II. Kapitel

Ganz Besonders (verrückt)

May und ich standen an einem der Schalter des London Heathrow Airports. Liam saß auf einer Wartebank, er war eingenickt. Der junge Mann hinter dem Schalter musterte uns ausgiebig.

„Ich weiß nicht so Recht...", sagte er unsicher.

Ich stellte mir vor, was er sah: Zwei Teenager, verschwitzt und mit dreckiger Kleidung, die drei Flugtickets nach New York wollten. May legte eine goldene Kreditkarte auf den Schalter. Der Mann schaute verblüfft von der Karte zu uns und wieder zur Karte.

May wohnte, wie ich in einer betreuten Jungendwohngruppe, gemeinsam mit anderen Jugendlichen und einigen Betreuern. Die meisten waren früh ausgezogen, weil sie nicht mit ihren Eltern klarkamen. Ich war die einzige, die ihre nie kennengelernt hatte. Mays Mutter war gestorben als sie sehr klein war und ihren Vater hatte sie das letzte Mal vor drei Jahren gesehen. Immer wenn ich sie nach ihm fragte, erzählte sie, dass er ein Geschäftsmann wäre und keinen Zeit für sie hat, aber so langsam nahm ich ihr diese Geschichte nicht mehr ab.

Ihr Vater war wirklich sehr reich, denn obwohl May es oft versuchte zu vertuschen, fiel es sofort auf. Es war mir immer noch sehr unangenehm, wenn sie ein neues Paar Turnschuhe bezahlte, weil meine total zerfleddert waren. Ich hatte leider weniger Glück was meine Eltern anging. Als Baby hat man mich auf der Schwelle eines Kinderheimes im Süden von Schottland gefunden. Gemeinsam mit einem Brief und einer schlichten, silbernen Haarspange, die ich immer trug. Seit diesem Tag hatte ich an so ziemlich jedem vorstellbarem Ort gelebt. Jedes Jahr ein Anderer, länger wollte mich nie jemand haben. Ein Internat in Frankreich, diverse Heime in Deutschland, Großbritannien und Spanien, ein Millitärcamp in Irland... Jedes Jahr wurde ich abgeschoben und das betreute Wohnheim in London war das erste, einigermaßen richtige Zuhause, das ich je besessen hatte. Alein schon, weil ich dort Anschluss gefunden und May kennengelernt hatte. Jedoch auch weil die Schule mir dort gefiel. Ich hatte ADHS und Legasthenie, mir fiel es schwer, mich zu konzentrieren und Worte verschwammen, wenn ich sie lesen wollte, doch an meiner jetzigen Schule wurde mir geholfen. Es wurde auf meine Stärken, nicht auf meine (unzähligen) Schwächen geachtet. Ich hatte sogar gehofft, ein Stipendium für Mathe zu bekommen und bleiben zu dürfen, aber so wie es aussah, verließen wir nun fluchtartig das Land. Wir hatten kurz an dem Wohnheim Halt gemacht und ich hatte innerhalb von fünf Minuten meine wichtigsten Sachen zusammengepackt, denn so wie ich May verstanden hatte, käme ich so bald nicht zurück.

Der Mann am Schalter grief nach einem Telefon.

„Endschuldigung die jungen Damen, ich werde das mit meinem Vorgesetzten klären."

Ich glaubte nicht, dass das so gut wäre. Wir hatten weder ein Visum noch sonstige Papiere bei uns und ich war mir noch nicht mal sicher, ob es überhaupt legal war, dass Minderjährige einfach so in die USA einreisten. May hatte jetzt direkten Augenkontakt mit dem Mann.

Mit langsamer, beinah hypnotisierenden Stimme sagte sie: „Sie werden und jetzt drei Tickets geben und die Sache danach vergessen. Wir waren niemals hier, sie können sich nicht erinnern." Der Mann bekam plötzlich einen glasigen Blick und schob uns drei Flugtickts rüber. Mit seiner rechten Hand hatte er immer noch das Telefon umklammert. May tat so, als sei so eine Reaktion völlig normal.

„Nebel.", sagte sie, als sie meinen fragenden Blick bemerkte. „Sehr schwer zu lernen, wirkt bei fast allen Menschen und verdreht ihre Sinne."

Ich verstand immer noch nicht.

„Du verstehst vielleicht nicht so viel, aber glaub mir, in ein zwei Wochen hast du dich dran gewöhnt."

Ich verstand um ehrlich zu sein gar nichts und konnte mir auch nicht vorstellen, dass ich mich daran gewöhnen würde, dass ich von riesigen Hunden angegriffen wurde und meine Freundin Menschen hypnotisieren konnte aber okay. Ich war offen für Neues

 ΩΩΩ 

Wir saßen im Flugzeug. Liam, der links von mir saß, war eingeschlafen. Mühsam hatten May und ich ihn wecken können, damit wir in Flugzeug einsteigen konnten. Mir war immer noch unklar, wie May es geschafft hatte, dass wir einfach so in den Flieger hatten steigen dürfen. Ebenso verstand ich nicht, warum unser Gepäck nicht übers Fließband musste. Ich war mir sicher, dass die Dolche und anderen Dinge in ihren Rucksack eigentlich nicht in die Staaten eingeführt werden dürfen. Generell verstand ich momentan nicht so viel. Gerade erst war mir aufgefallen, wie viel in ihrem Rucksack steckten. Die Thermoskanne, ihr seltsamer Pfeil und Bogen, sämtliche Klamotten, Bücher, eine Zahnbürste...

May hatte noch nie sonderlich viel geredet, aber in der letzten Stunde war sie besonders schweigsam gewesen. Aber ich wollte unbedingt wissen, was hier vor sich ging. Einer meiner eher schlechtesten Charakterzüge war wohl meine Neugier.

„Du bist mir eine Erklärung schuldig, Was wird hier für ein Spiel gespielt?", sagte ich und hoffte auf eine erklärende Antwort.

May wendete sich mir zu, sie hatte aus dem Fenster geschaut.

„Du warst schon immer irgendwie anders, richtig?", stellte sie eine Gegenfrage.

„Was hat das denn damit zu tun, ich will nur wissen-" May unterbrach mich.

„Du kannst manchmal Dinge sehen, die vielleicht auch etwas unheimlich sind. Du kannst Dinge tun, du kannst Dinge hören, die andere Menschen nicht mal bemerken. Du hast ADHS, Legasthenie, Konzentrationsprobleme. Bist von vielen Schulen geflogen, hast höchstens ein Elternteil kennengelernt. Überall hast du dich nie richtig zuhause gefühlt, warst Außenseiter. Stimmt doch." Ich nickte. Das stimmte. May kannte mich erst seit einem Jahr und trotzdem wusste sie quasi meine gesamte Biographie, Dinge, die sie gar nicht wissen konnte. Ich redete nicht gerne über Gefühle und Gedanken und über meine Vergangenheit erst recht nicht.

„Zoë du bist nicht die Einzige. Es gibt viele die so sind wie du.", fuhr May fort.

„Wie ich? Meinst du verrückt?"

„Nicht verrückt, nur ganz besonders."

„Ganz besonders verrückt."

„Nein.", beschwichtigte sie mich. „Alles andere als verrückt. Du bist von göttlichem Blut."

Ich lachte nervös auf.  Ein älterer Mann in der Reihe vor mir drehte sich um, schüttelte den Kopf und schnalzte dann missbilligend mit der Zunge.

„Falls es ein Kompliment sein sollte: Danke, aber glaub mir, ich bin nicht Gott. Du darfst mich natürlich gerne anbeten, wenn du dich dadurch besser fühlst."

Mein (zugegeben etwas flacher) Witz zog nicht. May sah mich immer noch ernst an.

„Ich hab nicht gesagt, dass du ein Gott bist. Kannst du dich noch erinnern, als wir Anfang dieses Schuljahres griechische Mythologie durch genommen haben?"

Mir schwante Übels. „Ganz Dunkel."

„Oder Troja? Der Film?"

Damit konnte ich schon mehr anfangen. Langsam drängte sich der Gedanke in den Vordergrund, den ich früher so oft versucht hatte, zu vergessen und es schließlich auch geschafft hatte.

„Wahrscheinlich ist das jetzt ein kleiner Schock für dich, aber du stammst von-"

„Einer griechischen Gottheit ab.", beendete ich ihren Satz. Nun war es an May mich verwirrt anzustarren.

„Woher weißt du das?", fragte sie.

Ich zuckte die Schultern. Genau in diesem Moment tauchten alte Erinnerungen wie ein Blitz in meinem Kopf auf. Wie ich als Fünfjährige an der Küste Frankreichs eine Meerjungfrau gesehen hatte. All die alten Staturen und Denkmäler, die versucht hatten mit mir zu reden. Ein fliegendes Pferd über den Dächern von Mailand. Wolken, in denen ich Gesichter gesehen hatte. Springbrunnen, in denen seltsame Münzen gefunkelt hatten und Menschen und Tiere, die ich gesehen hatte und die bei genauerem Hinsehen verschwunden waren. Zuerst hatte ich es lustig, dann interessant und schließlich erschreckend gefunden. Wenn ich es erzählt hatte, wurde ich natürlich nicht ernst genommen. Entweder wurde über die reizende Fantasie eines Kindes gelacht oder es wurde als Lüge abgetan. Als ich älter wurde, hatte ich angefangen dem ganzen auf dem Grund zu gehen. Ich fand es immer noch gruselig, sah es aber auch als kleine Herausforderung an. Ich hatte mich im Internet und in Büchern schlau gemacht, obwohl es immer eine halbe Ewigkeit gedauert hatte, bis ich eine Seite komplett gelesen hatte. Als Achtjährige (ich war damals in einem schrecklichem Heim in Belgien gewesen) hatte mich Madame Carbonne (eine schrecklich, belgische Heimleiterin) zum Arzt geschleppt, weil sie dachte, dass ich wegen meiner Leseschwäche auf eine Sonderschule geschickt werden müsste. Der Arzt hatte mir jedoch einen überaus hohen IQ zugeschrieben und Madame Carbonne hatte mich (schleicht gelaunt, weil sie mich nicht los geworden war) wieder zurück genommen. Ende des Jahres musste ich dann aber doch gehen, auf Grund meines aggressiven Verhaltens.

Spätestens in meinem ersten Junior-Highschool Jahr, war mir klar geworden, dass alle komischen Dinge, die mir passierten etwas mit der griechischen Mythologie zu tun hatten. Zum Glück war mir in den letzten zwei Jahren nichts Außergewöhnliches passiert, und ich hatte alles verdrängt. Plötzlich kam es mir seltsam vor, dass ich meine Entdeckungen einfach von heute auf morgen vergessen hatte.   

„Du wusstest das alles?", fragte May erneut.

„Ich hatte eine Vorahnung, eine kleinen Verdacht."  Die Tatsache, dass ich alles bis eben noch total verdrängt hatte, behielt ich für mich.

„Okay, wie viel weißt du?" Es kam mir etwas unlogisch vor, dass May die Fragen stellte und nicht ich, aber ich antwortete trotzdem.

„Nur dass es Götter gibt, und dass sie mit normalen Menschen Kindern haben. Dass viele von den alten Geschichten wahr sind. Mehr nicht."

May nickte. Ich zeigte auf Liam neben mir.

„Und was ist mit ihm?"

„Er ist ein normaler Mensch, aber er kann unsere Welt sehen. Dass ist selten, aber es kommt vor."

Unsere Welt. Wie sich das anhörte. Wie als wären wir Aliens aus einem Paralleluniversum.

„Bist du eigentlich auch eine...?"

„Halbgöttin, ja." Sie reichte mir einen Stapel Bücher aus ihrem Rucksack, der das Volumen eines ganzen Schrankes zu haben schien. Zwei waren alt und sehr dick, das dritte hatte einen knallorangenen Einband und war mit dem Titel Das 1x1 für Halbgötter versehen.

„Die Odysee, Sagen des klassischen Altertums und das Orangene ist besonders nützlich. Los, schau ruhig ein.", ermutigte sie mich

Ich begann zu lesen. Erst wunderte ich mich, warum es mir so leicht fiel. Dann bemerkte ich, dass es gar nicht auf Englisch war, oder Französisch, Italienisch, Deutsch, Niederländisch, Spanisch oder sonst eine mir bekannte Sprache.

Es war Alt-Griechisch.

Und ich verstand jedes Wort.

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