XXV. Kapitel

Kurze Auffrischung (ist ja schon ne Weil her....):


Wenn die Schöpf'rin endlich erwacht

Wird das verbotene Mädchen geboren.

Sie hat doch gewartet, im Schlafe gewacht,

die Welt stirbt in Eis, die Zeit ist gefroren.


Das Leben hilft uns ins Gleichgewicht

Wenn wir versinken in eisiger Not

Das Mädchen bringt uns zurück unser Licht

Oder die Waage gerät aus dem Lot.


Keine Grenzen hat ihre Macht

Nicht mal der große heil'ge Rat

Nur durch des Königs jüngstem Spross

Bleibt sie auf dem rechten Pfad. 


Let's get the party started (oder wie ich vollkommen durchdrehte)

Ich hätte sagen können, dass ich einen perfekten Plan hatte. Dass ich genau wusste, was zu tun war. Und wirklich, das hätte ich gerne gesagt. Nur leider war es nicht wahr.

Ich bringe euch mal kurz auf den aktuellen Stand der Dinge: Bisher hatte ich wirklich nicht den Hach eines Planes. Und dabei erwartete genau das jeder von mir. Zwar hatte mich niemand direkt zum Anführer ernannt oder gewählt, aber nach meiner kleinen Reden anlässlich Wills Beerdigung und der Prophezeiung, die ich im Anschluss vorgelesen hatte, war es irgendwie beschlossene Sache. Ich persönlich hätte niemanden mein Leben anvertraut, der den Feind persönlich in seinem Schädel mit sich herumtrug. Aber gut.

Die Jägerinnen und drei Dutzend Nebengötter waren hergekommen, um ums zu unterstützen, darunter auch Euripides und Aurora. Mit beiden hatte ich bisher kein Wort gewechselt und hatte es auch ehrlich gesagt nicht vor, wenn es sich vermeiden ließe. Ich war wirklich nicht scharf darauf, mit ihnen über die guten alten Zeiten zu plaudern, in denen ich noch nicht wusste, dass sie mich von vorne bis hinten angelogen hatten.

Seit uns die Nachricht erreicht hatte, dass die olympischen Götter nicht vom Olymp konnten, weil die Titanen sie dort festhielten, war unter den Campern unruhig geworden. Ein Titan für einen Gott. Das Gute daran war, dass uns somit die Titanen nicht auf die Eier(stöcke) gehen konnten, das Schlechte: Die Götter konnten uns auch nicht helfen, wenn die abertausend Mann starke Armee der Titanen das Camp angriff. Und wer selbst schon mal in der echten Welt gekämpft hatte oder nur ein wenig Verstand besaß wusste, dass wir objektiv betrachtet keine Chance gegen eine jahrelang trainierte Armee aus Monstern, Halbtitanen und abtrünnigen Halbgöttern hatten.

„Zoë?", fragte Finnick zaghaft hinter mir. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich Abseits von allen melancholisch auf den See gestarrt und dabei alle Geräusche ausgeblendet hatte. Ich drehte mich um.

„Ja?"

„Wir treffen sich jetzt im Speisepavillon. Halbgötter, Jägerinnen, Götter. Wir haben nicht mehr viel Zeit.", erklärte er mir.

„Hm. Okay.", antwortete ich abwesend. Ich wollte Finnick nicht anschauen. Er erinnerte mich zu sehr an meinen besten Freund, seinen kleinen Bruder. Außerdem brauchte ich nicht auch noch seine roten und von Schatten unterlegten Augen zu sehen, um zu wissen, dass er die Nacht durch geheult hatte. Ich hatte ihm nicht erzählt, was Ate mir in meinem Traum gesagt hatte, nämlich dass Wills Tod meine Schuld war, aber trotzdem hatte es sich in meinem Kopf eingenistet wie ein Tumor.

„Ach ja, noch was.", begann er zögernd. „Sie legen alle ihre Hoffnung in dich." Ach echt? Toller Aufmunterung. „Ich kenne dich. Du fühlst dich miserabel."

„Sehe ich wirklich so scheiße aus? Na, Danke.", sagte ich trocken. Es klang bissig, dabei konnte Finnick gar nichts für all das hier.

„Wir alle haben schon besser ausgesehen. Das ist es nicht was ich meine. Es geht nicht um gut aussehen oder sich heldenhaft verhalten. Es geht darum, zu gewinnen."

„Das ist ja das Problem Finnick, wir können nicht gewinnen! Verstehst du?! Wir sind nicht vorbereitet! Wir sind ein Haufen chaotischer Helden, von denen gerade mal eine Hand voll je in der echten Welt waren. Die meisten hier können zwar gegen eine Strohpuppe gewinnen, aber wie sieht es mit einer von den Titanen aufgestellten Armee aus? Ich selbst bin ein mentales Wrack und Hilfe von den olympischen Göttern ist nicht zu erwarten. Ich gebe den Anderen keine Hoffnung, wenn es keine gibt."

Finnick wartete geduldig, bis ich fertig war. Er lächelte mich sanft an und legte mir die Hand auf die Schulter. Wie konnte ein einzelner Mensch so verdammt viel Geduld und Empathie haben? Es machte mich fast schon rasend,

„Zoë, bist du jemals in eine Schlacht gezogen oder zu einem Auftrag aufgebrochen mit der Gewissheit, dass du es auf jeden Fall schaffen wirst? Dass ist der Knackpunkt an uns Helden: Wir schaffen das Unmögliche. Und heute werden wir es auch schaffen. Nicht weil wir es so viel besser sind als die anderen, sondern weil wir es müssen."

Ich lauschte seinen Worten nach. „Du solltest Motivationstrainer für zweifelnde Götter werden."

„Ich bin immer für dich da, dass weißt du." Finnick lächelte wieder, diesmal eine Spur trauriger. „Wann immer du Motivation oder irgendwas anderes brauchst."

Schlechtes Gewissen schlich sich bei mir ein und ich wollte mir selbst nicht eingestehen warum. Ich schaute ihm nicht mehr in die Augen. „Das weiß ich zu schätzen. Danke." Er hatte seine Hand nicht weggenommen.

Einen Moment sagte keiner von uns etwas und ich konnte die Stille irgendwie nicht deuten.

„Wäre Will jetzt hier würde er einen Witz machen, du würdest lachen und alles wäre gut." Finnicks Stimme klang dünn. Ich verzichtete darauf, ihm zu erklären, dass viele sterben würden, dass sich alles ändern würde und dass gar nichts gut war, mit oder ohne Will. Aber vielleicht hatte dieser bevorstehende Kampf doch etwas Gutes, schoss es mir plötzlich durch den Kopf. Es würde mich von dem Weltschmerz ablenken, der sich momentan über meine Gefühlswelt gelegt hatte.

„Wahrscheinlich.", antwortete ich deshalb nur knapp. Was-wäre-wenn-Gedanken machten es mir nicht leichter, an Will zu denken.

Wieder war es still. Ich sah förmlich, wie es hinter Finnicks intensiv grünen Augen ratterte.

„Ich mache mir auch Sorgen um dich.", platze er schließlich heraus. Ich lachte ein hohles Lachen, auch wenn es so angebracht war wie als Tochter der Aphrodite Socken in Wandersandalen zu tragen.

„Um mich? Ausgerechnet um mich? Ich weiß nicht ob es dir schon aufgefallen ist, aber ich bin unsterblich. Du müsstest dir Sorgen machen um May oder um dich selbst, aber um mich?" Ich war lauter geworden als ich wollte. Dafür waren Finnicks folgende Worte umso ruhiger.

„Zoë, mir kannst du nichts vormachen. Das alles lastet schwer auf dir." Ich öffnete den Mund um zu widersprechen aber Finnick war schneller. „Und das ist okay so! Angst zu haben, unsicher zu sein, das ist völlig normal. Niemand nimmt dir das übel. Aber die anderen brauchen dich." Er lächelte wieder. „Wir müssen Clarisse ja nicht erzählen, wie dir zumute ist."

„Hrmpf.", gab ich zurück. Seit Aurora vor gefühlten Jahren ins Camp gekommen war, hatte ich mich unbewusst von ihm distanziert, aber trotzdem konnte er anscheinend immer noch aus mir lesen wie aus einem offenen Buch. Das war beängstigend aber gleichzeitig auch beruhigend.

„Weißt du, ich habe auch Angst. Vor vielen Dingen. Eins davon ist, dass ich dich heute das letzte Mal sehen werde. Nach Will...das würde mir das Herz brechen.", schob er nach und hielt dabei meinen Blick mit seinen Augen fest. Ich fühlte mich schlagartig unwohl in meiner Haut und wusste nicht, was ich sagen sollte, auch wenn dieses Gespräch eigentlich schon fast ein Jahr überfällig war. „Hör zu Finnick", begann ich langsam und legte mir dabei meine Worte sorgsam zurecht. Ich merkte kaum, dass ich nervös meine Knöchel knacken ließ. Es gab wirklich nichts erfrischenderes vor einem Weltuntergang als eine große Portion schlechtes Gewissen. „Was da passiert ist...wir hätten schon viel früher reden sollen...mein schlechtes Timing tut mir echt leid...", duckste ich rum. So viel zu Thema Worte sorgsam zu Recht legen. Das lief ja mal wieder super.

Finnick schaute mich fragend an. Scheiße. Plötzlich schien mir der Kampf gegen ein Monster wie eine angenehme Alternative, was nicht gerade für meine Qualitäten als Anführerin sprach. Gab es nicht vielleicht irgendwo im Deminet so einen von diesen total angesagten Ratgebern oder Schritt-für-Schritt-Anleitungen? Wie friendzone ich den großen Bruder meines toten besten Freundes – Teil 1?

„Wir sollten-" Ich hätte nie gedacht, dass ich mich jemals freuen würde, Clarisse LaRue zu sehen, aber als die kräftige und im Camp gefürchtete Hüttenälteste der Ares-Hütte auf einmal in kompletter Rüstung (okay, die trug sie ohnehin so gut wie immer) vor mir stand und mich aufforderte meinen „lahmen göttlichen Arsch zum Pavillon zu bewegen weil wir gefälligst eine Schlacht zu planen hatten", hätte ich ihr am liebsten eine fetten Schmatzer auf die Wange gegeben. Die Vorstellung mit einer gebrochenen Nase und ein paar angeknacksten Rippen in die Schlacht zu ziehen war dann aber doch nicht so verlockend, also ließ ich es bleiben.

Im Pavillon waren die Esstische zur Seite geschoben und eine unglaublich riesige Karte des Camps aufgehängt. Euripides, Aurora, ein weiterer Nebengott namens Miro, Alexa und die andere Jägerinnenleutnantin sowie die Hüttenälstesten beinah aller Hütten waren auf der Empore versammelt und diskutierten hitzig. Als Finnick, der kein Wort mehr gesagt hatte, Clarisse und ich näher kamen, verstummten die Gespräche und alle versammelten Camper sowie Jägerinnen und Götter, die vor dem Pavillon standen bildeten eine schmale Gasse für uns. Ich überlegte mir, was sie wohl sahen. Das Gesicht, was mir heute Morgen im Spiegel entgegen geblickt hatte war abgekämpft, angespannt und müde gewesen. Und genauso fühlte ich mich auch noch. Sei es weil Euronyme (die schon verdächtig lange ihre Klappe gehalten hatte) mir meine Zuversicht und Kraft entziehen wollte, oder aber weil ich tatsächlich abgekämpft, angespannt und müde war. Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem.

Aber nach dem Gespräch mit Finnick (dem ersten Teil, nicht der in dem ich ihn in seiner ohnehin schon beschissenen Situation richtig schön verletzt hatte) und nachdem ich meine Jägerinnenweste (keine Ahnung, ob ich überhaupt noch zu diesem seltsamen Club dazugehörte oder nicht, egal) und meine bronzene Rüstung angelegt hatte, Lukes Messer an meinem Gürtel baumelte und ich meine magische Haarspange sicher bei mir wusste, fühlte ich mich doch eine winziges bisschen stark. Mir fiel etwas ein, was May mal gesagt hatte. Wer es nicht versucht, hat schon verloren. Und damit hatte sie verdammt nochmal recht. Wenn ich es nicht wenigstens versuchen würde, würden ohnehin alle hier Anwesenden sterben, sogar noch viel mehr. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was Euronyme mit der Welt machen würde, wenn sie erstmal die Kontrolle hatte. Wahrscheinlich in eine noch furchtbare Version dessen verwandeln, was sie war bevor sie sich zurück ziehen musste.

Oh nein, Süße, viel schlimmer.

Klappe halten, Euronyme. Dazu wird es nicht kommen, erwiderte ich und hoffte, dass mir keiner hier ansah, dass ich gerade ein Pläuschchen mit unserer größten Feindin führte.

Niedlich, wie zuversichtlich du bist, kleine Z- In meinen Gedanken stellte ich mir vor, wie ich Euronyme die Hand auf den Mund drückte, um sie am Sprechen zu hindern. Zu meiner großen Überraschung verstummte sie wirklich. Das erfüllte mich ein wenig mit Triumpf.

„In wenigen Stunden wird dieses Camp hier angegriffen werden, unser Zuhause, und das Zuhause vieler Generationen von Halbgöttern vor uns.", begann ich und anscheinend bestand kein einziger Klugscheißer darauf, dass ich eigentlich gar kein Halbgott war. Meine Stimme klang tatsächlich ganz anders als ich mich fühlte. Zuversichtlich und stark. Es war so leise, dass ich nicht hätte schreien müssen, aber ich tat es trotzdem. Reden vor einem Kampf wurden nicht geflüstert.

Ich sprach von einer großen Aufgabe, einer Pflicht, die wir alle zu erfüllen hatten. Ich redete von Ehre und Tod, Stolz und Schmerz und davon, wie die Helden des Olymps schon unzählige Male schreckliche Katastrophen abgewendet hatten. Davon, dass das hier unsere Lebensaufgabe war und die Zeit für uns alle nun gekommen war, zu zeigen, was wir wirklich konnten.

„In Zukunft werden wir uns jedes Jahr an diesen Tag erinnern um unseren gefallenen Brüder und Schwestern zu gedenken, aber auch unseren Sieg zu feiern. Denn wir werden siegen!" Jeder, ausnahmslos jeder, fiel begeistert in die Zurufe, dem Applaus und das Gegröle ein. Alle reckten ihre Speere, Schwerter und Bögen in die Höhe, die Luft surrte beinah schon vor positiver Energie und zum ersten Mal verstand ich den Sinn von solchen Reden. Ich hatte nichts besonders Neues gesagt, ich hatte, um ehrlich zu sein bloß das gesagt, was große Helden in Filmen immer sagten. Für gewöhnlich war ich nicht diejenige, die große Reden schwang. Ich tüfftelte vor Karten, ich trainierte für große Kämpfe, aber das Reden? Das überließ ich gewöhnlich einem anderen. Gestern erst bei Wills Beerdigung hatte ich aufrichtig und von Herzen gesprochen, heute war das Gegenteil der Fall. Aber das Lügen viel mir so leicht wie eh und je. Wenn wir alle starben, wer würde mir diesen kleinen Schwindel dann noch nachhalten können? Und wenn nicht, was war eine kleine (okay, ich gebe es zu: große) Lüge schon im Vergleich zu Abermillionen Menschen- und Halbgottleben?

Finnick nickte mir kurz zu, wenn sein Blick auch eher durch mich hindurch zu gehen schien. Dass war es, was er mit „alle Hoffnung liegt auf dir" gemeint hatte. Auf der einen Seite hoffte ich, vor dem Kampf keine Zeit mehr für ein Gespräch unter zwei Augen mit ihm zu haben, auf der anderen Seite wollte ich das alles dringend aus der Welt schaffen und ihn zu sehen machte mich traurig. Aber das konnte ich mir jetzt nicht leisten.

„Hört mir zu!", sagte ich deshalb erneut und innerhalb von einer Sekunde war es wieder so ruhig, dass man beinah Dionysos oben auf dem Olymp über das schlechte Essen bei McDoanld's lästern hören konnte. „Ich habe einen Plan."

Besagter Plan war gar kein strategisches Meisterwerk. Mit einfachen Worten war es wohl ungefähr „Kämpft solange ihr könnt und hofft auf ein Wunder". Natürlich verkaufte ich es nicht so. Stattdessen nahm ich einen Permanentmarker und malte in schwarz zwei unterschiedlich große Kreise auf die Karte. Einen, der alle Hütten, das Haupthaus und den Pavillon einschloss und einen kleineren in die Mitte.

„Die äußere Linie ist unsere Verteidigungslinie.", erklärte ich den Plan, der mir erst Stück für Stück beim Reden einfiel. „Wir bilden zwölf Gruppen mit jeweils zwei Göttern und einer Gruppe von Jägerinnen. Darauf teilen wir gleichmäßig alle Halbgötter und Campbewohner auf, die sich in der Lage zum Kämpfen sehen. Bogenschützen platzieren wir auf den Dächern und hier im inneren Kreis bauen wir unser Lager auf, wo Verletzte versorgt werden und Waffen und Rüstungen ausgetauscht werden können. Solange sie unsere äußere Verteidigungslinie nicht durchbrechen, können wir das Camp halten." Alle Augenpaare lagen auf mir und tatsächlich, langsam begann ich zu glauben, dass dieser Plan funktionieren und wir gewinnen konnte. Nicht weil wir die Guten waren und die Guten immer gewannen, sondern weil wir es einfach mussten.

ΩΩΩ

Kleine Randnotiz: Wenn du zufälligerweise Zoë Chester heißt, sechzehn Jahre alt bist und die Welt vor dem Untergang bewahren willst, denk ja nicht, dass irgendein Plan von dir je funktionieren wird. Rechne immer mit dem Schlimmsten, nein, rechnen immer mit schlimmerem als dem Schlimmsten.

Keine zwei Sekunden nachdem ich gedacht hatte, dass wir vielleicht doch eine Chance hatten, war es für einen kurzen Moment stockdunkel geworden und als ich wieder etwas erkennen konnte, waren wir umzingelt.

Soviel zum Thema die äußere Verteidigungslinie halten. Das blanke Chaos brach los. Die Hälfte unserer Leute hatte ihre Rüstungen noch nicht einmal angelegt oder sich zum Schießen positioniert. Die andere Hälfte war schlichtweg überrumpelt und ganz ehrlich, ich konnte es ihnen nicht verübeln.

Ich hatte damit gerechnet, dass unsere Gegner in der Lage waren, Zeus' Schutzbann zu brechen um ins Camp einzudringen, womit ich allerdings nicht gerechnet hatte war, dass sie einfach so auftauchten. Das, was ich um jeden Willen hatte verhindern wollen, nämlich dass sie, die ohnehin schon in der Überzahl waren, von allen Seiten angreifen konnten, war nun eingetroffen. Jackpot.

Siehst du, meine Liebe? So läuft das.

Euronyme. Stände sie mir gegenüber, hätte ich ihr jetzt ins Gesicht gespuckt.

Es handelt sich nur noch um wenige Stunden Zoë, dann ist alles vorbei. Du kannst nichts mehr tun, um dein Zuhause und all diese Leute zu retten. Ich hätte dich verschont, hättest du mit mir kooperiert. Aber nein, du musstest ja stur bleiben. Das hast du davon.

Ich schaute mich um, die Titanen wollten wohl mächtig protzen mit ihrer Armee. Ich erkannte die Rüstungen der Kämpfer, die ich bereits aus der Diadem-Höhle wie auch von der Schlacht mit den Jägerinnen zur Genüge kannte. Neben den abtrünnigen Göttern, die ich alle nur grob zuordnen konnte, machte ich so ungefähr die gesamte Bandbreite von Monster aus, gegen die ich je gekämpft oder von denen ich auch nur gehört oder gelesen hatte. Telchinen, Harpyien, Höllenhunde, Dracaena und und und. Das würde eine nette Party werden.

Ein Pfeil flog haarscharf an meinem Gesicht vorbei, so nah dass ich den Windhauch spüren konnte. Keine Ahnung woher er kam, aber er war mein Weckruf. Ich zog meine Messer und drehte es einmal in der Hand. Eine kleine Gruppe Empusen, hässliche Vampirinnen mit ungleichen Beinen und flammenden Haaren, war auf mich aufmerksam geworden.

Ohne große Mühen schleuderte ich ihnen einen Eishagel entgegen und schickte dann die zwei übriggebliebenen mit meiner Klinge in den Tartaros. Anscheinend hatten sie nicht damit gerechnet, dass ich eine Göttin war und ehrlich gesagt war ich selbst von der Leichtigkeit überrascht, mit der ich meine göttlichen Fähigkeiten beschworen hatte. Vor drei Wochen hätte mich das bisschen Eis meine ganze Kraft gekostet.

Das Geräusch von Metall auf Metall wurde lauter, ich hörte Schreie und Keuchen und für diesen Moment rückte das große Ganze komplett in den Hintergrund. Es ging nicht mehr um Euronyme, die alles was ich kannte dem Erdboden gleichmachen würde, es ging nicht darum sie aufzuhalten, es ging bloß darum, so vielen Feinden wie möglich den Garaus zu machen. Und das tat ich. Wie viele es waren? Keine Ahnung. Ich zählte nicht. Irgendwann verschwamm alles für mich in einen Brei aus Monstern und Körpern, die fielen. Ab und zu bekam ich mit, wie Aurora wirklich weniger knuffige Hasen auf ihre Gegner hetzte, May Salven von Pfeilen abschoss oder Euripides „Zeit zu Duschen, du stinkst nach Fisch, Opa!" brüllte. Dass einige Hütten brannten und unser kleines Amphitheater so platt war, als hätte ein Riese dort eine Arschbombe gemacht hätte, bemerkte ich kaum. Ich hätte auch nicht sagen können, wie viele von Titanenkrieger noch da, beziehungsweise wie viele schon auf unsere Seite gefallen waren. Um ehrlich zu sein, wollte ich das gar nicht wissen. Komischerweise schmerzte meine linke Schulter und meine Hose war angesengt, aber ich hatte keine Ahnung zu welchem Zeitpunkt des Gefechts das passiert war.

Melina, eine Jägerin, die ich wirklich nur mehr als flüchtig kennen gelernt, aber dessen Name ich mir doch gemerkt hatte, rief plötzlich „Zoë, hinter dir! Achtung!"

Blitzschnell drehte ich mich um und hob aus Reflex mein Bronzemesser. Als es wie automatisch in den Körper meines Angreifers eindrang, machte es ein hässliches Hrmpfgsch, er trug keine Rüstung. Doch es war schon zu spät, ein kleiner Dolch, nicht viel länger als eine Feile, bohrte sich im gleichen Moment einige Zentimeter unterhalb des Schlüsselbeins.

„Liam!", entfuhr es mir. Bei Poseidons sieben Weltmeeren, was machte er auf einem Schlachtfeld? Er war ein Sterblicher, ein untrainierter noch dazu.

Liam stöhnte und befühlte seine Wunde. Als er seine Hand beinah schon tranceartig betrachtete, war sie komplett rot. Ihm klappten die Beine weg.

„Du....mein...", krächzte er. Als ich sicher war, dass er mir nichts mehr tun konnte, zog ich den Dolch aus meinem eigenen Fleisch und betrachtete ihn ungläubig. An ihm klebte goldenes Ichor, mein Blut, aber noch etwas anderes, was das Blut verätzte wie Säure. Mein geschultes Auge erkannte es innerhalb einer Sekunde.

„Der ist vergiftet." Es klang nicht wie ein Vorwurf, eher wie eine nüchterne Behauptung. Hier stand ich nun, auf einem Schlachtfeld, was kaum noch an das friedliche Halbblutcamp erinnerte, was ich kannte, in Mitten hunderter Kämpfe mit roten und goldenem Blut und Monsterstaub an meinem Messer und mit vielen Leben auf meinem Gewissen, und konnte es nicht fassen. Er hatte mich schon mal in einen Hinterhalt gelockt, ja, aber mich töten? Mit einigen Sekunden Verspätung setzte der Schmerz ein. Und von mir aus hätte es noch etwas länger dauern können, denn der Schmerz war grauenhaft. Ich wusste nicht, wie ich ihn hätte beschreiben können. Wenn ich mich an meinen ersten gebrochenen Arm, die Verbrennung die ich mir einmal an einem Gasherd zugezogen hatte, jegliche Verletzung durch himmlische Bronze oder sogar an die psychischen Schmerzen, die Kronos persönlich mir bei unsere netten kleinen Teeklatsch verpasst hatte, erinnerte, wusste ich sie zu beschreiben. Das hier war nicht zu beschreiben. Es war einfach nur heiß und ätzend, wie als würde ich von innen heraus aufgelöst werden (nicht dass ich wusste, wie sich das anfühlte, aber so stellte ich es mir zumindest vor).

„Freunde und Feine sind...nicht mehr das, was sie...einmal waren.", ächzte Liam als hätte er meine Gedanken bezüglich meiner Fassungslosigkeit erraten und verzog das Gesicht vor Schmerzen. Ich konnte nicht abschätzen, wie ernsthaft seine Verletzung war, aber nett sah es nicht aus.

Wut kroch in mir hoch. Er lag verletzt zu meinen Füßen und konnte es trotzdem nicht lassen, mit neunmalklugen Sprüchen um sich werfen? Was bildete er sich eigentlich ein?

Du bist wütend, liebe Zoë, und das darfst du. Lass es raus.

„Halt die Klappe, Euroynme!", brüllte ich und Liam schaffte es in seinem Zustand tatsächlich noch, mich verwirrt anzuschauen. Ich war nicht nur wütend auf ihn, ich war auf alle wütend. Auf jeden, der hier Blut vergoss, auf die Zwölf, die Titanen, eigentlich auf alle Götter, auf Will, der einfach so gestorben war, auf Finnick, der mich ermutigt aber auch in die Ecke gedrängt hatte und vor allem war ich wütend auf mich selbst.

Jeder Atemzug tat höllisch weh und inzwischen pochte meine Schulter mehr als mein Herz. Ohne das Adrenalin in meinem Körper und die immer rascher steigende Wut, hätte sich mein Bewusstsein jetzt wohl verabschiedet.

Wie als hätte es das Schicksal gewollt, lenkte ich meinen Blick für eine Sekunde auf May, die auf dem Dach der Zeus-Hütte Deckung zum Schießen gesucht hatte und mich verzweifelt anschaute. Sie rief etwas, was im Schlachtgetümmel unterging, aber man musste kein Lippenleser sein um zu wissen, dass es „Nein!" war, und dann rammte ich mein Messer mit aller Kraft in den am Boden liegenden Körper. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie May mit einem Ninja-Move vom Dach sprang und mit tränenverschmierten Gesicht auf mich zugelaufen kann. Erst der Verrat ihres Freundes, dann der Tod ihres Zwillingsbruders und jetzt noch ein weiter Tod... Sie musste am Ende sein und auf eine kranke Weise belustigte mich das. Die Tatsache, dass meine Sinne so geschärft waren, dass ich aus der Distanz Mays Tränen sehen konnte, verwunderte mich nicht.

Es fühlt sich gut an, oder? Die Macht zu haben?

Was war das für eine seltsame Stimme in meinem Kopf? Ich ignorierte sie und trat den leblosen Jungen am Boden mit den Füßen. Er bewegte sich nicht mehr und seine Augen waren weit aufgerissen. Fast schon lustig sah er aus, wie ein Clown.

Deine Wunde, du kannst so nicht weiter machen. Nutze deine Fähigkeiten.

Danke für den Rat, komische Frauenstimme!, dachte ich und legte meine Hand auf die Einstichstelle. Augenblicklich wurde genau diese Stelle erst kühl, dann kalt, dann frostig und schließlich übernatürlich eisig. Der Schmerz wurde von Bitte, mach dass es aufhört! zu Es ist zu ertragen. Na bitte, warum denn nicht gleich so. Wer dachte, dass ein bisschen Gift mich aufhalten konnte, hatte sich aber gewaltig geschnitten. Den Narr, der das versucht hatte, musste ich unbedingt umbringen. Oder hatte ich das nicht bereits? Keine Ahnung, das war jetzt egal.

Suchend sah ich mich nach dem Nächsten um. Wer traute sich, gegen mich anzutreten? Die unschlagbaren Zoë Chester! Mit einer Handbewegung, die wie beiläufig schien, fror ich drei Männer in Rüstungen ein und als sie umkippten und auf dem Boden aufkamen, zersplitterten sie in tausend kleine Eistropfen. Das sah hübsch aus.

Sehr schön, Zoë.

Ich beschloss, dass die Stimme wohl gut war, schließlich lobte sie mich und wegen ihr musste ich mich nicht vor Schmerzen krümmen. Und irgendwie klang sie auch wie meine eigene.

„Dankeschön." Meine Schritte wurden federnder und ich hatte das Gefühl, größer, schneller und kräftiger zu sein. Jede Bewegung, jeder Gedanke, alles forderte plötzlich viel weniger Aufwand, so als wüsste mein Körper schon längst was er tun sollte und brauchte dafür nicht noch zusätzlich meine Befehle. Autopilot quasi.

Dieser Zustand hielt jedoch nicht wirklich lange an. Auf einmal fühlte ich mich wieder wie vorher, schlimmer sogar, ich hatte schreckliche Kopfschmerzen und wusste nicht wo ich war und was ich tat. Erst der Blick auf mein Messer, an dem auch menschliches Blut klebte, holte mich zurück in die Realität. Ich hatte Liam umgebracht, meinen alten Freund Liam! Wie hatte das bloß passieren können? Was war ich nur für ein widerliches Monstrum?! Ein Schluchzen setzte sich in meiner Kehle fest doch bevor es herausbrechen konnte schaltete ich wieder um in den Euronyme-Modus, dann wieder zurück.

Wehr dich doch nicht dagegen, Schätzchen!

„Wogegen wehren? Ich habe doch keine Ahnung was hier abgeht!" Mein Kopf dröhnte, am liebsten hätte ich nach James Drieve aus der Hephaistos-Hütte gerufen, damit er den Wackelkontakt in meinem Kopf reparierte. Erneut schlug es um. In einem Schild sah ich mein eigenes Spiegelbild. Ich grinste zufrieden und meine Augen funkelten, als - Moment- meine Augen! Da waren keine Augen, zumindest keine richtigen.

Kurz bevor mich damals als Zwölfjährige in London ein Höllenhund angegriffen hatte und alles seinen Lauf genommen hatte, war meine Klasse mit unserem Physiklehrer in einem Planetarium gewesen. Ich war nur mittelmäßig begeistert und das Highlight des Tages war der anschließende Besuch bei Subway gewesen, aber jetzt erinnerte ich mich an diesen einen Film. Auf einem übergroßen Bildschirm war Stück für Stück von unserem Standpunkt rausgezoommt worden. Die Straße, London, England, Großbritannien, Europa, die Erde, unser Sonnensystem und schließlich viel schwarz, schimmerndes grün und lila, gespickt mit Millionen von winzig kleinen Punkten, die alle Sterne waren. Genau so sahen meine Augen aus. Gruselig und irgendwie faszinierend.

Der Gedanke an meine alte Schule brachte mich auf den Boden der Tatsachen zurück. Und mit der Fähigkeit, selbstständig zu denken, kamen auch die Schmerzen zurück. In der Hoffnung, dass es helfen würde, presste ich meine Hand auf die winzige Einstichstelle, aber natürlich half es nicht. Schließlich musste ich keine Blutung stoppen.

Du bist schon mit mehr als ein bisschen Gift klargekommen, Chester., ermahnte ich mich selbst. Du hast jetzt ganz andere Probleme!

Genau. Fangen wir doch damit an, dass ich Stück für Stück die Herrschaft über meinen Körper und meine Gedanken an Euronyme verloren hatte. Zum Beispiel.

Bei meinem nächsten Blick in das blank polierte Schild waren meine Augen wieder wie immer – eisblau. Aber das war nicht das einzig eisige.

Bevor ich wieder darüber nachdenken konnte, dass ich gerade einem alten Freund ein Messer in die Brust gerammt hatte, nahm ich hinter mir etwas Kaltes wahr. (Hallo? Dabei war ich doch hier die Eisgöttin!) und drehte mich um.

Als ich Chione das erste (und letzte) Mal gesehen hatte, trug sie Jeans, Top und tippte gelangweilt auf einem Handy rum. Wie jeder gewöhnliche Teenager. Jetzt sah sie eher aus wie eine Göttin.

Ihre Haut war so weiß wie eh und je und ihre kunstvoll um den Kopf geflochtenen Haare schwärzer als in meiner Erinnerung. Augenblicklich schoss mir wieder der Schneewittchenvergleich in dem Kopf. Nur das Schneewittchen sicherlich keine griechische Chiton mit Fellbesatz trug und meinen Ex-Freund Euripides (durfte ich ihn überhaupt Ex-Freund nennen oder war das nur Mädchen vorbehalten, die tatsächlich eine echte Beziehung zu einem Jungen geführt haben? Also eine, die nicht auf Lügen basierte?) versuchte, in einen Eisklotz zu verwandeln.

„Chione!", brüllte ich. „Du bist falsch! Er ist auf unserer Seite!"

Euripides drehte sich nicht um, als er mir zurief „Nichts da, dein Schwesterherz ist falsch!" und Chione Regentropfen entgegen schleuderte, die diese sofort einfror und zurück schickte. Der Wolkengott konnte gerade noch so ausweichen. Es schaltete bei mir.

Augenblicklich beschwor ich eine Schnee- und Eisfront vor mir und Euripides. „Lass mich, dass ist mein Kampf!", wies ich Euripides an und tatsächlich ließ er ab und verschwand aus meinem Sichtfeld.

„Zoë..." Chiones Stimme klang nicht wirklich verärgert, eher überrascht. Kurz schwand ihre Konzentration und sie bekam alles ab, was sich bei mir angestaut hatte, natürlich in gefrorener Form. Die Göttin strauchelte.

„Du bist abtrünnig geworden!", stellte ich fest. „Hat Euronyme dir besseres Taschengeld versprochen als Daddy? Weiß er überhaupt, dass du hier bist?" Ich bereitete mich auf einen weiteren Angriff vor. Wie hatte es Chione mir selbst nicht noch erklärt? Stell dir vor, zwischen deinen Händen braut sich ein Schneesturm zusammen, und wenn er so stark geworden ist, dass du nicht mehr halten kannst, lässt du mit voller Wucht los.

Erneut kämpfe Chione damit, das Eis abzuhalten.

„Du verstehst es nicht, Zoë! Wie denn auch?" Nun war es meine Schwester, die einen Angriff vorbereitete. Für Außenstehende musste es mächtig kalt um uns herum geworden sein. Wahrscheinlich konnten sie uns noch nicht mal ausmachen, denn wir befanden uns in einem großen, eisigen, weißen Nichts. Kein Geräusch von außen drang zu uns hinein, die Welt könnte wortwörtlich untergehen und wir würden es nicht bemerken. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Vielleicht lag es an der eisigen Kälte, die mir schon eben Linderung meiner Schmerzen verschafft hatte, denn das unbeschreibliche Gefühl unterhalb meines Schlüsselbeins war beinah nur noch ein dumpfes Pochen, wenn auch eins, dass sich langsam aber sicher auf meine gesamte linke Seite ausbreitete.

Vor mir schoss ohne Vorwarnung eine Eiswand aus dem Nichts und fing Chiones zugegeben lahmen Angriff ab.

„Ich ahnte, dass das passiert, damals als ich dich das erste Mal sah. Ich hätte dich mitnehmen sollen... Warum habe ich dich nicht einfach mitgenommen...?"

„Wovon redest du da? Du sollst kämpfen, nicht labbern!" Ich war ehrlich gesagt verwirrt und musste mich konzentrieren, nicht nachzulassen. Und langsam stieg wieder diese Wut in mir auf, die mich eben schon einmal fast die Kontrolle über mich selbst gekostet hatte.

„Hätte ich gewusst, was das alles mit dir macht... Zoë, es tut mir so leid..." Ihre Worte wollten nicht so ganz zu den Eisgeschossen und frostigen Winden passen, die sie auf mich hetzte. Wie konnte sie sich entschuldigen für Dinge von denen sie keine Ahnung hatte?

Beinah hätte ich nicht gemerkt, dass sie inzwischen nur noch in Abwehrhaltung war. Wie von alleine schleuderte ich unermüdlich Hagel und Schnee auf sie, trübte ihre Sicht, vereiste ihre Gelenke, sodass ihre Bewegungen um weites langsamer wurden und ließ immer wieder ihre Verteidigungswand zu Pulverschnee zerfallen.

Ich war vergiftet worden? Pff, so ein Quatsch, davon spürte ich nichts mehr.

„Hey, das macht ja richtig Spaß!", rief ich aus. Dieser Kampf kostete mich weniger Energie als der Spühldienst in der Camp-Küche. Woher die Kraft kam? Nicht mein Problem. Meine geschärften Sinne erlaubten es mir, Schweißperlen auf Chiones Gesicht auszumachen. Sie glühte vor Anstrengung, was als Kältegöttin nicht gerade förderlich in einem Kampf war.

„Sicher, dass du hier die Jahrhunderte erfahrene Schneegöttin bist? Oder eher ich?", verspottete ich sie und keine Frage, seit langem hatte ich mich nicht mehr so übergöttlich gut amüsiert. Meine Schwester wimmerte und krümmte sich hinter einer lächerlich dünnen Eiswand zusammen, die mich wohl aufhalten sollte. Irgendwo in mir musste der Gedanke lauern, dass das, was ich gerade tat, falsch war, dass das nicht ich war sondern dass ich immer mehr mir der Schöpfungsgöttin verschmolz indem ich ihre nahezu unerschöpflichen Reserven anzapfte. Aber der Gedanke blieb wo er war: Ganz tief in meinem Hinterkopf.

„Wer den Olymp verrät, muss bitter bezahlen!", brüllte ich und sammelte noch einmal Energie für den finalen Schlag. Für mich war es so leicht wie mit dem Finger zu Schnippen und Satyrsamba zu sagen. Vor meinem inneren Auge konnte ich förmlich die Ladeanzeige sehen, die rasch nach oben stieg. Zehn Prozent, Zwanzig, Dreißig, Vierzig...

Chione, du dummes Mädchen, du wirst mein erstes göttliches Opfer sein!", verkündete ich mit tausend Stimmen gleichzeitig, Cool irgendwie. Wer konnte schon behaupten, zu sprechen wie ein ganzer Chor?

Meine imaginäre Ladenanzeige war inzwischen auf dreiundsiebzig Prozent geklettert. Ich war fast so weit, das verräterische Stück in die Unterwelt zu schicken, als dann doch tatsächlich eine Stimme von Außerhalb zu mir durch drang und mich störte, wie auch immer das möglich war. Es war bloß mein Name.

„Zoë!" Plötzlich fühlte ich mich, als hätte mich jemand aus einem tiefen Traum gerissen. Was tat ich hier? Warum war ich hier? Weshalb war es so kalt? Wie war ich hier hin gekommen? Wo war ich überhaupt? Bevor ich meine Gedanken sortieren konnte, bemerkte ich, dass sich in mir drin ein Eissturm zusammen braute. Ja, ganz richtig, ein Eissturm. Andere brüteten Magendarmkrankheiten aus, aber das war natürlich viel zu langweilig und normal für Zoë Chester. Wie das nur wieder möglich war? Keine Ahnung, aber ich hatte im Laufe der Zeit aufgehört, ungewöhnliche oder sogar unmögliche Dinge zu hinterfragen.

Halt, Stopp!, befahl ich mir selbst, aber es half nicht viel. Ich versuchte es zu unterdrücken (was sich ungefähr so anfühlte, als würden man einen Brechreiz unterdrücken wollen, alles andere als angenehm), aber meine Glieder wurden immer schwerer und ich immer schwächer und als wäre das nicht genug, setzte der Giftschmerz wieder ein. Lange würde ich das nicht aushalten können, ich konnte nicht mehr dagegen ankämpfen.

Schließlich brach der Damm, die weiße Hülle um mich und meine Schwester verschwand und wie ein Tsunami überrollte beißende, weiße Kälte alles, und zwar wirklich alles. Ich musste die Augen schließen und als ich sie wieder öffnete, tanzten Schatten vor meinen Augen. Jeder Kämpfer beider Seiten und sogar die Natur hatte in der Bewegung innegehalten, als hätte jemand bei einer DVD auf Pause gedrückt oder beim Stopptanz die Musik ausgemacht. Eine Halbblut direkt neben mir war im Fall erstarrt, was eigentlich nicht mit der Schwerkraft hätte vereinbar sein dürfen, etwas was ich als Dachziegel der Demeter-Hütter erkannte und anscheinend von einem Windstoß oder einer Explosion von seinem Platz gefegt worden war, befand sich mitten in der Luft, an den Bäumen hingen Eiszapfen, über den Boden waberten weißen Nebelfetzten und beim Ausatmen bildeten sich kleine Eiskristalle in der Luft.

Zwischen zwei Wimpernschlägen nahm ich das Ausmaß der Katastrophe in meinem Zuhause wahr. Ja, ich war vielleicht eine Göttin, aber das Camp würde immer mein zuhause sein. Dass der Großteil aller Gebäude zerstört war, damit konnte ich leben. Dass Unmengen an Bäumen entwurzelt und dass das Wasser im See tiefschwarz war sicher nicht irreparabel. Was mein Herz schwer machte war, dass all diese Monster und Krieger das Camp entweiht hatten. Das hier war keine Ort für echte Schlachten, das hier war ein schöner Ort, ein Rückzugsort, ein Ort, an den man zurück dachte, wenn man alt und grau war (falls auch nur irgendjemand hier je alt und grau werden würde). Es war kein Ort zum Sterben, aber das war er für hunderte von Campern geworden. Mehr als drei Viertel derjenigen, die vorhin noch so zuversichtlich ihre Waffen empor gestreckt und mir zugejubel hatten, waren tot. Der Rest verletzt, hoffnungslos, umstellt, dem Tode geweiht. Ich konnte in ihre erstarrten, ängstlichen und zu Grimassen verzehrten Gesichter sehen und wollte nur noch heulen.

Eine hässliche Stimme, die Ates verdammt ähnlich war, flüsterte mir zu, dass all das meine Schuld war und ein Teil von mir glaubte ihr.

Wäre ich niemals geboren worden, wäre all das nicht passiert. Dieses Gefühl war tausend Mal schlimmer als jedes Gift.

Jetzt erst erinnerte ich mich wieder an die Stimme, die mich schon zweimal in den letzten Monaten so unglaublich aus der Fassung geworfen und die mich auch gerade eben (den Göttern sei Dank) aus meiner Euronyme-Trance geweckt hatte.

„Beeindruckend.", sagte Luke, der hinter einem Trümmerhaufen hervorgekam. Im Gegensatz zu allen anderen Monstern, Halbgöttern und was sich hier sonst noch so die Birne einschlug (oder besser gesagt: bis eben noch die Birne eingeschlagen hatten) konnte er sich, wie ich auch, ganz normal bewegen. Wäre ich nicht so erschöpft, demotiviert und verwirrt gewesen, hätte ich vorsichtshalber mein Messer gezogen. Ich brachte keinen Ton raus. Ich meine, was sollte ich auch sagen? Wusstest du nicht, dass man das als besessene Eisgöttin kann? Danke, dass du mir letztens bei den Titanen das Leben gerettet hast? Was sollte eigentlich der Scheiß mit dem Diadem, das war ja mal sowas von unnötig? Also fokussierte ich ihn bloß mit meinen Augen, bemüht ja nichts von dem zu zeigen, was ich fühlte.

„Und schon wieder gibt eine weiter Zeile der Prophezeiung Sinn.", sagte er und stieß einen Titanenkämpfer lässig im Vorbeigehen um, der mit einem Scheppern zu Boden fiel. Es hallte laut in die unnatürliche Stille hinein, die plötzlich hier herrschte.

„Was meinst du damit?", fragte ich vorsichtig. In seinen Augen suchte ich nach der Kälte und der Verachtung, mit der er mich im Titanenthronsaal bedacht hatte, aber ich wurde nicht fündig. Trotzdem sah er noch abgekämpfter aus als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Ob er bestraft worden war, weil er mir geholfen hatte?

Sie hat doch gewartet, im Schlafe gewacht.", zitierte er.

Die Welt stirbt in Eis, die Zeit ist gefroren.", ergänzte ich wie aus der Pistole geschossen. „Du hast Recht."

„Ich habe immer Recht, Zozo." Luke grinste und auch ich musste lächeln, was total absurd war. Aber ich freute mich so sehr ihn zu sehen, dass ich für einen Moment dachte, alles könnte gut werden, dass meiner Erschöpfung, der Schmerz und die Hoffnungslosigkeit verschwunden waren. Dann verfinsterte sich seine Miene wieder schlagartig. „Und jetzt komm, ich habe dir wirklich eine ganze Menge zu erzählen."

Okay liebe Leser (oder der mickrige Haufen, der von euch übrig geblieben ist), jetzt kommt der Endspurt, das hier war das vorletzte Kapitel!

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