Kapitel 43 - Wir bleiben, wer wir sind.

„Hast du wirklich keine Ahnung, wer dir den Heuler geschickt haben könnte?", fragt Ginny mich, während wir in der ersten Unterrichtswoche nach den Ferien gemeinsam zum Zaubertrankunterricht laufen.

„Nein", entgegne ich kopfschüttelnd. „Ich glaube ja, da hat sich jemand einen dummen Scherz erlaubt. Du hast doch selbst erlebt, wie viele Leute was gegen meine Beziehung mit Draco haben. Wahrscheinlich haben irgendwelche Gryffindor oder Slytherin Schüler gedacht, es wäre eine gute Idee, einen anonymen Brief zu schicken, um mich einzuschüchtern. Aber das können sie knicken! Ich werde mich ganz sicher nicht von Draco trennen, nur weil manche Leute ein Problem damit haben, dass wir zusammen sind."

Ich werfe meiner besten Freundin ein etwas gezwungenes Lächeln zu. Ihr besorgter Blick zeigt mir allerdings, dass sie die ganze Sache ernster nimmt, als mir lieb ist.

„Ich weiß nicht Hermine, willst du nicht wenigstens Professor McGonagall Bescheid sagen? Mir gefällt das nicht. Und Malfoy solltest du erst Recht erzählen, dass du wegen ihm einen Heuler bekommen hast..."

„Bloß nicht, Ginny!", falle ich der rothaarigen Gryffindor entsetzt ins Wort, „du weißt doch, wie Draco ist. Er würde das nicht einfach auf sich sitzen lassen, und er steht nach der Schlägerei mit Ron sowieso schon unter Beobachtung unserer Schulleiterin. Wenn er nochmal Ärger kriegt, könnte er von der Schule fliegen!"

Allein der Gedanke an einen möglichen Rausschmiss des blonden Slytherins lässt mich innerlich völlig verkrampfen.

„Ja okay, da hast du wahrscheinlich Recht. Aber trotzdem bin ich mir nicht sicher, ob es der richtige Weg ist, nur mit Harry und mir über den Heuler zu sprechen. Was, wenn die Drohung wirklich ernst gemeint war?"

Ginnys Frage schwebt für einen kurzen Moment zwischen uns und erinnert mich erneut an die hasserfüllte Botschaft, die an Weihachten in unserem Schlafsaal auf mich gewartet hatte. Und auch wenn ich meine beste Freundin gerade vom Gegenteil zu überzeugen versuche, muss ich mir innerlich eingestehen, dass der Brief auch bei mir ein ungutes Gefühl hinterlassen hat. Da Ginny mir das allerdings auf keinen Fall anmerken soll, umfasse ich den Gurt meiner Umhängetasche fester, hebe entschlossen das Kinn und ignoriere das bohrende Unwohlsein in meiner Magengegend.

„Mach dir keine Sorgen, Ginny. Wie gesagt, das war bloß ein dämlicher Streich! Und was sollte Schlimmstenfalls schon passieren?"

Trotz meiner beruhigend gemeinten Worte spüre ich den musternden, zweifelnden Blick von Ginny weiterhin auf mir ruhen, aber da wir mittlerweile das Klassenzimmer im Kerker erreicht haben, hat sie glücklicherweise keine andere Wahl, als das Thema vorübergehend fallenzulassen.

Mit einem kleinen Seufzer gehe ich zu dem Arbeitstisch in der linken hinteren Ecke, der mittlerweile zu meinem und Dracos Standardplatz geworden ist. Kurz danach erscheint auch schon mein blonder Slytherin, dicht gefolgt von Professor Slughorn.

Unser Professor für Zaubertränke, der heute einen stachelbeerfarbenen Samtumhang trägt, lässt sich lächelnd auf den bequem aussehenden Sessel fallen, der extra für ihn hinter dem Lehrerpult aufgestellt wurde, und mustert die Klasse anschließend mit flinkem, gründlichem Blick. Sobald er sich der Aufmerksamkeit aller Schüler sicher ist, klatscht er in die Hände und wendet sich mit strahlendem Lächeln der Tafel neben sich zu.

„Guten Morgen, liebe Schüler. Da Sie alle mittlerweile einen mehr oder weniger gelungenen Vielsafttrank bei mir abgeliefert haben, wenden wir uns heute einer neuen Aufgabe zu: Dem Euphorie-Elixier! Wer von Ihnen kann mir sagen, um was für einen Trank es sich hierbei handelt?"

Automatisch schießt mein Arm in die Höhe. Ich bin aber nicht die Einzige, die die Antwort auf Slughorns Frage zu kennen scheint, denn noch mindestens fünf weitere Hände heben sich kurz nach meiner in die Luft.

„Miss Lewis?", ruft Professor Slughorn das blonde Mädchen aus Hufflepuff auf, das schräg rechts von mir sitzt. Sina Lewis holt einmal tief Luft, ehe sie die Infos aus Zaubertränke für Fortgeschrittene herunterleiert, die ich bereits seit vorletztem Jahr auswendig kann: „Der Euphorie-Trank versetzt die trinkende Person in übermäßig gute Stimmung. Nebenwirkungen können dabei lautes Singen oder Nasenjucken sein. Wenn es richtig gebraut wird, nimmt das Elixier eine sonnengelbe Farbe an, zu viel Pfefferminz führt allerdings zu einem giftgrünen Trank."

„Sehr gut, Miss Lewis! Das macht fünf Hauspunkte für Hufflepuff! Bitte schlagen Sie nun alle ihre Bücher auf Seite 243 auf und folgen Sie der dort beschriebenen Anleitung. Das Brauen des Euphorie-Elixiers wird nicht sehr lange dauern, aber lassen Sie sich davon nicht täuschen – der Trank ist äußerst kompliziert in seiner Herstellung. So, und nun husch husch, an die Arbeit!"

Husch husch, an die Arbeit? Wir sind doch keine Hauselfen!", beschwert Draco sich neben mir, blättert aber trotzdem auf die genannte Seite.

„Auch Hauselfen sollte man so nicht behandeln", entgegne ich mit einem Augenrollen.

„Du und die Hauselfen", lacht der blonde Malfoy, während er gleichzeitig belustigt eine Augenbraue nach oben zieht. „Wie hieß noch gleich diese komische Organisation, die du in unserem vierten Schuljahr gegründet hast? BELFAR?"

„B.ELFE.R. Bund für Elfenrechte. Und ich weiß gar nicht, was daran so witzig ist! Ich finde es eher empörend, dass immer noch so viele Hauselfen als Sklaven gehalten werden, ohne Bezahlung und Urlaub oder sonstige Rechte!"

Draco, der an meinem pikierten Tonfall erkannt haben muss, dass ich das Thema alles andere als amüsant finde, legt eine Hand an meine Wange.

„Okay, du hast Recht, lustig ist es nicht. Aber Hermine, du verstehst einfach nicht, dass die Hauselfen glücklich sind, wenn sie für Zaubererfamilien arbeiten dürfen. Ohne uns hätte ihr Leben keinen Sinn! Sie wollen überhaupt nicht frei sein."

Mit finsterem Blick schaue ich zu ihm hoch und beuge mich dann etwas nach rechts, um seiner Berührung zu entgehen.

„Ja klar, natürlich sagst du das, denn deine Familie profitiert schon seit Jahrhunderten von der Sklavenarbeit dieser Hauselfen! Aber niemand kann mir erzählen, dass sie glücklich damit sind! Dobby war zum Beispiel liebend gerne ein freier Elf. Und die meisten anderen Hauselfen haben einfach nur Angst – Angst, weil sie nicht wissen, wie Freiheit überhaupt aussieht. Veränderungen sind immer furchteinflößend, vor allem wenn man nie eine Wahl hatte. Und wenn man dann plötzlich, von einem Moment auf den anderen, selbst entscheiden soll, wie man das eigene Leben gestaltet...natürlich erscheint es dann erstmal einfacher, bei dem zu bleiben, was man kennt."

„Hermine", setzt Draco an und ich sehe ihm an, dass er mir widersprechen will. „Nein", unterbreche ich ihn, „es ist nicht so einfach, wie du es gerne hättest. Die Hauselfen leben nicht nur, um zu dienen; sie sind nicht nur dafür geschaffen, um Sklaven zu sein. Sie können so viel mehr sein. Sie sind so viel mehr. Und eigentlich müsstest gerade du das verstehen!"

Mit gerunzelter Stirn greift der blonde Slytherin nach dem Kessel, den wir für das Brauen des Euphorie-Elixiers brauchen.

„Was soll das denn jetzt heißen? Was sollte ich verstehen? Und wieso sollte ich irgendwas mit einem Hauself gemein haben?"

„Weil gerade du wissen solltest, dass man mehr sein kann, als andere in einem sehen. Und du musst gar nicht so empört schauen, das ist schließlich keine Beleidigung."

„Ich bin nicht empört", erwidert Draco, während er mir die Pfefferminze reicht, die wir für den Trank benötigen. „Aber was, bei Salazar, willst du mir damit bitte sagen? Mich verbindet rein gar nichts mit einem Hauself!"

„Ich finde schon", sage ich und hacke dabei die Kräuter klein, die als Erstes in den dampfenden Kessel gegeben werden müssen. „Bitte werd jetzt nicht sauer, ich weiß, dass ich das Thema nicht mehr ansprechen und dich damit in Ruhe lassen sollte, aber...ich finde es wichtig. Vor ein paar Wochen habe ich dich gefragt, wieso du ein Todesser geworden bist. Du hast mir gesagt, dass du keine Wahl hattest und dass ich das eh nicht verstehen würde, aber ich glaube, du irrst dich. Ich habe viel darüber nachgedacht, und ich denke, ich verstehe es mittlerweile sehr gut."

Ich wage einen schnellen Blick zu Malfoys Gesicht, das wie erwartet zu einer emotionslosen Maske erstarrt ist. Nur die stürmischen, silbergrauen Augen verraten das offensichtliche Gefühlschaos in seinem Inneren, welches er verzweifelt zu verbergen versucht. Und auch wenn ich weiß, wie weh ihm die Erinnerungen an diese Zeit tun, kann ich jetzt nicht einfach aufhören. Also fahre ich fort: „Soll ich dir sagen, was ich denke? Ich denke, du hattest niemals eine echte Chance. Deine Eltern waren schon lange vor deiner Geburt Anhänger von Voldemort und da es ganz natürlich ist, dass Kinder den Idealen ihrer Eltern nacheifern und nach deren Anerkennung streben, hast auch du diesen Weg gewählt. Ich weiß, dass du spätestens ab dem Zeitpunkt, ab dem du Dumbledore töten solltest, kein hundertprozentiger Todesser mehr warst. Abwenden konntest du dich trotzdem nicht von Voldemort, da deine Familie ansonsten in größter Gefahr gewesen wäre. Also hast du weitergemacht, immer weiter, denn es gab keinen Ausweg, oder? Du hattest einfach keine andere Wahl. Aber warst du jemals glücklich in dieser Zeit?"

Ich spüre, wie Draco sich bei meinem letzten Satz verkrampft, während er gleichzeitig die Hände zu Fäusten ballt. So verharrt er schweigend für mehrere Sekunden, in denen auch ich nichts mehr zu sagen habe.

„Nein", presst mein blonder Slytherin schließlich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, „glücklich ist nicht das richtige Wort um zu beschreiben, wie ich mich in den letzten Jahren gefühlt habe. Aber du hast trotzdem Unrecht, Hermine. Denn man kann nun mal nicht aus seiner Haut, man kann sich nicht ändern. Wir sind wer wir sind, egal, ob es uns gefällt oder nicht."

„Quatsch-", setze ich an, aber Draco unterbricht mich. „Nein, meine kleine Streberin, so ist es eben. Ich werde immer Draco Malfoy sein, der Todesser. Wenn du mir nicht glaubst, dann frag doch mal Weasel-Bee oder Potter oder irgendjemand anderen von dieser Schule. Niemand wird einfach vergessen, was ich getan habe, am allerwenigsten ich selbst. Das dunkle Mal mag weg sein, verblasst und mithilfe von Magie entfernt, aber ich? Ich bleibe, wer ich schon immer war."

Der gequälte Gesichtsausdruck, der seine Worte begleitet, lässt mein Herz schwer werden. Erst jetzt verstehe ich langsam, wie groß der seelische Schmerz und die Schuldgefühle tatsächlich sind, die mein blonder Slytherin seit Jahren mit sich herumträgt. Aber ich weiß auch, dass er sich zumindest in einem Punkt irrt.

„Oh Draco, du bist doch schon längst dabei, dich zu verändern! Schau dich doch an, schau uns doch an! Meinst du wirklich, du bist immer noch derselbe Mensch wie früher? Denn das ist Unsinn! Der Malfoy von vor zwei oder drei Jahren wäre niemals mit mir, einer Muggelstämmigen, zusammen gekommen! Er hätte niemals ein Quiz absichtlich gegen mich verloren, hätte niemals ein „Schlammblut" vor Pansy Parkinson verteidigt. Mit dem Malfoy von damals hätte ich nicht mal ein vernünftiges Gespräch führen können! Aber der Draco von heute...der Draco von heute hat all das getan und sogar noch viel mehr! Der Draco von heute ist anders, mit ihm kann ich reden und lachen und diskutieren und Schokofrösche teilen! Den Draco von heute...liebe ich."

Draco atmet zischend ein, dann breitet sich Stille zwischen uns aus.

Um meine Nervosität nicht allzu sehr zu zeigen hefte ich meinen Blick auf den Kupferkessel vor mir, zu ängstlich, um meinem blonden Slytherin in die Augen zu sehen. Es ist immerhin das erste Mal, dass ich meine Gefühle ihm gegenüber so offen äußere, und das auch noch mitten im Unterricht, umgeben von unseren Mitschülern. Leicht zitternd greife ich im nächsten Moment nach dem zweiten Büschel Kräuter, um die Pfefferminze weiter zu zerteilen, aber mitten in der Bewegung werde ich von Draco gestoppt. Sanft umfasst er meine Hände mit seinen langen, schlanken Fingern und zieht sie an sich, während mein Herzschlag in ungeahnte Höhen steigt.

„Hermine, bitte schau mich an."

Kurz zögere ich und schließe die Augen, um mich zu beruhigen. Dann hebe ich langsam meinen Blick, bis ich in Malfoys einzigartig silbergrau schimmernde Augen sehe, die mich liebevoll mustern. Für ein paar Sekunden schauen wir uns nur an, versunken in dem Blick des jeweils anderen, bis Draco schließlich das Schweigen bricht.

„Ich liebe dich auch."

Und nur diese vier Worte reichen aus, um mich glücklicher zu machen, als es ein Euphorie-Elixier je könnte.

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