Kapitel 14 - Vielleicht. Vielleicht auch nicht.

In der Mittagspause nach der Stunde Verwandlung, in der ich das Quiz gegen Malfoy gewonnen habe, sitze ich mit Harry, Ginny und Ron in der großen Halle.

„Hermine, du warst echt genial! Malfoy hatte keine Chance gegen dich!" Ginny stupst Harry lachend in die Seite. „Hast du gesehen, wie Malfoy Hermine bei der letzten Frage angeschaut hat? Er wusste garantiert schon, dass er verlieren wird, konnte es aber nicht ertragen, das zuzugeben. Also hat er lieber was Falsches gesagt, bevor Hermine die richte Antwort geben konnte!"

„Dem Frettchen haben wir es echt gezeigt" fügt Ron gehässig hinzu. Er konnte Malfoy noch nie ausstehen.

Ich fühle mich ehrlich gesagt etwas unwohl. Ich habe bisher niemandem verraten, dass ich die Antwort auf die letzte Frage überhaupt nicht gewusst habe. Und außerdem stimmt es nicht, was Ginny da gerade gesagt hat. Malfoy hatte sehr wohl eine Chance gegen mich. Zumindest wusste er, vielleicht mit Ausnahme von mir, mehr als jeder andere im Raum, das hat er vor der letzten Aufgabe eindrucksvoll bewiesen. Harry, Ginny und Ron hätten garantiert gegen ihn verloren, jeder von ihnen hat überhaupt nur eine richtige Antwort zum Quiz beisteuern können.

Und ich muss ständig daran denken, dass Malfoy mich so seltsam angeschaut hat, bevor er die letzte Antwort gegeben hat.

„Was ist los Hermine? Du siehst gar nicht so aus, als würdest du dich über den Sieg freuen!" Harry schaut mich von der Seite an und ich lächle ihn gezwungen an.

„Doch klar, gegen Malfoy wollte ich auf keinen Fall verlieren."

„Und das hast du nicht!" ruft Ginny vergnügt. „Da sieht man es mal wieder, du bist halt die schlauste Hexe in unserem Jahrgang. Ach was, wahrscheinlich in der gesamten Schule!"

Ich freue mich zwar über das Kompliment und ihre Begeisterung, aber momentan kann ich ihr nicht ganz zustimmen. Ich bin eher davon überzeugt, dass Malfoy mich sehr wohl hätte schlagen können. Aber wenn er die richtige Antwort wusste, wieso hätte er sie dann zurückhalten sollen? Das macht keinen Sinn. Denn mir hätte er garantiert keinen Gefallen getan, da bin ich mir sicher. Vor allem, da er nach dem Vorfall im Hogwarts Express bestimmt immer noch schlecht auf mich zu sprechen ist. Und überhaupt, er ist schließlich ein Slytherin und ich eine Gryffindor!

„Sorry Hermine, wir müssen leider schon los, wir haben noch Quidditch Training in der Pause. Du weißt ja, bald ist unser erstes Spiel." Harry schaut mich entschuldigend an, als er, Ginny und Ron aufstehen und sich zum Gehen wenden.

„Kein Problem, wir sehen uns dann nachher bei Kräuterkunde. Viel Erfolg!" rufe ich ihnen hinterher.

Na toll, dann muss ich diese Mittagspause also auch wieder allein verbringen. Ich seufze auf und überlege, was ich mit den restlichen 90 Minuten anfangen könnte.

Eigentlich habe ich keine Hausaufgaben zu erledigen und Hagrid ist momentan leider nicht in Hogwarts, er wurde von Professor McGonagall zu Gringotts geschickt, um irgendetwas zu erledigen. Also kann ich ihn auch nicht besuchen.

Da mir nichts Besseres einfällt, schnappe ich mir ein Buch und beschließe, einen schönen Platz zum Lesen zu suchen. Um möglichst viel Ruhe, aber auch etwas Abwechslung zu haben, überlege ich mir, nicht in die Bibliothek, sondern auf den Astronomieturm zu gehen.

Vom siebten Stockwerk aus beginne ich, die Wendeltreppe zum höchsten Turm von Hogwarts emporzuklettern. Ich hasse es eigentlich, hier hochzukrakseln, aber die Aussicht dort oben ist einfach fantastisch! Und weil der Aufstieg so anstrengend ist, findet man auf dem Turm nur selten andere Schüler, was mir gerade sehr recht ist.

Als ich endlich die letzte Stufe hinter mich gebracht habe, seufze ich erleichtert auf.

Im nächsten Moment wäre ich die Treppe allerdings fast wieder rückwärts runtergefallen, da direkt vor mir eine Person an der Brüstung des Turms lehnt und nach draußen auf das Gelände und auf Hagrids Hütte schaut. Und auch wenn er mir den Rücken zukehrt und dank des Sonnenlichts, das mich blendet, schlecht zu sehen ist, erkenne ich ihn schon an seiner Haltung.

„Malfoy?"

Meine Stimme klingt erstickt. Ich bin total überrascht, hier überhaupt jemanden zu sehen, und dann ist es auch noch die Person, mit der ich am wenigsten gerechnet hätte. Wobei, in letzter Zeit laufen wir uns ja ständig über den Weg, wahrscheinlich sollte ich mich nicht wundern, dass er jetzt auch auf dem Astronomieturm auftaucht.

Er dreht sich nicht um, aber seine Körperhaltung verändert sich leicht. Er wirkt jetzt angespannter und ich frage mich, warum meine Gegenwart so einen Einfluss auf ihn hat.

Erst denke ich, dass er vorhat, mich zu ignorieren, aber dann höre ich ihn sagen: „Hallo, Granger."

„Ähm...hm. Also, ich hätte nicht gedacht, jemanden hier zu treffen. Ich glaube, ich gehe lieber wieder." Mit diesen Worten schicke ich mich an, die steile Treppe wieder herabzusteigen.

„Nein, bleib hier."

Ich bin überrascht, dass er überhaupt noch etwas zu mir sagt und der Inhalt schockt mich noch viel mehr. Wahrscheinlich ist das der Grund, weshalb ich mich tatsächlich auf dem Boden niederlasse, statt schnell wieder runterzugehen.

In den ersten paar Minuten bleibt Malfoy einfach stehen. Sein Rücken ist mir immer noch zugewandt und obwohl ich es vermeide, ihn anzuschauen, ist mir seine Gegenwart mehr als bewusst. Ich versuche, mich auf mein Buch zu konzentrieren, das eigentlich sehr spannend ist, aber meine Gedanken schweifen immer wieder ab.

Was macht Malfoy hier? Und warum hat er mich aufgehalten, als ich gehen wollte?

Ich zerbreche mir den Kopf über diese Fragen und starre dann doch Malfoys Rücken an, bis dieser sich plötzlich umdreht.

Mist! Schnell senke ich den Blick wieder auf die Seite, die ich schon seit fünf Minuten aufgeschlagen habe. Hoffentlich hat er nicht bemerkt, dass ich ihn gemustert habe, das wäre mehr als peinlich!

Aus den Augenwinkeln versuche ich, ihn unauffällig zu beobachten, aber das funktioniert nicht wirklich gut.

Er macht einige Schritte und lässt sich dann ebenfalls an einer Wand nieder. Zumindest hört es sich so an.

Nach ein paar weiteren Minuten, in denen wir uns erneut anschweigen, wage ich vorsichtig einen schnellen Blick in die Richtung, in der ich ihn vermute. Er hat es sich tatsächlich auf dem Boden bequem gemacht und sitzt jetzt circa zwei Meter von mir entfernt an der gegenüberliegenden Mauer. Und erstaunlicherweise hat er ebenfalls ein Buch aufgeschlagen auf dem Schoß liegen!

Nach unserem Zusammenstoß in der Bibliothek hätte mir klar sein können, dass Malfoy wohl ebenfalls etwas für Bücher übrig hat, aber ihn jetzt so zu sehen ist trotzdem...Ich weiß gar nicht, wie ich das beschreiben soll! Lesen und Malfoy passt in meinem Kopf einfach nicht zusammen. Er sieht dabei nett und friedlich aus. NETT! FRIEDLICH! Ich hätte nie gedacht, diese Beschreibungen mal mit Malfoy in Verbindung zu bringen.

Er hat wohl bemerkt, dass ich ihn schon wieder anstarre, denn plötzlich hebt er den Kopf und schaut mich direkt an.

Ertappt senke ich den Blick. Verflixt! Ich fühle, wie meine Wangen sich röten. Warum musste ich ihn auch so betrachten? Merlin, das ist mal wieder eine unfassbar unangenehme Situation, in die ich mich da gebracht habe.

Da Malfoy keinen seiner üblichen bissigen Kommentare abgibt, wage ich nach zwei Minuten einen erneuten Blick in seine Richtung.

Er schaut mich immer noch an und ein Grinsen umspielt seine Lippen.

Oh Mist, oh Mist, oh Mist!

Aber auch jetzt kommt keine Bemerkung von seiner Seite. Ich hätte ja eigentlich so etwas erwartet wie „Ich weiß, dass ich unwiderstehlich bin, Granger" oder etwas ähnlich Arrogantes, doch erstaunlicherweise bleibt er still.

Okay, das ist echt mal was ganz Neues. Aber nachdem er mich jetzt schon zwei Mal dabei ertappt hat, wie ich ihn anschaue, traue ich mich nicht mehr, auch nur annähernd in seine Richtung zu sehen. Deshalb versuche ich krampfhaft, mich endlich auf mein Buch zu konzentrieren.

Nach einiger Zeit gelingt es mir tatsächlich, mich etwas zu entspannen. Mein Buch ist wirklich sehr gut und mehr und mehr versinke ich in der Geschichte. Dass Draco nur einige Meter von mir entfernt sitzt habe ich dabei zwar die ganze Zeit über im Hinterkopf, aber irgendwie stört es mich nicht mehr. Stattdessen fühlt es sich sogar...angenehm an.

Wenn mir jemand vor ein paar Stunden gesagt hätte, dass ich Dracos Nähe mal als angenehm empfinden würde, hätte ich ihn ausgelacht! Aber wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich mich schon seit Wochen nicht mehr so gut gefühlt, wie in den letzten Minuten hier auf dem Turm.

Das ist doch völlig verrückt!

Innerlich hadere ich mit mir selbst.

Ich müsste eigentlich auf der Hut vor seinen Gemeinheiten und seinen miesen Tricks sein, statt hier entspannt neben ihm zu sitzen und zu lesen! Andererseits hat er in der ganzen Zeit, in der wir jetzt hier sind, nicht einen blöden Spruch gebracht und auch sonst nicht versucht, mir das Leben schwer zu machen.

Nachdem wir eine Stunde lang schweigend nebeneinander auf dem Turm gesessen haben, wage ich doch nochmal einen Blick zu ihm rüber. Dieses Mal bemerkt er es nicht, denn auch er scheint völlig von seinem Buch eingenommen zu sein.

Ich hole tief Luft und frage ihn dann eine der Fragen, die mich schon die ganze Zeit beschäftigen: „Malfoy, hast du die Antwort auf McGonagalls letzte Frage gewusst?"

Malfoy blickt auf, aber er antwortet nicht sofort. Stattdessen mustert er mich und bei seinem durchdringenden Blick werde ich schon wieder rot. Bei Merlins Bart, ich muss mir das echt mal abgewöhnen!

„Vielleicht. Vielleicht auch nicht" sagt er.

Was soll ich denn mit der Antwort anfangen?

„Warum hättest du absichtlich falsch antworten sollen?" frage ich ihn erneut. Ich habe nicht vor, locker zu lassen, bis ich eine befriedigende Antwort von ihm erhalten habe.

Statt etwas zu sagen, lächelt Malfoy mich nur an, erhebt sich, geht an mir vorbei und beginnt mit dem Abstieg über die Wendeltreppe. Er lässt mich zurück, vollkommen verwirrt über das, was er gesagt und nicht gesagt hat, und vor allem über sein Lächeln, das vollkommen frei von Hähme, Gemeinheit oder Sarkasmus war.

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