-Fenster auf."
Für einen kurzen Augenblick verstummen die Schritte und Stimmen meiner Freunde und ich kann die skeptischen Blicke, die sie gerade vermutlich austauschen, praktisch vor meinem inneren Auge sehen. Meine richtige Sicht ist allerdings immer noch zu verschwommen, um wirklich etwas zu erkennen.
„M-macht schon!"
Auf meine erneute Aufforderung hin fühle ich, wie Harry zu meiner Linken in Richtung Fenster eilt. Das nächste, was ich höre, ist das quietschende Geräusch eines sich öffnenden Fensterflügels.
„A-Accio Bezoar", flüstere ich nach einem weiteren Hustenanfall. Kaum noch in der Lage, meinen Zauberstab in die Richtung zu halten, in der ich das Fenster vermute, lasse ich den Stab direkt danach wieder sinken.
Einige Sekunden lang passiert gar nichts und ich spüre, wie Ginny auf meiner anderen Seite vor Nervosität von einem Bein auf das andere tritt. Dann allerdings dringt das charakteristische Geräusch eines heranfliegenden Aufrufezaubers an mein Ohr und ich hebe erleichtert meine zentnerschwere Hand, um den beschworenen Gegenstand aufzufangen.
Sobald sich meine Finger um den Bezoar schließen, bringe ich meine Hand zu meinem Mund. Das gestaltet sich durch den Schwindel und die einsetzende Taubheit in meinen Muskeln schwerer als gedacht, aber schließlich schaffe ich es doch, den kleinen, unscheinbaren Stein herunterzuschlucken.
Nur Sekunden später spüre ich bereits, wie das Gegenmittel zu wirken beginnt.
Erleichtert sinke ich auf meinem Stuhl zusammen und schließe die Augen. Meine Umgebung inklusive meiner Freunde blende ich dabei bewusst aus. Als ich meine Lider kurze Zeit später flatternd hebe, ist meine Sicht wieder klar. Und das erste, was in mein Blickfeld gerät, ist eine zu Tode erschrockene Ginny, die vor Nervosität die Hände ringt. Auch Harry und Ron, die neben ihr stehen, sehen mir mit blassen, ernsten Mienen entgegen.
„Keine Sorge, Leute. Mir geht's schon wieder besser", murmele ich, bemüht, die anderen zu beruhigen. Das Sprechen fällt mir bereits deutlich leichter, auch wenn meine Stimme noch etwas rau klingt.
„Bei Merlins Bart, was war das denn?", ruft meine beste Freundin, während sie gleichzeitig nach meiner und Harry's Hand greift. Ich drücke ihre Finger und nehme dann erst mal einen tiefen Atemzug, ehe ich ihr antworte: „Wenn mich nicht alles täuscht, dann war das Tollkirschengift. Und- und ich glaube, es war in meinen Gummibärchen. Wie gut, dass ich seit dem Vorfall mit Rons Vergiftung im sechsten Schuljahr immer einen Bezoar im Schlafsaal aufbewahre."
„Aber...wie kann das sein?", wirft Harry ein. „Du isst ständig von diesen Dingern. Und Tollkirsche gehört garantiert nicht zu den Zutaten, die bei der Herstellung verwendet werden."
„I-Ich weiß auch nicht genau, wie das passieren konnte", erwidere ich und fahre mir mit meiner freien Hand durch meine störrischen Locken. Das leichte Zittern meiner Finger kann ich dadurch allerdings nicht verbergen.
„Aber – ihr meint doch nicht, dass das jemand absichtlich getan hat? Dass jemand Hermine absichtlich vergiften wollte?" Rons Gesicht wird noch eine Nuance blasser.
Mir entgeht nicht, wie Harry und Ginny bei seinen Worten einen bedeutungsschwangeren Blick tauschen.
„Das kann doch nicht euer Ernst sein!", fährt Ron, der den stummen Austausch unserer Freunde auch bemerkt hat, fort. „Und wie sollten die vergifteten Gummibärchen überhaupt in Hermines Tasche kommen? Sie hat sie doch immer bei sich!"
Das ist auch der Punkt, der mich am meisten beschäftigt. Allerdings...
„Ich habe die Tasche vorhin kurz verloren, erinnerst du dich? Als ich angerempelt wurde."
Ron schaut mich nur an, als hätte ich jetzt komplett den Verstand verloren.
„Stimmt!", ruft Ginny aus und wendet sich dann mir zu. „Glaubst du nicht vielleicht, dass das mit dem Heuler zusammenhängen könnte? Ich habe dir gleich gesagt, dass du die Drohung ernst nehmen solltest!"
„Wie bitte? Was für eine Drohung?", unterbricht Ron sie mit einem verwirrten Gesichtsausdruck. Ginny geht jedoch nicht weiter auf seine Frage ein.
„Ich wette, Pansy steckt dahinter! Auf jeden Fall musst du damit jetzt endlich zu McGonagall gehen. Ich meine, ernsthaft, Hermine. Du wurdest vergiftet! Du hättest sterben können!"
Ich schüttele nur den Kopf, während ich gedanklich noch einmal die Symptome und mein Wissen über Tollkirschengift durchgehe. „Nein, ich wäre nicht gestorben. Dazu war die Dosis deutlich zu niedrig. Mir wäre es vermutlich ein paar Tage ziemlich dreckig gegangen, aber mehr wäre nicht passiert. Das heißt, die Person, die hinter den Drohungen steckt, wollte mir nur Angst einjagen. Aber das lasse ich nicht mit mir machen."
„Mine, egal, ob das Gift tödlich gewesen wäre oder nicht: Hier wurde eine Grenze überschritten. Du solltest es wirklich McGonagall sagen", mischt Harry, der die letzte Minute geschwiegen hat, sich nun wieder in das Gespräch ein.
Ich weiß, dass die beiden Recht haben, dass das der vernünftigste Weg wäre, aber...
„Nein, ich werde damit schon fertig. Ich werde Professor McGonagall erst dann informieren, wenn ich weiß, welcher miese Feigling sich hinter diesen Aktionen versteckt."
Ginny schaut mich für einen langen Augenblick an und stößt dann einen kapitulierenden Seufzer aus. Sie weiß genau, dass es so gut wie unmöglich ist, mich von einer einmal getroffenen Entscheidung abzubringen. „Na gut, aber es gibt da noch jemanden, mit dem du unbedingt reden solltest."
„Genau", schaltet Ron sich abermals ein, „ich verstehe hier nur Bahnhof!"
Die rothaarige Gryffindor wirft ihrem Bruder nur einen genervten Blick zu. „Ich meine doch nicht dich, du Hornochse. Sondern Draco! Also...", ihr nächster stechender Blick landet auf mir.
„Sagst du es ihm, oder soll ich es tun? Einer muss ihn ja mal einweihen."
Ich öffne den Mund, um Ginny in entschiedenem Ton mitzuteilen, dass sie sich gefälligst aus dieser Sache raushalten soll, aber ich komme nicht mehr dazu. Denn in diesem Moment ertönt hinter meinem Rücken eine seidenweiche Stimme:
„Ich bin neugierig – in was genau soll sie mich einweihen?"
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