Kapitel 1

Schweigend starrte Eve auf das, an den Ecken leicht zerknitterte, Foto in ihren Händen. Das junge Mädchen darauf strahlte sie mit einem betörenden Lachen an.

"Wer ist denn das?", riss sie die Stimme des Kinderarztes aus ihren Gedanken. Freundlich lächelnd beugte er sich über sie und betrachtete das Mädchen auf dem Foto. Eve zögerte. Warum sollte sie dem fremden Mann erzählen, dass dies ihre Schwester war? Er würde sich bestimmt nur die selben Gedanken machen, wie sie selbst. Wie konnte dieses wunderschöne Wesen nur eine solch hässliche Schwester haben wie sie? Im Gegensatz zu Marice hatte Eve keine langen, schlanken Beine, keine blauen glänzenden Augen, keinerlei Bräune und auch keine blonden Locken. Eves Augen besaßen einen stumpfen Grauton und mit den langweiligen braunen Haaren und der blassen Haut konnte sie in keinster Weise mit Marice' Schönheit mithalten. Nicht einmal schlank war sie, sondern bloß ein wenig abgemagert. Aber dafür konnte sie nichts, das war die Schuld ihrer Mutter.

"Meine Schwester", antwortete Eve leise. Der Arzt nickte langsam und wandte sich von ihr ab, um hinter dem Schreibtisch Platz zu nehmen. Stumm fixierte sie das Stofftier, das in der Brusttasche des Arztkittels steckte. Sie hatte sich schon immer gefragt, warum Kinderärzte immer so etwas mit sich herumschleppten. War das nicht eigentlich total unhygienisch?

"So, ich bräuchte jetzt noch die Nummer deiner Mutter, bitte", meinte der Arzt über seine hundert Zettel und Notizen gebeugt, auf denen er fleißig herumkritzelte. Eve schüttelte nur ihren Kopf. Wozu bitteschön brauchte er die Handynummer ihrer Mutter? SIe fragte sich ohnehin schon die ganze Zeit, warum sie überhaupt auf der Kinderstation gelandet war. Mit ihren nun siebzehn Jahren war sie ja wohl alt genug, um schon auf eine richtige Krankenstation zu kommen.

Als mehrere Sekunden vergangen waren, in denen Eve ihn nur stumm angestarrt hatte, seufzte der Arzt ein wenig genervt.

"Wenn du mir nicht ihre Nummer verraten willst, kannst du mir auch einfach nur ihren Namen sagen." Das war zwar auch keine Lösung, ihrer Meinung nach, aber irgendwie würde er es doch sowieso herausfinden. Wie lange er wohl dafür brauchen würde? Nachdenklich wiegte sie ihren Kopf hin und her.

"Wanda." Der fordernde Blick des jungen Arztes durchbohrte sie förmlich. "Sol."

"Na, siehst du, war doch gar nicht so schwer!", versuchte er sie aufzumuntern und lächelte. Eve versuchte ihr Gesicht ebenfalls zu einem Lächeln zu verziehen, doch irgendwie wollte es ihr heute nicht so wirklich gelingen nett zu sein. Normalerweise war das anders. Stimmungsschwankungen nannte ihre Mutter das. Das wäre vollkommen normal in ihrem Alter. Pubertät halt und sowas.

Im selben Augenblick ging knarrend die weiße Türe auf und eine Krankenschwester steckte ihren Kopf in das Arztzimmer.

"Such doch mal die Nummer einer Wanda Sol im Telefonbuch." Schon war die Schwester wieder verschwunden. Dann wanderte der Blick des Arztes zurück zu Eve. "Hast du Schmerzen?" Sie schüttelte erneut ihren Kopf. Nein, momentan war sie schmerzfrei - zumindest was die Schmerzen anging, die ein Arzt auch heilen konnte.

Die nächsten Minuten herrschte ein angespanntes Schweigen zwischen ihnen beiden. Dem Arzt schien dies höchst unangenehm zu sein, den er rollte mit seinem Schreibtischsessel vor und zurück und spielte nervös mit seinem Kugelschreiber. Eve hingegen genoss die Stille. Interessiert blickte sie sich das erste Mal so richtig im Krankenzimmer um. Überall zierten bunte Tiere die ansonsten kahle weißen Krankenhauswände. Nun las sie auch zum ersten Mal das Ansteckschild, das der Arzt trug. Henry Bonnet prangte in grünfarbenen Buchstaben darauf. Aha, ein Franzose also.

Die rothaarige Schwester von vorhin platzte bald darauf in die Stille und übermittelte dem Arzt mit knappen Worten die Botschaft: "Die ist nicht erreichbar." Seufzend wandte sich Henry an Eve.

"Hast du noch andere Angehörige? Was ist mit deinem Opa oder deiner Oma?"

"Tot", erwiderte sie flüsternd. Eigentlich wollte sie nicht, dass der Arzt sie nach ihnen fragte. Die Eltern ihrer Mutter waren beide kurz nach ihrer Geburt verstorben. Man hatte sie aneinander gekuschelt zusammen im Ehebett gefunden. Zumindest hatte ihre Schwester ihr das erzählt. Und die Eltern ihres Vaters kannte sie genauso wenig, wie ihren Erzeuger selbst.

"Wie wär's mit deiner Schwester?", fragte der Arzt ein wenig betreten weiter.

"Tot."

"Und was ist mit deinem Vater? Wohnt er denn nicht hier in der Stadt?" Eve konnte seinem Gesichtsausdruck deutlichen ansehen, dass er fürchtete, sie könnte abermals nur mit diesem einen Wort antworten. Doch sie zuckte nur kurz mit ihren Schultern.

"Kenn ich nicht." Sämtliche Farbe war mittlerweile aus dem Gesicht des jungen Arztes gewichen. Hilfesuchend blickte er hinüber zu der Krankenschwester, aber scheinbar wusste auch sie nichts besseres zu antworten, als: "Komm mit, Eve. Ich bring dich erstmal in dein vorübergehendes Zimmer." Sie lächelte zurückhaltend und hielt ihr die Türe auf.

Das Zimmer, in das sie Eve gesteckt hatten, hatte dieselbe Farbe, wie der Schriftzug 'Henry Bonnet'. Eine fröhlich lachende Sonne strahlte ihr entgegen und an der Wand neben ihrem Bett turnte ein lustiger kleiner Affe auf einem Baum herum. Das zweite Bett, das neben dem Fenster stand, war ebenfalls besetzt. Das dunkelhaarige Mädchen, das darin lag, grinste erfreut.

"Na endlich hab ich eine Bettnachbarin!", jubelte sie. "Hallo, ich bin Cora. Glaub mir, alleine in einem Zimmer zu liegen ist sowas von stinklangweilig. Noch dazu, wenn man das Bett nicht mal für einen kurzen Augenblick verlassen darf. Niemand ist da zum Reden oder Spielen. Aber jetzt bist ja zum Glück du da!" Eve war sich da allerdings nicht so sicher, ob das Glück war. Wohl eher Pech. Am liebsten hätte sie ihre Ruhe gehabt und konnte auf die Anwesenheit der unaufhörlich quasselnden Cora sehr gut verzichten. Eve verdrehte nur ihre Augen und drehte sich mit dem Gesicht zur Wand. Hoffentlich würde niemand ihre Tränen bemerken, die über ihre Wangen liefen und Tränenspuren hinterließen. Ohne auch nur einen Mucks von sich zu geben, heulte sie still weiter.

Ihr Leben war ohnehin schon ruiniert gewesen. Aber das heute hatte alles noch einmal getopt. Zuerst war ihr Vater abgehauen. Ihre Mutter hatte ihn immer als wunderschön bezeichnet. Sie hatte immer erzählt, er hätte ihr etwas Schreckliches angetan. Beinahe hätte er ihr Kind - Eve - getötet, als sie noch schwanger war. Das würde sie ihm niemals verzeihen können. Eve hatte nie nachvollziehen können, warum das für ihre Mutter so schlimm gewesen war. Vielleicht hätte sie kurz um das ungeborene hässliche Entlein getrauert und hätte dann einfach ihr Leben fortgesetzt. Wäre Eve nicht zur Welt gekommen, hätte ihre Mutter jetzt wahrscheinlich ein unbeschwertes Leben und Marice hätte sich auch nicht das Leben genommen. Sie hätten keine Geldsorgen, da sie auch Eves Klinikaufenthalt während der Magersucht niemals bezahlen hätten müssen. Außerdem hätte sie sich selbst nie so schreckliche Gedanken über ihr eigenes Leben machen müssen, wie die, die jetzt gerade durch ihren Kopf schwirrten. Nur Vorteile für alle!

Eve presste fest ihre Augen zusammen, um den Tränenfluss zu stoppen, was allerdings das Gegenteil bewirkte. Heulen half ihr jetzt auch nicht weiter! Entschlossen schniefte sie ein letztes Mal und trocknete sich das nasse verheulte Gesicht an der weißen Bettdecke ab.

"Weinst du?", fragte Cora vorsichtig und streckte sich ein wenig, um besser zu ihr herüberzusehen.

"Nein", blaffte Eve sie unfreundlich an und vergrub sich unter der Decke.

"Ich kann dir helfen, wenn du möchtest." Coras Stimme drang dumpf durch die Decke an ihr Ohr. Einen kurzen Moment lang überlegte sie, ob es nicht vielleicht doch ganz gut wäre, mit jemandem über ihre Sorgen und Probleme zu sprechen. Aber wozu? Bisher hatte ihr auch noch niemand helfen können, also warum ausgerechnet dieses Mädchen?

"Ich brauch keine Hilfe. Ich bin alt genug." Bessere Argumente fielen ihr nicht ein. Müde vom Weinen schloss sie ihre Augen. Hinter ihrem Lid zeichnete sich deutlich das Bild ihrer Schwester ab. Marice war der einzige Mensch, dessen Verlust für Eve auch nur irgendeine Bedeutung hatte. Sie waren sich immer sehr nahe gestanden, aber jetzt war sie alleine und verlassen. Eine letzte Träne kullerte ihre Wangen hinunter, dann übermannte sie der Schlaf. 

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