XIV. Kapitel
Der Weihnachtsmann existiert nicht und Hamburger waren einmal kleine süße Kuh-Babies
Für meinen Geschmack war ich in der letzten Zeit definitiv zu oft ausgeknockt worden. Ich hatte keine Ahnung, wie viele Stunden oder Tage seit unserer Begegnung mit Luke und seinen Männer vergangen war. Ich hatte noch nicht mal eine Idee, wo genau ich mich befand, auf dem Olymp, dem Berg Otrys oder einem Krankenhaus für Sterbliche. Die sterile weiße Farbe, von der die Bettwäsche, die Wände, der kleine Beistelltisch und meine Nachthemd war, und er Geruch nach Desinfektionsmittel ließen darauf schließen, dass ich mich nicht in einem Hotelzimmer befand. Im Fenster konnte ich mein Spiegelbild sehen. Meine Haare waren gekämmt, keine Augenringe, gebrochenen Nase oder etwas, was auf die anstrengenden letzten Wochen hinwies. Im Gegenteil, ich fühlte mich fabelhaft und sah aus, wie nach einem Schönheitsschalf. Vorsichtig betastete ich meinen Körper nach Verbänden, Wunden oder sonst etwas, aber ich hatte noch nicht mal ein Pflaster. Also setzte ich mich auf und griff nach dem Wasserglas, was auf dem Nachtisch stand. Noch ehe ich es zu meinen Lippen geführt hatte, machte es plopp und Artemis war neben mir aufgetaucht.
„Zoë, Liebling. Wie geht es dir?", fragte sie besorgt. Ich war neugierig, deshalb vergaß ich für einen Moment, dass ich sie ja eigentlich ignorierte, weil sie eine Rabenmutter gewesen war. Außerdem schien ihre Sorge aufrichtig.
„Um ehrlich zu sein: Mir geht es prächtig.", antwortete ich und schlug die Decke zurück. „Ich fühle mich wie neu geboren."
„Wie neugeboren.", wiederholte sie leise.
„Also? Was ist mit Euripides und Liam? Haben die Titanen das Diadem?", wollte ich wissen.
„Mit den beiden Jungs ist alles in bester Ordnung. Euripides hat erzählt, dass die Titanenarmee sich plötzlich zurückgezogen und er dann gemerkt hat, dass du und Liam nicht bei Bewusstsein wart. Die Armee hat sich in Luft aufgelöst und Euripides hat euch und sich auf den Olymp geschnipst. Und das Diadem haben wir."
„Wo ist es?"
Artemis nahm meine Hand und legte sie auf meinen Kopf. Ich spürte etwas Kaltes. Noch einmal schaute ich, diesmal etwas genauer, in den Fensterspiegel. Tatsächlich, da glitzerte etwas in meinen Haaren.
„Das ist nicht...ist das etwa das Diadem?", fragte ich erstaunt.
Meine Mutter nickte. „Es ist wie festgeklebt, wir kriegen es nicht ab. Merkst du einen Unterschied zu vorher? Apollo hat gesagt, dass es sein kann, dass du erst in ein paar Jahrzehnten wieder zu dir kommst. Ein Wunder, dass dich dein Körper so schnell daran gewöhnt hat."
Jetzt wo sie es sagte und ich darüber nachdachte... Es fühlte sich wirklich anders an. Es war mir nur so normal vorgekommen. Ich fühlte mich unglaublich weise und ausgeglichen, mächtig und stark, als würde alles was ich dachte, sagte oder tat wichtig und von riesiger Bedeutung sein. Ich endschied mich, erst mal nicht zu viel zu sagen. Schließlich wusste ich immer noch nicht, welche Rolle die Olympier in der ganzen Sache spielten.
„Ist es schon ein bisschen anders... Aber um das Diadem zurückzukommen. Was bedeutet das genau für mich?"
„Naja...also soweit wir wissen...Das ist kompliziert. Das Diadem hat etwas Bestimmtes ausgelöst."
„Erklär's mir."
„Es hat mit deinem Vater zutun."
„Ja-ha?"
Sie holte tief Luft. „Er ist ein Gott." Ich hustete weil ich mich an meinem Wasser verschluckt hatte.
„Wie bitte?! Du hast gesagt es war ein Sterblicher! Außerdem kann das gar nicht sein! Ich bin ein Halbblut!"
„Bitte hör zu. Dein Vater ist ein Nebengott, ich habe für nachher ein Treffen organisiert."
"Aber das kann nicht sein! Wenn er ein Gott ist...!" Bin ich auch einer vervollständigte ich den Satz in Gedanken.
"Bei deiner Geburt haben dein Vater und ich dich mit einem Fluch belegt. Vor Tausenden von Jahren wurde er häufig von Göttern angewendet um uneheliche Kinder zu vertuschen. Stell dir das vor wie eine Blockade, die verhindert, dass du dich komplett entfaltest und göttliche Züge annimmst. Du wirst quasi zum Halbblut. Ein Viertel von jedem Elternteil und den Rest menschlich. Es ist ein komplizierter Zauber, er hat mich jede Menge Kraft gekostet. Aber ich habe auch nicht unendlich viel Macht. Das Diadem hat nun die Blockade gebrochen und deine göttlichen Fähigkeiten haben sich entfaltet."
Die Wörter erreichten erst einige Sekunden später mein Gehirn. Ich sollte eine Göttin sein? Ich? Ausgerechnet ich? Aurora war göttlich, Euripides, die 12, aber ich doch nicht! Ich war ein fünfzehnjähriges (okay, beinah 16) Mädchen mit Erdbeerallergie, einem Faible für Nutella, das gerne eine Lederjacke und Schnürstiefel trug und sich gegen jegliche Art von offiziellen Anlässen wehrte. Ich war vieles, aber ganz bestimmt keine Göttin! Außerdem war es wirklich sehr nett, von der eigenen Mutter zu hören, dass sie einen vertuschen wollte. Artemis schien an meinem Gesicht ablesen zu können, dass ich diese Nachricht erstmal verdauen musste (das war wahrscheinlich nicht schwer, ich sah mit Sicherheit aus wie ein kleines Kind dem man grad erklärte, dass der Weihnachtsmann nicht existierte und dass das Fleisch im Hamburger mal ein süßes kleines Kuh-Baby war).
„Wer ist mein Vater? Ist er mein Schutzpatron?", fragte ich sie und erinnerte mich an das nicht angenommene Opfer auf den runden Platz. Ich nahm mir vor, später wütend auf sie zu sein. Schließlich brauchte ich jetzt erst mal ein paar Informationen.
„Er...du wirst ihn kennenlernen." Sie legte mir eine Hand auf die Schulter.
"Es tut mir leid, ich habe eine wichtige Sitzung mit den Jägerinnen, ich komme nachher wieder. Dein Vater holt dich in einer Stunde ab. Wenn ich mich nicht irre, stehen ein paar Freunde vor der Tür. Darf ich sie rein lassen?" Ich nickte, Artemis verschwand und in dem Augenblick schwang die Tür auf und Euripides, Aurora, Liam, May, Will und Finnick kamen ins Zimmer. Sie redeten durcheinander, stellten Fragen, umarmten mich und trotzdem verstand ich kein Wort. Die Wörter meiner Mutter schallten in meinen Kopf wieder.
Fluch belegt...Kinder vertuschen...komplett entfalten...göttliche Züge...Blockade brechen. Das musste ein schlechter Witz sein. Die Schicksalsgöttinnen wollten mir eins auswischen, sich einen Scherz erlauben.
Das Gerede hörte auf, wahrscheinlich hatten sie gemerkt, dass ich nicht wirklich aufnahmefähig war.
"Ganz schön krass, ne?", sagte Will nach einer Weile in die Stille. "Wenn ich im Sterbebett liege bist du immer noch ein Teenager."
"Ihr wisst von dem ganzen Zeug?", fragte ich.
"Ob wir davon wissen? Auf dem Olymp und im Camp reden die Leute seit Wochen von nichts anderem! Du bist das Thema Nummer eins!", erklärte May aufgeregt.
„Deine Mum steht ziemlich in Kritik, außerdem will sie nicht sagen warum sie den Schwur gebrochen und dich mit dem Fluch belegt hat. Der ist nämlich seit dem achtzehnten Jahrhundert verboten.", ergänzte Aurora.
„Aber hey, jetzt zählt erst mal, dass es dir wieder gut geht.", sagte Euripides und legte mir eine Hand auf die Schulter.
„Is echt so! Ich hatte schon Angst, du wachst erst auf, wenn ich in Rente bin!", meinte Will.
„Was? Wie lange war ich weg?", wollte ich wissen. Liam schaute auf die digitale Uhr an seinem Handgelenk. „Genau drei Monate, zwei Tage und sieben Stunden. Heute ist der einundzwanzigste Dezember."
Drei Monate! Drei Monate hatte ich geschlafen?
„Zoë? Ich glaube, du solltest dich jetzt fertig machen. Im Badezimmer hab ich dir etwas was zum anziehen hingelegt und 'ne Dusche wär bestimmt auch keine schlechte Idee.", schlug Aurora vor. Wie aufs Stichwort machten sich meine Freunde daran, den Raum zu verlassen. Sie verabschiedetem sich, wünschten mir Glück mit meinem Vater und verließen dann den Raum. Nur Finnick blieb und setzte sich neben mich auf die Bettkante.
„Wahnsinn, was in so kurzer Zeit alles passieren kann, nicht wahr?", sagte er nach einer kurzen Pause.
„Um ehrlich zu sein, warte ich noch immer darauf, in meinem Bett in der Hermeshütte aufzuwachen.", sagte ich lachend und versuchte die Stimmung aufzulockern. Finnick lächelte kurz, blieb aber ernst.
„Hey Finny, es ist alles in Ordnung. Das normalisiert sich schon noch alles."
„Ich mag diesen Euripides nicht.", platzte er heraus.
„Was? Euripides ist total in Ordnung, ohne ihn säß ich jetzt nicht hier!", verteidigte ich den Wolkengott.
„Ist nur so ein Gefühl, er ist mir nicht sympathisch."
„Ich muss nicht beschützt werden, ich weiß selbst was ich tue, okay?", sagte ich, vielleicht eine Spur zu bissig.
„Ist mir bewusst. Ich mein' ja nur. Ich will einfach nicht, dass du plötzlich eine von denen wirst und uns komplett vergisst."
„Ich soll euch vergessen? Ach komm schon! Egal was jetzt noch passiert, ich werde immer ins Camp gehören. Versprochen." Finnick schien noch nicht ganz überzeugt, er stand aber auf.
„Du musst dich jetzt fertig machen. Ich will nicht stören." Bevor ich etwas sagen konnte, war er aufgesprungen und aus der Tür. Seltsam, so kannte ich Finnick gar nicht.
ΩΩΩ
Nervös verlagerte ich mein Gewicht von einem Bein auf das andere. Ich war frisch geduscht, trug meine zerlöcherte Lieblingsjeans und meine Lederjacke über einem frischen Camp-Shirt. Das Diadem war wirklich wie fest geklebt, da hatte meine Mutter Recht gehabt. Es störte nicht, aber bei aller Mühe die ich aufgebracht hatte, hatte es sich keinen Millimeter bewegt.
Ich hoffte, wer auch immer mein Vater war, dass er mir einige Fragen beantworten konnte. Nach zehn Minuten Finger kneten (gefühlte zehn Stunden) hörte ich ein Plopp-Geräusch und ein Mann stand vor mir. Er sah aus wie Mitte fünfzig, aber das George-Clooney-Fünfzig, nicht das Normale-Fünfzig. Er war ziemlich groß und breit gebaut mit harten Zügen und übernatürlich blauen Augen. Meine Augen. Er war gekleidet in einer Mischung aus griechischere Chiton und Eskimo-Mantel.
„Zoë Chester.", sagte er. Seine Stimme klang rau.
„Mann, dessen Name ich nicht kenne und der mein biologischer Vater ist.", sagte ich in dem gleichen Tonfall. Ein Grinsen schlich sich auf sein Gesicht.
„Komm mit, wir gehen in meinen Palast." Er schnipste und ich hatte wieder das Gefühl, komplett die Orientierung zu verlieren, genau wie damals beim Gott des Ballermanns. Als ich im nächsten Moment blinzelte stand ich in einer riesigen Halle komplett aus Eis. Riesige Zapfen hingen von der Decke, alles glänzte und glitzerte wie frisch gefallener Schnee. Wunderschöne Wesen, ich tippte auf Eisnajaden, mit dünnen Tüchern bekleidetet liefen umher, durch riesige Fenster konnte man die Schneelandschaft draußen bewundern und am Ende des Saals standen zwei riesige Throne, ebenfalls aus Eis. Der eine war groß und breit, jede Menge kleine Bilder waren in das Eis eingeritzt. Der andere war für eine zierlichere Person gebaut. Zudem war er nicht aus Eis sondern eher aus Schnee und verschnörkelt. Es sah hier aus, wie das Innere einer Schneekugel eines Fünfjährigen. Auf dem kleineren Thron saß ein Mädchen, etwas ältere als ich. Sie hatte schwarze Haare und eine verdammt blasse Haut, so hatte ich mir Schneewittchen vorgestellt, perfekt und unglaublich hübsch. Sie tippte auf einem Handy herum und achtete nicht auf mich.
„Chione!", klang die ohrenbetäubende Stimme meines Begleiters durch die Halle. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Das war Chione, Göttin des Schnees! Ich hatte einmal ein Referat über sie gehalten, bevor ich ins Camp gekommen bin.
„Was ist, Vater?", rief sie gelangweilt zurück und blickte nicht einmal auf.
„Boreas?", fragte ich erstaunt und drehte mich um. Er bestätigte mit einem kurzen Nicken. Ich wusste nicht allzu viel über diesen Gott. Er war einer der vier Windgötter, der des winterlichen Nordwinds wenn ich mich nicht täuschte.
„Tochter, ich habe hier deine Halbschwester bei mir."
Mit einem Mal sprang Chione auf und kam auf mich zu. Das Handy war vergessen. Sie umkreiste mich wie ein Tiger seine Baute, mustere jeden Quadratzentimeter meines Körpers, mir war unwohl.
„Schade, ich hatte gedacht, die Macht des Diadems zerreißt dich." Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Freut mich auch, dich zu treffen? Tja, anscheinend nicht? Hallo Schwesterherz?
„Nanana Chione, bitte nicht so unfreundlich!", tadelte er sie. Diese rümpfte einfach nur die Nase. Boreas dirigierte mich zu einem kleinen Tisch aus Eis, gedeckt mit American Cookies und Limonade. „Sie ist manchmal etwas launisch, aber insgeheim ist sie ein tolles Mädchen." Ich setzte mich, er sich mir gegenüber. In meinem Kopf schwirrten tausend Fragen. Von was für einer Prophezeiung hatte Luke geredet? Warum konnte ich mich nicht von dem Diadem trennen? Warum hatte sich meine Mutter, die Göttin der Jungfräulichkeit, auf einen Nebengott eingelassen? Und warum hatte sie mir das verschwiegen? Wenn ich wirklich kein Halbgott war, was dann? Und was bedeutete das für meine Zukunft? Ich begann mit der leichtesten Frage.
„Wo sind wir hier?"
„Oh, das hier ist das Penthouse eines Hotels in Quebec, eine Provinz in Kanada. Von mir ein wenig verändert. Gefällt's dir?"
„Ähm...ja."
„Ich muss dich übrigens loben. Dein Französisch ist wirklich perfekt." Mein Französisch? „Hast du den nicht gemerkt, dass du Französisch sprichst?" Ich schüttelte den Kopf, als ich mich jedoch genauer darauf konzentrierte, merkte ich es. Mein Gehirn hatte einfach umgeschaltet, wie wenn ich Griechisch lese.
„Könntest du mir erklären, was es mit diesem Fluch auf sich hat?", fragte ich.
„Das ist nicht kompliziert. Wenn zwei Götter ein Kind kriegen, ist es automatisch auch ein Gott. Das Aufgabengebiet eines Gottes leitet sich entweder aus dem der Eltern ab, oder es ist etwas komplett Neues. Ich bin der Gott des winterlichen Nordwindes, meine Tochter Chione ist Göttin des Schnees. Das passt, siehst du? Ares, der älteste Sohn von Zeus und Hera ist der Gott des Krieges. An sich passt das nicht, aber jeder Bereich muss abgedeckt werden. Je jünger und unbedeutende die Götter sind, desto kleiner sind ihre Gebiete. Ich kenne auch Götter, die gar kein Themengebiet haben, zwar unterblich sind und allgemein göttliche Magie beherrschen, aber das war's. Kannst du mir folgen?" Wieder nickte ich.
„Während des goldenen Zeitalters Griechenlands gab es sehr viele Affären unter den Göttern, da passierte es schon mal, dass ein Kind geboren wurde. Damit die Götter keinen Streit mit ihren Partnern bekamen, wurde das Kind mit einem Fluch belegt. So war es quasi ein Halbgott und alle Probleme waren für die Eltern aus dem Weg geräumt."
„Problem.", wiederholte ich mich säuerlicher Miene.
„Du wirst es verstehen, glaub mir. Und du bist keinesfalls ein Problem. Ich bin kein großer Kenner von alten Flüchen, aber deine Mutter sehr wohl. Sie hat es gut gemacht, aber dieses Diadem war stärker. Verrätst du mir, warum du es aufgesetzt hast?"
„Lu...ein Titanengeneral hat es getan.", erklärte ich. Boreas runzelte die Stirn.
„Hm... die Titanen haben Interesse daran, das dieser Fluch gebrochen wird, das verstehe ich nicht wirklich."
„Bin ich den jetzt eine Göttin oder nicht?", fragte ich ungeduldig.
„Ein Gott ist man erst, wenn man von Zeus persönlich zum Gott ernannt worden ist. In dem Sinne also nicht. Aber deine Aura lässt darauf schließen, es ist eine starke Aura. Tust du mir einen Gefallen? Denk bitte ganz fest daran, dass in deinem Glas keine Limonade sondern Cola ist."
Ich tat, was er sagte, stellte mir ganz fest vor, sah vor meinem inneren Auge ein Glas mit süßer, klebriger Cola, Eiswürfeln, einem Strohhalm...
„Stell es dir wirklich bildhaft vor. Und jetzt schnips in die Finger.", wies er an.
Ich schnipste und plötzlich war ich wahnsinnig müde, mir fielen die Augen zu.
Als ich sie wieder öffnete, ich traute meinen Augen kaum, stand ein Glas Cola vor mir. Ich war erschöpft wie nach einem Marathon, aber ich hatte es wirklich geschafft. Unglaublich.
„Unglaublich.", sagte auch Boreas. „Der Rat wollte dich eigentlich darauf testen... Reichst du mir bitte mal deine Hand?"
Ich war immer noch müde, streckte aber meine Hand vor und Boreas umklammerte sie. Ich stoß einen erschreckten Laut aus, erst recht, als ein Messer in seiner Hand auftauchte. Was zum heiligen Hades sollte das?! Beinahe vorsichtig streifte das Messer meine Haut, ein oberflächlicher Schnitt. Mein Blut tropfte herunter, aber es war nicht rot sondern golden. Sobald es den eisigen Boden berührte gefror es. Boreas starrte fasziniert auf den goldenen Tropfen Blut, Ichor, und ich ergriff die Gelegenheit, ihm mein Handgelenk zu entreißen.
„Spinnst du?!"
„Ich wollte mich nur vergewissern...", sagte er schulterzuckend.
„Schön. Wenn du dich jetzt vergewissert hast, so nebenbei, du hättest mich auch fragen können, bin ich wieder dran mit Fragen stellen."
„Natürlich, schieß los."
„Wenn ich nun wirklich ein Gott bin", wagte ich die Tatsache auszusprechen, „was ist dann meine Aufgabe? So wie deine ist, den Nordwind zu kontrollieren?"
„Oh, diese Frage kann ich beantworten. Vor tausenden von Jahren kamen mich die drei Moiren, Schicksaalsgöttinnen besuchen. Sehr ungewöhnlich, meistens erscheinen sie nur Halbgöttern, im Traum oder bei großer Gefahr. Auf jeden Fall sagten sie mir, dass ich zwei Töchter haben werde, Schnee und Eis. Kurz darauf gebar mir Oreithyia eine Tochter, Chione. Sie ist mein ganzer Stolz." Ein väterliches Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. „Ich hab schon lange auf dich gewartet, Zoë."
„Moment mal, Eis? Was heißt das?"
„Das heißt, dass ab heute in den Schriften steht Zoë, Göttin des Eises. Tochter von Artemis und Boreas, bevorzugte Auftretens weise: Springerstiefel, Lederjacke, Lippenpercing und ein altes Diadem auf dem Kopf."
Ich lächelte. „Keine Sorge, von dem Rat persönlich wirst du ausgebildet was deine Fähigkeiten angeht. Haben sie bei Dionysos und Herkules auch gemacht. Und außerdem kannst du immer Chione fragen, wenn du Probleme hast, schließlich trennt euch und euren Aufgabenbereich nur einen einzigen Grad Celsius.", beruhigte er mich.
„Das, lieber Vater, wird sie ganz bestimmt nicht tun!", schaltete sich Chione ein, die sich lautlos hinter mich geschlichen hatte.
„Chione, meine Liebe. Du kommst gerade Recht! Ich dachte mir, dass du Zoë bestimmt gerne eine kleine Einführung in die Welt der Wettergötter geben möchtest?"
„Nein, das möchte ich nicht.", erwiderte sie schnippisch.
„Doch, das möchtest du.", sagte Boreas und besah sie mit einem strengen Blick.
„Okay, ich hab meine Meinung geändert." Sie lächelte, zuckersüß und falsch. Dann nahm sie meinen Arm, zog mich hoch und aus dem großen Saal heraus. Sobald sich die große Tür aus Eis geschlossen hatte, verschwand das Lächeln und sie schubste mich gegen eine Wand. Zwar war Chione kleiner als ich, aber mit sowas hatte ich nun wirklich nicht gerechnet.
„Hast du sie noch alle!?", beschwerte ich mich und rieb mir die Ellenbogen, die bei dieser Aktion mit Sicherheit ein paar blaue Flecken abbekommen hatten.
„Hör zu, Chester! Du wirst nicht einfach so mir nichts dir nichts hier auftauchen und mir einfach meinen Vater und meine göttliche Kraft nehmen! Verstanden?"
Ich war verwirrt. „Ich habe kein Interesse an deinem Daddy und der ganze Götterkram kann mir auch gestohlen bleiben, okay? Ich hab mir das nicht ausgesucht!"
„Du weißt es gar nicht zu schätzen was...Argh! Ausgerechnet der größte Trottel des Camps wird..." Sie atmete tief durch. „Du bist meine Schwester und ich habe die Verantwortung dafür übertragen bekommen, dass du richtig ausgebildet wirst, also bitte versuch nicht zu nerven!"
„Mach dir meinetwegen keine Umstände. Ich geh schon wieder rein zu Boreas und plaudere mit ihm. Der probiert wenigstens nett zu sein.", sagte ich und wollte gehen. Chione fand die Idee wohl nicht so gut, denn bevor ich mich auch nur einen Millimeter bewegen konnte, schnellten ihre Arme vor und sie stütze sich links und rechts auf Schulterhöhe ab. Um abzuhauen hatte ich ihr einen ordentlichen Tritt verpassen müssen und, obwohl ich wirklich Lust dazu hatte, dachte ich mir, dass es nicht allzu klug wäre, einer Göttin versuchen das Schienbein zu brechen.
„Wir üben jetzt, bist du umfällst, haben wir uns da verstanden?" Ich versuchte mich zu bewegen, war aber wie eingefroren, das ging wahrscheinlich auf ihr Konto.
„Und wenn du dich anstrengst, verrat ich dir vielleicht sogar die Prophezeiung.", setzte sie hinzu.
ΩΩΩ
Wir trainierten nicht nur bis ich einmal umgefallen war, inzwischen hatte ich vier Mal bereits das Bewusstsein verloren weil mich ihre Übungen so sehr erschöpften, mehr als es ein körperlicher Kampf jemals geschafft hätte. An sich war es nicht wirklich schwer zu verstehen: Chione stellte sich mir gegenüber und befahl mir, mir etwas Bestimmtes vorzustellen und dann all meine Kraft und Konzentration in diese Vorstellung zu legen. Zu Anfang sollte ich einfache Geschosse aus Eis auf Chione zu sausen lassen. Das klappte inzwischen ganz gut, auch wenn sie jedes einzelne ohne große Mühe abwehren konnte. Danach übte ich an einer sich zur Verfügung gestellten Eisnajade den, wie Chione ihn nannte, Eisblick. Dazu fokussierte man eine Person so lange, bis sie sich nicht mehr bewegen oder klar denken kann. Theoretisch beherrschte ich ihn, praktisch brauchte ich aber über fünf Minuten dafür und kein halbwegs kluger Mensch guckt einer Person in die beinah Funken sprühenden und sich weitenden gruselig blauen Augen. Immerhin war ich geradezu perfekt darin, eine riesige Eiswand zwischen mir und Chione aus dem Boden wachsen und jede Menge kleine Eissplitter wie einen Mini-Sturm herumwirbeln zu lassen. Trotz der Unmengen an Nektar und Ambrosia, die ich zu mir genommen hatte, fühlte ich mich so müde, ausgelaugt und schwach wie noch nie in meinem Leben zuvor. Es war inzwischen dunkel und wir übten schon seit mehreren Stunden. Als Chione verkündete, dass wir fertig wären für heute, wäre ich ihr beinahe um den Hals gefallen. Fast hätte ich sogar ihr Versprechen vergessen, aber nur fast.
„Was ist mit der Prophezeiung? Du hast es versprochen.", erinnerte ich sie.
„Ach ja! Natürlich!" Nachdem sie mich dumm, hilflos und überfordert gesehen hatte, war ihre Laune um einiges besser geworden. Von der unglaubliche Überlegenheit, die ich durch das Diadem verspürte, war dank Chione im Moment kaum noch etwas übrig.
„Kannst du sie mir sagen? Oder aufschreiben?", bittete ich sie.
„Das brauch ich gar nicht." Ein Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Sie ist eingeritzt. In deinen überaus schönen Kopfschmuck."
„In das Diadem? Aber das ist eine komische Sprache und..." Mich ärgerte es, dass sie mich ausgetrickst hatte.
„Das ist Altgriechisch, kann aber nur von Göttern gelesen werden. Euronyme war wohl der Ansicht, dass es Sterbliche und Halbgötter nichts angeht. Bis auf die letzten vier Verse, die wurden verfälscht, von jemandem der nicht wollte, dass sie überhaupt gelesen werden, nehme ich an."
Bevor ich mir überlegen konnte, welche Gemeinheit ich Chione entgegen schleudern konnte (für Eiszapfen war ich zu müde) um ihr das blöde Grinsen aus dem Gesicht zu wischen, beeilte ich mich zur Toilette zu rennen, Boreas hatte sie mir heute Vormittag gezeigt. Ein riesiger Spiegel hing über dem Waschbecken. Ich musste ganz genau hinschauen, um die kleine Schrift, die dann auch noch spiegelverkehrt war, entziffern zu können. Aber immerhin konnte ich sie überhaupt lesen, Chione hatte nicht gelogen. Buchstabe für Buchstabe ritze ich mit Lukes Messer in die gegenüberliegende Wand (wie fast alles hier aus Eis). Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, als ich einen Schritt zurück trat und die Prophezeiung las.
Wenn die Schöpf'rin endlich erwacht
Wird das verbotene Mädchen geboren.
Sie hat doch gewartet, im Schlafe gewacht,
die Welt stirbt in Eis, die Zeit ist gefroren.
Das Leben hilft uns ins Gleichgewicht
Wenn wir versinken in eisiger Not
Das Mädchen bringt uns zurück unser Licht
Oder die Waage gerät aus dem Lot.
Keine Grenzen hat ihre Macht
Nicht mal der große heil'ge Rat
Nur durch des Königs jüngstem Spross
Bleibt sie auf dem rechten Pfad.
Die letzten vier Verse ergaben Buchstabensalat, egal wie ich es drehte und wendete, sie ergaben keinen Sinn. Aber das war mir vorerst egal, ich hatte mehr als genug, worüber ich grübeln konnte. Heute würd eine schlaflose Nacht werden.
___________________
Ich hab's geschafft! Endlich! Es hat (wirklich) sehr lang gedauert und dieses Chap ist (wirklich) sehr theoretisch aber das muss ja schließlich auch mal sein.
Ich könnte euch jetzt 1000 Gründe erzählen, warum es so lang gedauert hat aber das interessiert keinen :)
Ich weiß, dass Boreas und Chione schon in Riordans "Der verschwundene Halbgott" vor kommen und ich sie nicht ganz getreu übernommen habe, aber das ist wichtig für die Geschichte.
Übrigens bin ich echt stolz auf die Prophezeiung, die hat wirklich lang gedauert und Geduld gefordert. Immerhin hat es gezeigt, dass der Deutschunterricht nicht ganz ohne Spuren ab mir vorbeizieht, ich aber trotzdem nicht Dichterin werden sollte. :"D 😂
XOXO
Paula (fangirl312)
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top