V. Kapitel



3 Jahre und 9 Monate später



Die oberste Befehlshaberin der Möhrenfresserarmee



Ich schoss einen Pfeil nach dem anderen ab. Die Sehne wurde gespannt und wieder losgelassen, immer und immer wieder. Es half mir, mich abzuregen. Zumindest hoffte ich das. Einige Meter weiter bekamen einige jüngere Halbgötter die Grundtechniken des Schwertkampfes erklärt. Sie hatten schon die ganze Zeit rüber geschielt, zu mir und zu der Zielschiebe.
„Wer ist sie?"
„Bestimmt eine Tochter des Apollo, so wie sie schießt."
„Sie sitzt aber nie am Apollo Tisch."
„Genau, sie sitzt immer bei Hermes Leuten."
„Und sie schläft auch in der Hermes Hütte."
„Dann ist sie eine Tochter von Hermes."
„Sie sieht aber gar nicht so aus, wie die anderen Hermes Kinder."
„Ja aber sie kann auch nicht neu sein. Ich hab sie neulich mit den Älteren zusammen gesehen. Und sie gibt Unterricht."
„Denkt ihr, die ist noch nicht entschieden? Das kann doch sicher mal vorkommen."
„Ja genau. Oder ist sie die Tochter von irgendeinem Nebengott."
„Und warum ist sie dann ganzjährig hier?"
„Wir könnten sie fragen..."
„Ne, die guckt immer schon so einschüchternd."

„Wisst ihr, wie alt sie ist?"

„Ich weiß noch nicht mal, wie die heißt."
Wütend schoss ich den letzten Pfeil ab, er traf genau ins Schwarze. Ich war sauer. Nicht wegen den Kinder. Okay, doch auch. Aber der ganze Tag war einfach nur beschissen gewesen. Es hatte angefangen beim Frühstück, wo ich mich mit Clarisse La Rue, eine Tochter des Kriegsgottes Ares, angelegt hatte. Mr. D hatte mir erstmal Küchendienst gegeben, sodass ich nicht mit den Anderen in die Stadt fahren konnte. Es ist ein großes Privileg in die Stadt fahren zu dürfen. Einmal im Monat dürfen alle 14 und 15 jährigen in die Stadt fahren. Wer 16 oder älter ist darf jeder Zeit, wenn man den ein Mofa, Auto oder Geld für ein Taxi und die Erlaubnis des Campleiters hatte. Wer jünger war durfte gar nicht fahren.
Seid die drei Lieferwagen mit denen, die in die Stadt wollten, losgefahren waren, war es seltsam still. Clarisse, die gerade 19 geworden war, ist noch einmal mit ihrer hirnlosen Meute von Muskelprotzen in der Küche vorbei gekommen um ihren Triumpf komplett auszukosten.
„Kopf hoch Chester, für dich ist es ja nichts neues, der Außenseiter zu sein. Aber keine Sorge, heute wirst du nicht vermisst, wer sollte das auch schon... Das muss bestimmt ganz schön frustrierend sein, oder? Schon so lange im Camp und immer noch nicht anerkannt. Du kannst einem echt leid tun. Tja, einige sind halt zu höherem geboren und andere nicht. Irgendwann wirst auch du deinen Platz finden. Bei McDonald's an der Theke vielleicht. So ein Papierhüttchen ständ dir bestimmt ausgezeichnet."
Mir hatte es in den Finger gejuckt, ihr einen der Teller an den Kopf zu werfen, aber ich hatte mich zusammen genommen, so getan als würde sie mich nicht stören und weiter Teller abgespült. Man sollte meinen, im einem Camp für Halbgötter würde es sowas wie eine magische Spülmaschine geben, Fehlanzeige.
Ich war sowas von Clarisse gewöhnt und ich selbst konnte ja auch ganz schön gut austeilen. An normalen Tagen hätte es mir einfach nichts ausgemacht und zurückgegiftet, aber wie gesagt: heute war ich mit dem falschen Fuß aufgestanden. Ich dachte oft darüber nach, wer mein göttliches Elternteil war, und warum es sich nicht zu mir bekannte. War ich peinlich? Hatte er oder sie besseres zu tun? War ich das Kind eines Nebengottes oder eines Hauptgottes? Wie viele Nachte hatte ich schon über diesen Fragen gegrübelt, zu jedem mir erdenklichen Gott gebetet aber nie auch nur den Hauch einer Antwort bekommen.
Ich verließ gerade die staubige Arena, als mir ein Mädchen entgegenkam. Ich hatte sie hier im Camp noch nie gesehen. Sie war eher zierlich, und obwohl es schon Ende September war, trug sie eine Art Trägerkleid. Dazu einen seltsamen, goldenen Umhang. Sie ging zielstrebig auf mich zu und blieb dann einige Meter vor mir stehen. Bei näherem Betrachten bemerkte ich, dass sie gar keinen Umhang trug, sondern knielange, goldene Haare hatte. In ihrem Blick, mit dem sie mich mustere, lag etwas Abschätzendes und Arrogantes. Ich mochte es nicht, wenn man mich so musterte. Erst recht nicht, wenn derjenige goldene Augen hatte.
„Bist du Zoë Chester?", fragte sie mich und schaffte es, ihre Stimme hell und freundlich, aber trotzdem kühl und leicht arrogant klingen zu lassen.
„Wer will das wissen?", erwiderte ich.
„Du sollst mich im Camp herumführen.", sagte sie, ohne meine Frage zu beantworten.
„Sagt wer?"
„Mein Onkel."
Ich zog die Augenbrau hoch. „Von mir aus kann das dein Vater, dein Opa und dein Großcousin dritten Grades sagen, ich hab besseres zu tun. Wenn du neu hier bist, geh in die Hermes Hütte und lass dir da alles erklären. Oder guck den Einführungsfilm an. Vielleicht kannst du dir auch bei Gelegenheit etwas anderes anziehen, dieses Kleid ist nämlich echt unpassend."
„Chiton. Das ist eine Chiton.". verbesserte sie mich. „Und glaub mir, du willst nicht, dass mein Vater oder Großvater herkommt."

„Ach ja?"
„Mein Vater ist Ares."
Im Kopf verglich ich das Bild von Clarisse und den anderen Ares Sprössen mit ihr.
„Ja genau. Und mein Vater ist Zeus, weißt du?" Vom Himmel ertönte ein Donnern.
„Ich würde mich nicht über mich lustig machen. Ich bin Aurora, Tochter von Ares und Aphrodite, Göttin der Sterne und der Hasen."
„Der Hasen? Wie furchteinflößend!" Ich prustete los.
„Schweig, Halbgöttin!", zischte sie und schaute mich wütend an.
„Sonst was? Holst du dann deine Möhrenfresserarmee?"
„Aurora Schätzchen, macht sie Ärger?" Hinter mir war Mr. D aufgetaucht. Er trug wie immer ein schrecklich geschmackloses Hemd und Shorts. Wäre er nicht Dionysos, der Gott des Weines und ein Mitglied im Rat der 12 olympischen Götter, hätte ich keinen Respekt vor ihm. Aber er war nun mal die Person, die hier im Camp das Sagen hatte.
„Nein, alles bestens Onkel.", sagte sie und lächelte, sodass einem warm ums Herz werden konnte.
„Was für ein Wunder, Miss-Ich-bin-besser-als-alle kann ja sogar lächeln!"
„Zoë wollte mich gerade herumführen nicht war?", sagte Aurora zuckersüß, ihr Lächeln schien aber diesmal etwas frostig.
„Ja.", knurrte ich zwischen zusammengebissenen Zähen.
„Dann ist ja alles gut. Zoë wird für dich zuständig sein, um zu beweisen, dass sie Verantwortung tragen kann." Mitdiesen Worten war Mr. D wieder im Haupthaus verschwunden. Ich warf ihm einen bösen Blick hinterher. Ich gab Unterricht im Bogenschießen und hatte schon mehr Aufträge erfüllt als die meisten volljährigen Halbblute. Das war wohl Beweis genug für meine Verantwortung, aber ich hatte einfach keine Lust, einen weiteren Tag in der Campküche zuzubringen.
„Von mir aus. Wenn du aufhörst mich so anzusehen, als wäre ich eine Klobürste?"




ΩΩΩ




Es ist verboten, sich nach zehn Uhr dreißig außerhalb der eigenen Hütte zu befinden, es sein denn, es gibt für den Tag eine Sonderreglung. Ich hab mich noch nie sonderlich oft an Regeln gehalten, deswegen hatte ich auch kein Problem, mich um halb drei in der Nacht aus der Hermeshütte zu schleichen. Ich trug ein orangenes Campshirt mit der Aufschrift „Camp Half-Blood" in Größe XL und eine verwaschene Jogginghose, die Hochwasser hatte. Es war recht kühl und es wehte ein frischer Wind vom Long Island Sound um meine Knöchel, aber die Kälte machte mir nichts aus. Ich ließ meinen Blick über das Gelände streifen um sicher zu gehen, dass niemand da war und schlich dann zum Strand herunter. Ich liebte es, wenn es so ruhig war und niemand die Idylle stören könnte, wenn man völlig seinen Gedanken nachhängen konnte. Vorsichtig faltete ich ein Stück Papier auseinander.





Sie werden diesen Brief neben einem Kind finden. Das kleine Mädchen heißt Zoë Chester und ist genau heute, am 24. Dezember, geboren.
Leider bin ich gezwungen, sie am Tag ihrer Geburt wegzugeben. Behandeln Sie sie gut!
Zoë, Liebling, denk immer daran: Alles im Leben hat einen Grund, irgendwann ergibt alles einen Sinn, auch wenn es nicht so ist, wie es scheint. Sei immer wachsam und lass dich von deinem Herzen führen.


Deine Mutter hat dich lieb.






An guten Tagen strich ich über die Buchstaben und versuchte, mir meine Mutter vorzustellen. Ihre Handschrift war ordentlich und etwas altmodisch. War meine Mutter eine Göttin? Oder war sie nur eine Sterbliche, die eine Affäre mit einem Gott gehabt hatte? Sie liebte mich, ich war ihr wichtig.
An schlechten Tagen wollte ich den Brief, wenn man es denn Brief nennen konnte, zerreißen, verbrenne, und auf der Asche herum trampeln. Wenn sie mich je geliebt hat, hätte sie mich niemals auf die Schwelle eines Heims gelegt! Sie hätte mir nie so eine beschießende Kindheit verschafft! Wie konnte sie nur sagen, dass sie mich liebte und mich einfach weggeben? Dachte sie, durch ein paar geheimnisvolle Zeilen wäre alles in Ordnung?
Vorsichtig nahm ich eine Haarspange aus den ausgeleierten Taschen meiner Hose. Sie war an dem Brief, der neben mir gefunden wurde, befestigt. Die Spange war eine von diesen, die man ins Haar schiebt. Sie war schlicht und schön, aber trotzdem auffallend. Das Silber glänzte im Mondlicht und mit dem Finger strich ich über die drei Perlen. Drei war eine besondere Zahl. Es gab drei Moiren, Schicksalsgöttinnen. Die großen Drei, die Brüder Zeus, Hades und Poseidon. Drei Halbgötter für einen Auftrag. Und meine Spange hatte eben drei Perlen.
„Schicker Pyjama.", hörte ich eine Stimme hinter mir und hätte beinah die Spange fallen gelassen.
„Ich bin's nur. Die oberster Befehlshaberin der Möhrenfresserarmee."
Ich drehte mich um und blickte in Auroras goldene Augen. Zu Anfang war es mir noch etwas seltsam vorgekommen, aber im Laufe des Tages hatte ich mich daran gewöhnt.
„Hast du gerade einen Witz gemacht oder habe ich mich verhört?"
Aurora lächelte. „Ich habe beschlossen, dass du ganz in Ordnung bist."
„Da bin ich aber erleichtert!", erwiderte ich ironisch.
„Nein, das ist mein ernst. Ich bin hier im Camp, weil meine Eltern wollen, dass ich nicht den Boden unter den Füßen verliere. Sie meinen, manchmal...bilde ich mir zu viel ein."
„Da haben sie wohl recht.", sagte ich trocken.
„Ich wollte mich endschuldigen, dass ich dich heute behandelt habe, wie eine Klobürste." Aurora reichte mir die Hand. Misstrauisch schüttelte ich sie. Ich war es nicht gewöhnt, dass mir eine Tochter des Ares die Hand reichte. Mitten in der Bewegung hielt sie inne, sie hatte den Brief gesehen. Sie murmelte etwas auf altgriechisch, das wie Heiliger Zeus, wie ist das möglich?! klang.

„Ist was?", fragte ich sie.
„Das da? Ist das von dir?"
„Ja."
„Kanntest du deine Mutter?"
„Nein."
„Vater?"
„Auch nicht. Warum?"
Plötzlich gab sie sich betont desinteressiert.
„Nur so."
„Nur so?"
„Ja! Ich wollte nur nett sein."
„Danke. Wirklich sehr nett, dass du mich daran erinnert hast, das ich meinen Eltern egal war, bin, was auch immer."
Sie lachte und zeigte dabei ihre perfekten Zähne. „Weißt du, es ist echt schwer, mit dir ein normales Gespräch zu führen."
„Aha."
„Was hast du eigentlich um die Uhrzeit noch hier draußen zu suchen?" Sie probierte echt unter allen Umständen das Gespräch in Gang zu halten.
„Das Selbe könnte ich dich auch fragen."
Sie grinste. „Göttin der Sterne, schon vergessen? Sternenbilder formen. Das ist mein Job."
„Du formst Sternenbilder?" Kurz nachdem ich es gesagt hatte, bereute ich es auch schon wieder. So begeistert wollte ich gar nicht klingen. Genauso gut könnte ich ihr auch schwanzwedelnd hinterherrennen, wie ein Hündchen.
„Ja, pass auf." Sie hob kurz die Hand, als würde sie ein unsichtbares Bild zeichnen. Am Himmel sah es aus, als würden die Sterne wie kleine Sandkörnchen durcheinander fliegen. Angestrengt kniff ich die Augen zusammen, um etwas erkennen zu können.
„Ist das...mit viel Fantasie...eine Klobürste? Auf dem Kopf?", fragte ich.
„Fast. Das ist der Caduceus des Hermes, sein göttlicher Gegenstand. Du weißt schon, der mit den Schlangen."
„Ist doch fast das Selbe wie ne Klobürste."
„Stimmt." Sie lächelte mich an und ich lächelte zurück.
„Weißt du was? So schlimm bist du auch nicht. Für 'ne Göttin."



ΩΩΩ



Ich wachte in meinem Bett in der Hermeshütte auf und schaute in zwölf verwirrt dreinblickende Gesichter, darunter auch einige Halbgötter aus den benachbarten Hütten.
„Was is' 'en los, Leute?", murmelte ich verschlafen.
„Zoë.", sagte Travis Stoll, Hüttenältester, ernst. „Du wurdest soeben anerkannt."

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