Kapitel 23 - Die Entscheidung

Drei Tage nach der unvergesslichen Halloween Feier, die alle Bewohner von Hogwarts in mehr als einer Hinsicht berührt und verändert hat, sitze ich im Gryffindor Gemeinschaftsraum. Eigentlich sollte ich mich auf meinen Aufsatz für Geschichte der Zauberei konzentrieren, aber meine Gedanken schweifen immer wieder ab. So viel ist in so kurzer Zeit geschehen, dass selbst mein Verstand Probleme hat, damit klarzukommen.

Wie in einem Karussell läuft in meinem Kopf eine nicht enden wollende Abfolge der immer gleichen Schlagworte ab:

Malfoy.

Quiz.

Ron.

Kuss.

Feuerwerk.

Tod.

Draco.

Gefühle.

Mit einem Seufzer lege ich die in Tinte getauchte Feder auf den Pergamentbogen, der vor mir auf dem Tisch liegt. Ich weiß, dass es keinen Sinn hat, in dieser Verfassung Hausaufgaben machen zu wollen, deshalb kuschele ich mich in den Sessel und denke über all das nach, was mir die letzten drei Nächte den Schlaf geraubt hat.

Man könnte meinen, dass die Erinnerung an den Tod der vielen Freunde, Mitschüler und Lehrer das wäre, was mir momentan am meisten zu schaffen macht. In Wirklichkeit ist das jedoch noch mein geringstes Problem. Denn obwohl es immer noch furchtbar schmerzt, hat der Abschied, den Professor McGonagall uns ermöglicht hat, auch einige der Wunden in meinem Herzen geschlossen. Und ich weiß, dass es nicht nur mir so geht.

Bis vorgestern waren der Kampf mit Voldemort und die Schlacht um Hogwarts immer noch sehr präsent. Wie ein schwarzer Schatten, der unbemerkt über der Schule lag, verschluckten die Erinnerungen an die Verluste einen großen Teil der Freude und der positiven Gefühle aller Bewohner von Hogwarts. Doch diese Dunkelheit ist nun kaum noch zu spüren. Es scheint fast so, als hätte das Schloss selbst endlich Frieden mit den furchtbaren Ereignissen geschlossen, die vor einem Jahr die Zaubererwelt erschüttert haben.

Und auch Ron ist nicht der Grund dafür, dass ich nachts nicht schlafen kann. Entgegen meiner Erwartungen hat er sich bisher zwar nicht bei mir entschuldigt, allerdings haben wir uns in den letzten Tagen auch kaum gesehen. Und wenn ich ehrlich bin, ist es mir ganz Recht, wenn wir dieses unangenehme Gespräch noch ein bisschen aufschieben können. Ich habe in letzter Zeit schon so viele furchtbar peinliche Situationen erlebt, dass ich auf weitere Begegnungen dieser Art sehr gut verzichten kann.

Nein, das eigentliche „Problem" ist Malfoy. Oder eher: Meine Gefühle für Malfoy.

Es fällt mir selbst immer noch schwer, zuzugeben, dass ich etwas für ihn empfinde, aber auf der anderen Seite hat es keinen Sinn, diese Tatsache leugnen zu wollen. Und trotzdem...wie kann ich es vor mir selbst verantworten, Gefühle für Malfoy zu entwickeln? Ich meine, er war immerhin ein Todesser, oder nicht?

Genau dieses innerliche Ringen mit mir selbst ist der Grund für meinen aktuellen Schlafmangel. Leider ist jedoch, was das angeht, keine Besserung in Sicht.

„Hermine, hier steckst du! Ich habe dich schon überall gesucht!" durchbricht Ginny meine Versunkenheit. Ihr prüfender Blick entdeckt sofort die dunklen Ringe unter meinen Augen und den kläglichen Zustand meiner Haare.

„Was ist denn los? Du siehst müde und fertig aus. Und ich kenne diesen Gesichtsausdruck: Dich bedrückt doch was! Sag schon, wie kann ich dir helfen? Du weißt doch, dass ich die Meisterin des Aufmunterns bin!"

Mit einem Lächeln lässt sie sich in den Sessel neben mir fallen.

„Ach, ist schon gut Ginny. Ich glaube, bei dieser Sache kannst selbst du nichts machen. Mir geht momentan einfach vieles durch den Kopf. Aber mach dir keine Sorgen, das wird schon wieder." Erschöpft stütze ich mein Kinn auf meinen Arm. „Und wie geht es dir überhaupt?"

Ich weiß genau, dass das Feuerwerk und die Erinnerung an Fred sie mehr mitgenommen haben, als sie zeigen will.

„Mir geht es gut" winkt Ginny entschlossen ab. Dann schaut sie mich einige Sekunden musternd von der Seite an, bevor sie mich mit einem einzigen Satz vollkommen aus der Fassung bringt: „Aber zurück zu dir: Es geht um Malfoy, stimmt's?"

Vollkommen überrascht starre ich sie an und versuche, Ordnung in meine rasenden Gedanken zu bringen. Aber das Einzige, was ich aus dem Chaos, das in meinem Schädel herrscht, herausfiltern kann, ist die immer gleiche Frage: Woher weiß sie es?

Ich öffne den Mund, um Ginny eine einigermaßen zusammenhängende Antwort zu geben, doch im ersten Moment bringe ich keinen Ton heraus.

„W-wie kommst du denn darauf?" frage ich sie schließlich mit brüchiger Stimme, als es meinen schockstarren Lippen endlich gelingt, wieder Worte zu bilden.

„Ach komm Hermine, ich bin deine beste Freundin", erwidert Ginny trocken, als würde das alles erklären.

„Und es könnte außerdem sein, dass ich euch beide im Zaubertrankunterricht beobachtet habe" fügt sie dann grinsend hinzu. „Als ich gesehen habe, wie du ihn angestarrt hast, als er dich berührt hat, da war mir alles klar. Und dann hast du nachts auch noch im Schlaf geredet und seinen Namen vor dich hingemurmelt. Man muss jedenfalls echt kein Genie sein, um mitzukriegen, dass da was zwischen euch läuft..."

„Da läuft nichts zwischen uns!" falle ich ihr schnell ins Wort.

Ginny verdreht die Augen. „Hermine, ich bitte dich. Du kannst mir nichts vormachen. Die Funken, die zwischen dir und Malfoy sprühen sind nicht zu übersehen. Euer Vielsaft-Trank hat fast schon Feuer gefangen, als ihr euch im Zaubertrank-Unterricht in die Augen geschaut habt. Aber du musst gar nicht so schuldbewusst schauen, Mine! Falls du dir Sorgen machst, was ich darüber denke: Ich finde es toll! Ich habe dich noch nie so, hm..., naja, so strahlend gesehen, wie in diesen Momenten mit Malfoy."

Gerührt von ihren Worten lächle ich meine beste Freundin an, die so unfassbar schlau, feinfühlig und liebenswert ist.

Damit ist eine Sache jedenfalls klar: Abstreiten hat Ginny gegenüber keinen Sinn. Trotzdem bin ich immer noch vollkommen überwältigt von der Tatsache, dass mein bestgehütetes Geheimnis wohl doch nicht so geheim ist, wie ich dachte.

Nach einem kurzen Ringen mit mir selbst beschließe ich, reinen Tisch zu machen. Es beschämt mich zwar, jemand anderem meine Gefühle für Draco zu gestehen, aber andererseits...vielleicht kann Ginny mir in dieser verfahrenen Situation auch helfen?

„Ich...du hast Recht. Da ist wirklich etwas zwischen mir und Draco, auch wenn ich das selbst nicht so richtig verstehe. Und es tut mir leid, dass ich dir bisher nichts gesagt habe. Ich glaube, ich wollte mir einfach nicht eingestehen, dass ich etwas für ihn empfinden könnte. Das Ganze verwirrt mich einfach furchtbar." An dieser Stelle muss ich kurz schlucken, bevor ich in der Lage bin, weiterzusprechen. „Aber, wenn du es schon seit zwei Wochen weißt, wieso hast du dann nichts gesagt?"

Ginny lächelt mich an, bevor sie entgegnet: „Naja, ich hatte den Eindruck, dass du nicht darüber reden möchtest. Deshalb wollte ich dich nicht damit überfallen. Und es ist auch völlig ok, dass du noch nicht dazu bereit warst! Aber du grübelst jetzt schon wochenlang und langsam kann ich mir das nicht mehr mit anschauen, Hermine. Es wird Zeit, dass du endlich mal handelst!"

„Handeln?" frage ich verwirrt.

„Ja, genau! Sprich ihn an, geh auf ihn zu, mach irgendwas! So kann das jedenfalls nicht mehr weitergehen. Ich meine, einer von euch beiden muss doch den nächsten Schritt machen, oder nicht?"

„Den nächsten Schritt...?" wiederhole ich zögerlich.

„Ja Mine, was ist denn los mit dir? Du bist doch sonst nicht so schwer von Begriff! Ich meine, du willst doch, dass ihr euch näher kommt, oder etwa nicht?"

Tja, das ist eine gute Frage...will ich das?

„Ei-eigentlich schon" gestehe ich flüsternd, auch wenn mir diese zwei Worte eine Heidenangst einflößen. Irgendwie scheint das Aussprechen alles noch viel verbindlicher und realer zu machen.

„Aber Ginny, kann ich das wirklich tun? Malfoy ist...er war ein Todesser! Wie kann ich jemanden gut finden, der auf Voldemorts Seite stand? Ich weiß, er hat einige Befehle von Voldemort missachtet und so weiter. Aber auf der anderen Seite hat er trotzdem unbeschreiblich schlimme Dinge getan! Er hat Todesser nach Hogwarts geschleust. Er hat versucht, Dumbledore zu töten, auch wenn er es letztendlich nicht über sich gebracht hat, es wirklich zu tun. Er war Teil von Umbridges Inquisitionskommando. Wegen ihm wurde Hagrid beinahe gefeuert. Und wenn ich daran denke, wie oft er mich oder andere Muggelstämmige geärgert und gequält hat...dann frage ich mich, wie ich für so jemanden Gefühle haben kann. Was macht es aus mir für einen Menschen, wenn ich so jemanden mag?"

Beim letzten Satz versagt meine Stimme beinahe, so dass ich nur noch ein Flüstern zustande bringe.

Ginny schaut mich einige Augenblicke an und lässt sich Zeit mit ihrer Antwort.

„Weißt du, Hermine, es stimmt, was du sagst. Malfoy hat einige furchtbare Sachen getan." Sie legt mir ihre Hand auf die Schulter, bevor sie weiterspricht. „Aber ich glaube fest daran, dass Menschen sich ändern können. Und auch wenn ich Malfoy nicht so gut kenne und nicht hundertprozentig sagen kann, wie er tickt: Ich kenne dich. Du bist meine beste Freundin und einer der liebsten, tollsten, schlauesten und wunderbarsten Menschen auf dieser großen weiten Welt. Wenn du also Gefühle für Malfoy hast, dann...dann kann er einfach nur ein guter Mensch sein! Das Gute ist vielleicht tief in ihm vergraben, vielleicht ist es ihm nicht einmal selbst bewusst, aber es ist da. Ich bin mir ganz sicher."

Ich lasse mir Ginnys Argumentation durch den Kopf gehen. Könnte da wirklich etwas dran sein? Könnte Malfoy sich seit dem letzten Jahr wirklich so stark verändert haben? Oder wäre es möglich, dass ich ihn bisher einfach falsch eingeschätzt habe?

Ich weiß es nicht. Trotzdem beruhigen mich die Worte meiner besten Freundin etwas.

„Ich hoffe wirklich, dass du Recht hast, Ginny. Ich habe in den letzten Wochen schon ernsthaft an meinem Verstand gezweifelt, weißt du? Aber du hast mir gerade gezeigt, dass ich nicht vorschnell über Draco urteilen sollte." Seufzend reibe ich mir mit der Hand über die Stirn. „In Wirklichkeit weiß ich doch kaum etwas über ihn oder seine Beweggründe..."

„Eben!" fällt Ginny mir ins Wort. „Und das sollten wir schleunigst ändern. Du musst ihn einfach besser kennenlernen, dann wirst du vielleicht auch verstehen, was ihn zu Voldemort getrieben hat. Dienstag ist doch wieder Zaubertränke, richtig? Vielleicht solltest du ihn dann mal ein bisschen ausfragen, mit ihm ins Gespräch kommen und dich ihm gegenüber öffnen. Ihr müsst doch eh euren Vielsaft-Trank weiterbrauen, da kannst du die günstige Gelegenheit gleich nutzen."

Oh Merlin, das kann ja heiter werden. Ich bin doch so schlecht darin, auf andere zuzugehen! Ginnys Vorschlag löst daher leichte Panik in mir aus.

„Ginny, wie soll ich das denn anstellen? Ich weiß doch gar nicht, was ich zu ihm sagen soll. Das letzte Mal, als ich ihn nach etwas Privatem gefragt habe, war er ziemlich abweisend zu mir" entgegne ich seufzend und denke dabei an meine Frage nach dem dunklen Mal und Dracos Mitgliedschaft bei den Todessern.

„Ach, du schaust einfach, was sich im Gespräch so ergibt. Das ist gar nicht so schwer, Mine! Du musst bloß mal deinen Kopf ausschalten. Denk nicht ständig darüber nach, was du alles falsch machen könntest, das blockiert dich bloß. Sei einfach du selbst, dann wirst du ihn locker um den Finger wickeln!"

Etwas zweifelnd schaue ich sie an. Bei Ginny hört sich das alles so einfach an, aber ich weiß, dass es mich eine Menge Überwindung kosten wird, Malfoy näher zu kommen.

Mein Gesichtsausdruck muss wohl verraten haben, was ich denke, denn Ginny fängt an zu lachen, als ihr Blick meinem begegnet.

„Schau doch nicht so skeptisch, Hermine! Du schaffst das. Da bin ich ganz sicher!"

„O-okay. Wenn du das sagst, dann glaube ich dir" entgegne ich, und langsam, ganz langsam breitet sich vorsichtiger Optimismus in mir aus.

„Das ist die richtige Einstellung!" erwidert meine rothaarige Freundin immer noch lachend, bevor sie mich in eine enge Umarmung zieht. „Ich meine, was kann denn schon schief gehen? Du wirst es nur bereuen, wenn du es nicht versuchst."

Entschlossenheit durchströmt mich. Ginny hat Recht! Ich habe nichts zu verlieren, wenn überhaupt kann ich nur etwas gewinnen. Und damit ist die Entscheidung gefallen: Ich werde mir und Draco Malfoy eine Chance geben.

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