XXVII. Kapitel

Mein Omega und Alpha (oder das, in dem ich ertrank)

Man hatte mir schon oft gesagt, ich würde sterben. Man hatte mir schon oft gesagt, ich würde den Tag nicht überleben. Man hatte mir schon oft so geringe Überlebenschancen ausgerechnet, dass ich die Nullen hinter dem Komma nicht hatte zählen wollen. Jedes Mal hatte ich alle eines Besseren belehrt, denn hier stand ich mitten auf einem stillgelegten, eingefrorenen Schlachtfeld und war so lebendig wie je zu vor.

Aber dieses Mal war es anders, dieses Mal wusste ich, dass meine Stunden wortwörtlich gezählt waren. Komischerweise ließ mich das erstaunlich unbeeindruckt. Vielleicht würde der Schock mit ein paar Minuten Verspätung eintreffen, vielleicht sogar gar nicht. Vielleicht war ich kaputt. Überraschen würde es mich nicht. Im Gegenteil, es war ein ganz schön schlauer Selbstschutzmechanismus.

„Na dann... Ich bin ganz gespannt auf deinen Plan, Zoë.", sagte Luke, der hinter mir stand.

„Wir werden ganz einfach den Rest der Prophezeiung erfüllen. Viel ist ja nicht mehr übrig. ‚Freund und Feind wird Ein, am Ende seid ihr im gleichen Boot, so erspart ihr euch großen Pein und Mädchen und Schöpf'rin finden den Tod.' Wir müssen alle überzeugen, zusammen zu arbeiten, und wenn das geschafft ist...dann ist der Rest ganz allein mein Job."

Luke machte ein Geräusch, was wohl ein Lachen hätte sein sollen. „Ja, super. Klingt wirklich wie ein Kinderspiel! Die Götter und die Titanen, die sich seit Anbeginn der Zeit bekriegen überzeugen, gemeinsame Sache zu machen...easy. Was steht sonst noch auf dem Programm? Soll ich vielleicht alle sieben Weltmeere austrinken und einen Giganten Huckepack nehmen? Und falls es dir noch nicht aufgefallen ist, Zozo. Wenn du dieses krasse Zeiteinfriereding aufhebst tobt um uns herum eine Schlacht. Und um Euronyme müssen wir uns dann auch wieder Sorgen machen." Lukes Sarkasmus tat mir auf eine vertraute Art und Weis gut.

„Du hast doch sicherlich noch Freunde in der Titantenarmee, richtig? Du kriegst es schon hin, dass die Soldaten auf dich hören. Finnick kümmert sich um alle Halbgötter und das Camp. Er hat Hilfe von May und Clarisse und den anderen. Euripides, Aurora, Chione und die anderen Nebengötter versuchen auf den Olymp zu kommen, und dort sowohl Götter als auch Titanen davon zu überzeugen. Du begleitest sie, sobald du mit der Titanenarmee durch bist und nimmst Ophions Spiegel mit. Die Götter und die Titanen sind machthungrig und berechnend. Aber sie sind nicht dumm. Keiner hat etwas davon, wenn Euronyme alles Leben zerstört." Ich atmete tief aus.

„Ich werde versuchen die Zeit wieder zum Fließen zu bringen...und was Euronyme in meinem Kopf angeht muss ich einfach lange genug stark sein. Ohne einen Trigger sollte das machbar sein. Also Luke. Du hast fünf Minuten, in denen ich die Zeit schon wieder zum Laufen gebracht habe, jeder hier also schon wieder ein Bewusstsein hat, aber Körper und Masse trotzdem eingefroren bleiben. So hast du wenigstens eine Chance auf ein Gespräch. Denkst du das reicht dir?"

Mein ehemaliger Mentor schüttelte erst ungläubig den Kopf, dann nickte er knapp. „Ich schicke dir ein Zeichen, wenn alles gekappt hat. Aber...was machst du?"

Ich zögerte. Wir beide kannten die Antwort. Prophezeiungen waren oft vage und gaben erst im Nachhinein einen Sinn. Aber der letzte Vers dieser hier könnte nicht eindeutiger sein. Wenn Euronyme sterben sollte, soweit man bei einem unsterblichen Wesen davon reden konnte, musste ich das auch. Es gab kein sie oder ich, wir waren ein wir.

„Versprich mir, dass du dafür sorgst, dass die Apollo-Hütte ein Heldenlied über mich schreibt, okay?", sagte ich und knuffte Luke. Dem schien aber gar nicht nach Lachen zu Mute zu sein.

„Und sag allen, wie wichtig sie mir sind. Sag May, dass es mir leidtut, in was ich sie da mit reingezogen habe. Sag Aurora, dass ich sie auf eine komische Art und Weise vermissen werde und sag Euri, dass ich ihm für all das verzeihe. Sag Finnick, dass ich dankbar bin und bald wieder mit Will Körbe werfen werde." Bei jedem Satz wurde meine Stimme ein klein wenig dünner. Scheiße, dachte ich mir, ich wollte doch cool sein mit der ganzen Tod-Nummer.

„Das ist aber jetzt nicht die Stelle, an der ich dich küssen muss, oder? So nach dem Motto ‚ich gehe doch eh drauf?' Ich mein ja nur weil das schon irgendwie so klang, als wärst du ein bisschen verknallt in mich. Nicht dass ich es dir verübeln würde, ich meine, ich hatte ja auch immer einen riesigen Crush auf dich, aber das heißt ja trotzdem nicht gleich, dass-", setzte ich an, aber ich kam nicht dazu meinen Wortschwall zu beenden. Luke schloss mich so fest in den Arm, dass es mir die Luft wegblieb. Fast so, als rechnete er damit, mich nicht mehr wiederzusehen. Achso, Moment. Das stimmte ja. Ich erwiderte die Umarmung. Es fühlte sich gut an, gehalten zu werden.

„Keine Sorge, Zozo. Ich mache es nicht noch schwerer als es ohnehin schon ist.", murmelte Luke und löste seine Umarmung gerade so, dass ich wieder Luft bekam. „Ich bin stolz auf dich. Unfassbar stolz. Du bist die tapferste Heldin, von der ich je gehört habe. Und wenn du willst, kann ich mitkommen und..."

„Alles gut, Luke. Du hast all die Jahre schon genug getan, auch wenn ich das jetzt erst erfahren habe. Danke für alles. Aber das ist mein letzter Kampf. Meiner ganz allein."

ΩΩΩ

Ganz tief in meinem Unterbewusstsein musste ich es schon längst gewusst haben. Anders konnte ich mir nicht erklären, dass ich mich wie selbstverständlich an diesen Ort hier geschnipst hatte. Es war eine Ansammlung von Felsen mitten im stürmischen Meer. Um genau zu sein, wusste ich selbst nicht mal, ob das hier ein realer Ort in der sterblichen Welt war. Ich bezweifelte es. Das hier war ein Ort, der bloß in meinem und Euronymes Universum existierte. Ich war mir bloß sicher, dass ich ihn zu Genüge aus meinen eigenen Träumen kannte.

Hier war es sehr später Abend, fast schon Nacht, aber der Himmel war so wolkenverhangen und düster, dass man keinen einzigen Stern, geschweige denn den Mond erkennen konnte. Riesige dunkle Wellen schlugen gegen die Felsen, es sah beinah so aus als würden tausende hungrige Münder an ihm lecken, mit ihm spielen und ihn jede Sekunde verschlingen können. Ich selbst trug keine Schuhe, sondern war barfuß. Ich spürte unter meinen bloßen Füßen den rauen Stein und in meinen Haaren den beißenden Wind. Reflexartig griff ich an meinen Kopf, denn ich wusste, dass die Zoë in meinen Träumen zwar genauso abgekämpft und fertig aussah, wie ich jetzt war, sie jedoch kein Diadem auf ihrem Kopf trug.

Aber es war da. Natürlich war es da. Und mit ihm Euronyme.

Oh, Zoë, Liebes. Ich hätte nicht gedacht, dass es wirklich so weit kommen muss, sagte die Schöpfungsgöttin in meinem Kopf mit ihrer liebsten Stimme. Der Wind und die Wellen waren so laut, dass ich beinah meine eigenen Gedanken nicht mehr hören konnte.

Ich beschloss, Euronyme vorerst zu ignorieren. Ich wollte ich mich ja nicht triggern lassen. Egal was passierte, ich durfte ihr nicht wieder die Kontrolle überlassen, wie ich es vorhin auf dem Schlachtfeld getan hatte. Unter keinen Umständen.

Ich hatte tatsächlich sogar einen Outfit-Wechsel durchgeführt. Vorhin trug ich noch eine Mischung aus meiner Jägerinnenuniform, einem Camp Shirt und meiner Kampfausrüstung. Jetzt war es ein bodenlanges schwarzes Kleid mit dünnen Trägern, welches mit meinen Haaren im Wind um die Wette flatterte. Alles andere als mein Geschmack. Aber ich wusste ja schon aus meinem Traum, dass ich dieses Kleid hier tragen würde.

Mir hätte unter normalen Umständen wohl kalt sein müssen, aber erstens war ich die Göttin des Eises und zweitens waren das hier wohl alles andere als normale Umstände.

Ich halte sehr viel von dir, das weißt du. Aber für was ich dich nie gehalten habe, ist ein Feigling, der seine Freunde bei einer großen Schlacht im Stich lässt.

Ich musste nur noch ein wenig durchhalten, ich musste warten, bis Luke mir seine Nachricht überbrachte und dann war es endlich vorbei.

Glaubst du wirklich, dass euer kleiner süßer Plan funktioniert, Zoë? Glaubst du das? Und selbst wenn, wie willst du dich und mich gleichzeitig umbringen? Selbst wenn du es dich trauen würdest und selbstlos genug wärst, wie willst du das schaffen? Du bist eine Göttin und ich bin das mächtigste Wesen überhaupt. Dieser lächerliche kleine Gift-Dolch konnte dir nicht mal im Geringsten etwas anhaben.

Ich atmete tief ein und aus. Ich durfte einfach nicht auf sie hören. Stattdessen versuchte ich, an Will zu denken. Er hatte sterben müssen, weil Euronyme so rachesüchtig war, dass sie eine Welt erschaffen wollte, in der nur noch ihr Ex-Lover Ophion, sie und seine ewige Folter existierten. Er durfte nicht umsonst gestorben sein. Ich wurde zum wiederholten Male in den letzten Tagen mit von so einer Traurigkeit und Bitterkeit überrollt, dass ich mir wünschte, ich könnte auch meine eigenen Gefühle einfrieren.

Ja...Will, der arme Junge. Ophion hat ihn benutzt. Genauso wie er auch diesen Hermes-Sohm benutzt hat. Luke. Glaubst du wirklich auch nur ein Wort von dem, was er dir erzählt hat? Er ist ein Spielball, mehr nicht. Komm schon Zoë, du bist doch ein schlaues Mädchen. Genau in diesem Moment werden er und alle deine Freunde in deinem kleinen Camp immer weiter an den Abgrund getrieben. Sie werden sterben, wenn du nicht eingreifst.

Konnte sie recht haben? Hätte ich schon eine Nachricht von Luke erhalten müssen?

Ja, du denkst an Luke. Ich weiß. Du hast ihm ganz schon den Kopf verdreht. Wie traurig, dass ihr keine normalen Jugendlichen seid. Vielleicht hätte es dann mit euch sogar geklappt. Es ist wirklich schade, dass dir das ganze Teenager-Leben verwehrt geblieben ist. Und jetzt willst du es sogar ganz beenden? Was für ein trauriges Leben, in dem man nie wirklich geliebt hat.

Ich spürte, wie Euronyme sich Stück für Stück die Kontrolle über meine Gedanken nahm. Das durfte sie nicht. Sie durfte einfach nicht.

Ein paar Schwärmereien im Camp, dieser komische Abend mit dem Aphrodite-Sohn. Dann die Fake-Beziehung mir Euripides. Der große Bruder deines toten besten Freundes, der dir kurz vor einer Schlacht seine Gefühle gesteht, und du schaffst es nicht mal in ordentlich abblitzen zu lassen. Und dann kommt auch noch Luke, der aufgrund seiner traurigen Selbstisolation und dem Schicksal gar nicht anders kann, als sich früher oder später in dich zu verlieben.

Es wird keine Nachricht von Luke kommen, ich wusste es genau. Keine Nachricht der Welt könnte mich hier erreichen, weder eine Iris-Message noch eine SMS noch sonst was. Ich befand mich an einem Ort, an dem es nur Euronyme und mich gab. Und je länger ich wartete, desto mehr Zeit gab ich Euronyme, mich komplett einzunehmen. Und wenn sie das geschafft hatte, war wirklich alles umsonst. Noch einmal würde ich wohl nicht die Zeit einfrieren können.

Ich werde es tun, beschloss ich ganz nüchtern. Jetzt. Sofort.

Was? Was willst du tun?

Die Bitterkeit schnürte mir wortwörtlich die Kehle zu. Ich hatte in meinem kurzen Leben wohl schon mehr Schicksalsschläge erlebt als die meisten Menschen sich auch nur annähernd vorstellen konnten. Und ich hatte gelernt, damit zu leben. Aber verdammte scheiße, ich wollte nicht sterben. Dazu gab es noch viel zu viele Dinge, die ich erlen wollte. Ich wollte erwachsen werden und ein wenigstens halbwegs normales Leben führen. Ich wollte an viele Orte reisen, ohne gleichzeitig einen Auftrag erfüllen zu müssen. Ich wollte endlich wieder so etwas wie Glück empfinden.

Hatte ich nicht immer ein Held sein wollen? Einer, an denen sich noch Generationen und Generationen von Göttern und Habgöttern erinnern würden? Sollte das hier klappen, so wäre mir ein Platz in den Top 3 alle Helden wohl definitiv sicher.

Eine einsame Träne rollte mir über die Wange und in ihr steckte all der Schmerz, den ich wohl nie verarbeitet würde.

Euronymes schriller Schrei ging mir durchs Mark und dann tat ich etwas, was ich eigentlich nur tat, weil ich ohnehin schon wusste, dass ich es tun würde: Ich sprang.

ΩΩΩ

Ich fiel und fiel und fiel, es schien so, als würde der Fall kein Ende mehr nehmen wollen. Dabei waren es doch gerade einmal sieben Meter bis zu Wasseroberfläche, hatte ich geschätzt. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Euronyme schrie in meinem Kopf so laut, dass es weh tat. Alles tat mir weh, mein Herz schlug schnell und bei jedem Schlag wurde eine erneute Welle von Traurigkeit durch meinen ganzen Körper gespült. Ich wollte endlich unten ankommen, ich wollte auf der kalten, harten Wasseroberfläche aufschlagen wie ein Komet, ich wollte sinken wie ein Stein, ich wollte sterben, damit all das endlich aufhören konnte. Ich versuchte mich zu konzentrieren, denn ich wusste, dass das der einzige Weg war. Natürlich war ich eine Göttin und somit unsterblich. Und wenn ich Euronymes Kräfte anzapfte sowieso. Der einzige Weg, wie ich sterben konnte war, dass ich es wollte. Und mich dem Ganzen komplett hingab. Ich wollte sterben, ich wusste, dass das das Opfer war, welches ich bringen musste.

Und dann tauchte ich endlich unter. Euronymes Schrei war verschwunden und mit einem Mal spürte ich die betäubende Kälte um mich herum. Ja, zum ersten Mal, seit ich eine Göttin geworden war, war mir wirklich kalt.

Mein Überlebensinstinkt wollte mich zwingen, nach oben zu paddeln. Aber ich schaffte es, mich ihm zu widersetzten. Ich hielt meine Arme und Beine still, ich sank und sah, wie sich die helle Wasseroberfläche immer weiter von mir entfernte. Dann atmete ich ein.

Das Wasser schmeckte salzig und eklig und meine Kehle zog sich zusammen. Es war, wie gegen ein Kissen gepresst zu atmen und jetzt begann ich doch mit den Armen zu rudern. Mein Körper krümmte sich bei dem Kampf gegen mich selbst. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen und die Sicht vor meinen Augen verschwamm.

Ich stieß kleine Atemzüge aus, der Kampfgeist in mir war noch nicht zum Erliegen gekommen. Warum wollte mein Körper unbedingt leben?

Zoë...gib nicht auf... Euronyme versuchte mich mit schwacher Stimme ein letztes Mal zu motivieren, und ironischerweise war genau das der Moment, in dem ich es schaffte loszulassen. Ich stelle mir vor, dass ich das Seil des Lebens, welches ich bis eben noch krampfhaft umklammert hatte, einfach losließ. Und es funktionierte. Ich wurde ganz ruhig und mein Verstand klarte auf. Ich würde sterben. Meine Lungen füllten sich mit Wasser, ich sank immer tiefer und tiefer ins unendliche Nichts und das war okay so. All der Schmerz wurde bald aufhören und niemand würde mehr von Euronyme verletzt werden können.

Vor meinem inneren Auge zog nicht etwa mein ganzes Leben vorbei, wie es immer in den Filmen gezeigt wurde, und um ehrlich zu sein, war ich etwas enttäuscht. Ich bin mir sicher, mein Leben hatte ein paar echt aufregende, spannende Highlights zu bieten gehabt. Hoffentlich hatte Luke seinen Part auch erfüllen können

Wir haben es geschafft, Zoë. Sagte eine Stimme in meinem Kopf und ich brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass es nicht Euronyme gewesen war. Es war Ophion. Erleichterung machte sich in mir breit.

Mein Sichtfeld wurde immer kleiner und kleiner, ich spürte tatsächlich, wie das Leben ganz langsam aus mir entschwand und es beruhigte mich. Ich hatte es geschafft. Meinen letzten, wichtigsten Auftrag hatte ich erfüllt.

Und dann ertrank ich. 

[Epilog und Nachwort folgen heute noch]

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