Prolog
Geza stand vor der versammelten Familie ihrer Tante und strich sich über die Wange. Ihr Vetter Egon zog sich etwas zurück und rieb sich den rechten Handrücken. Soeben hatte er ihr damit ohne jegliche Kommentare ins Gesicht geschlagen. Das tat er manchmal. Etwas weiter im Hintergrund saß ihre Base Hedwig auf einem Schemel und schaute sehr zufrieden drein, Onkel Hinrich lehnte am Türrahmen. Mit vor der Brust verschränkten Händen beobachtete er die Sache, stumm wie immer.
Direkt vor Geza hatte sich Tante Ursula aufgebaut und eine ihrer übliche Tiraden erfüllten das gesamte Stockwerk: "Gustel! Was fällt dir ein! Wir haben dich bei uns wohnen lassen! Jede andere Familie hätte dich einfach in die Klosterschule verfrachtet!..." Geza überlegte, ob die Klosterschule nicht doch besser wäre.
Doch Tante Ursula hatte Luft geholt und fuhr fort: "Wir geben dir alles, was du brauchst! Du hast sogar ein eigenes Zimmer und musst es dir nicht mit Hedwig teilen..." Geza musste bei der Erinnerung an die Kammer neben der Küchentreppe fast lachen.
"Du bekommst reichlich zu Essen und trotzdem klaust du bei uns! Tu gar nicht so, als ob du nichts wüsstest! Pater Balthazar hat uns alles erzählt!"
Ach darum ging es! Geza hatte letzten Sonntag im Beichtstuhl gestanden, dass sie, weil sie kein Abendbrot bekommen hatte, eine Scheibe Brot in der Küche entwendet hatte. Und Pater Balthazar erzählte es Onkel Hinrich und Tante Ursula! Geza ballte die Fäuste. Was im Beichtstuhl gesagt wird - bleibt im Beichtstuhl! Das wusste jeder, selbst der örtliche Dorftrottel! Und Pater Balthazar hatte trotzdem Onkel Hinrich und Tante Ursula von Gezas Beichte erzählt! Der olle Pfaffe! Nie wieder wollte Geza zur Beichte gehen! Davon bekam sie nur Ärger! Es war ein großer Fehler, sowas Pater Balthazar zu erzählen! Den würde sie schnell nicht noch mal machen!
Tante Ursula ließ ihrer Nichte aber keine Zeit, um sich weiter Gedanken zu machen. Sie packte Geza am Zopf und zog ihn so nach vorne, dass auch Geza ihn sehen konnte.
"Dir ist bewusst, dass dich deswegen so gut wie jeder vor die Tür gesetzt hätte! Niemand will Leute mit solchen Haaren in seinem Haus! Niemand!", kreischte Tante Ursula, sie hatte ihre höchste Note erreicht, also nahte das Ende der Tirade, "Wir haben dich aber hier bei uns aufgenommen! Und was bekommen wir dafür? Ausschließlich Undankbarkeit!" Tante Ursula atmete tief ein und aus. Sie war fertig.
Jetzt betrat Onkel Hinrich die Bühne. Er geleitete seine Frau mit den Worten: "Verschwende nicht so viel Kraft an sie" aus dem Zimmer raus. Dann entschied er: "Gustel verbringt diese Nacht auf dem Dachboden. Egon, sei so freundlich, und bring sie dahin." Er verließ den Raum und folgte seiner nervös zeternden Frau. Das ganze Gespräch lang hatte er Geza nicht einmal angeschaut. In der Ecke lachte Hedwig leise auf. Egon ließ seine Finger knacken und fuhr sich mit der Zunge über die dünnen Lippen.
"Mit dem größten Vergnügen!", flüsterte er und lief langsam auf Geza zu. Sie machte ein paar Schritte zurück.
"Früher oder später...", flüsterte Egon und beendete den Satz nicht. Eine kräftige Hand packte Geza am Zopf, ein Tritt raubte ihr das Gleichgewicht und Egon schleifte sie einige Fuß über den Boden. Erst im Flur schaffte Geza es wieder auf die Beine. Egon gab ihr einen Stoß gegen den Rücken und sie stürzte nach vorne. Sie konnte sich gerade so mit den Händen abfangen, ansonsten hätte sie sich den Kopf an der Treppenstufe zerschlagen. Weitere Tritte jagten sie die Treppe hoch. Mit dem letzten beförderte Egon Geza in eine kleine Kammer direkt unterm Dach.
"Gute Nacht. Träum schön, Gustel", wünschte Egon noch und schob einen Riegel vor.
Geza nervte es ungemein, dass die Familie ihrer Tante sie immer Gustel nannte. Aber die Bitte, sie Geza zu nennen, hatte sie vor neun Jahren zum ersten Mal auf diesen Dachboden befördert. Sie war zwar auf den Namen Gustel getauft, aber sie hieß trotzdem noch Geza. So haben sie ihre Eltern genannt. Der Gedanke daran ließ Tränen über ihre Wangen rennen. Wie sehr wünschte sie sich die Zeit zurück! Als sie noch in einer kleinen Hütte mit ihren Eltern wohnte, mitten im Wald. Zum Glück erinnerte sie sich verhältnismäßig klar an ihre ersten vier Lebensjahre. Ihre Eltern, die Hütte, die zahmen Bären, die auf sie aufpassten, wenn die Eltern ins Dorf gingen. Sie konnte immer mit Bärenjungen spielen, das machte großen Spaß... Diese Erinnerungen waren oft ihr einziger Trost.
Langsam wurde es dunkel und kalt. Da Geza schon viele Nächte auf dem Dachboden verbracht hatte, musste sie sich kein Lager zusammenbasteln. Auf zwei Kisten hatte sie einen mottenzerfressenen Teppich gelegt und in eine alte Decke wickelte sie sich ein. Wie vertraut war ihr der Dachboden schon! Die Balken, die eine Art Wald unterm Dach bildeten, altes Gerümpel, das spätestens nächsten Winter zu Feuerholz werden sollte, all das kannte sie schon so gut, dass sie hier genauso gut schlafen konnte wie in ihrer Kammer unten. Nach und nach wärmte sie sich auf. Ihre Haarwurzeln schmerzten genauso wie ihr Rücken und Beine, sicher würde sie wieder blaue Flecken haben. Tante Ursulas Geschrei und Egons Tortur hatten sie aber dermaßen fertiggemacht, dass sie trotz der Schmerzen schnell einschlief.
In dieser Nacht hatte Geza einen merkwürdigen Traum.
Sie bewegte sich langsam durch einen Wald. Zuerst färbte die Abendsonne alles orange, langsam wurde es immer dunkler und der Wald war in tiefe Nacht getaucht. Die Blätter rauschten im Wind und plötzlich ertönte ein Ruf.
"Huhu!", hallte es hell durch den Wald.
"Kri! Kri", kam es schrill aus einer anderen Richtung.
"Uhu! Uhu!", ertönte dumpf aus einer Neuen.
Von überall flogen auf einmal dunkle geflügelte Gestalten und ließen sich auf den Ästen eines großen Baumes direkt vor Geza nieder. Plötzlich wurde Geza von so vielen glühenden Augen angeschaut, dass sie diese nicht zählen konnte. Sie hatten fast alle erdenklichen warmen Farben, rötlich, orange, gelb. Erst jetzt erkannte sie, es waren Eulen aller Art, die sie anschauten und ihre Rufe zu hören gaben. Das Geschrei der vielen Vögel wurde immer lauter. Und plötzlich hatte Geza das Gefühl, dass sie verstand, was die Eulen riefen.
Sie riefen: "Du bist soweit!"
Dieser Ruf ertönte so laut, dass Geza hochschreckte und sich wieder auf dem Dachboden wiederfand. Schweißgebadet und verwirrt saß sie auf den Kisten und starrte in Leere.
Die Sonne ließ schon die ersten Strahlen sehen und der Himmel wurde hell. Da hörte Geza eine Stimme, es war keine menschliche Stimme. Kurz dachte sie, dass sie immer noch träumte. Sie stach sich mit dem Fingernagel in den Arm. Das Stechen war spürbar, sie war wach. Die Stimme war zwar leise, aber trotzdem schrill.
"Schon wieder dieses Menschenkind. Bald wird sie ja abgeholt und dann kann ich in Ruhe schlafen."
Geza riss die Augen auf, sie bekam eine Gänsehaut. Langsam stand sie auf.
"Wer ist hier!", fragte sie in die Dämmerung des Dachbodens. Sie wollte einschüchternd klingen, aber das, was aus ihrem Mund kam, war eher ein heiseres Flüstern. Ein schrilles Pfeifen, wie das einer Teekanne, ertönte und aus der dunkelsten Ecke des Dachbodens flatterte ihr etwas entgegen. Vor Schreck lief Geza ein paar Schritte zurück und setzte sich auf ihr Lager. Das flatternde Etwas ließ sich auf die Lehne eines alten Stuhls nieder und legte den Kopf schief. Erst jetzt erkannte Geza, dass es eine Eule war. Genau gesagt eine Schleiereule, mit bräunlichen Gefieder, einem schneeweißen Gesicht und tiefschwarzen Augen.
"Warst du das gerade?", ertönte wieder die schrille Stimme. Es konnte kein Zweifel bestehen, es war die Eule.
"Du kannst sprechen", sagte Geza kleinlaut. Die Eule gab einen komischen Laut von sich, den Geza als Lachen identifizierte.
"Ich würde eher sagen, wir verstehen uns jetzt. Ich war schon neugierig, wann das endlich passiert und wen du abbekommst."
"Du bist also nicht überrascht?", fragte das Mädchen und stand langsam wieder auf. Die Eule legte den Kopf schief und blinzelte.
"Nein, ich habe mir schon gedacht, dass du irgendwann anfängst jemanden von uns zu verstehen."
"Wieso?", Geza war immer noch verwirrt. Die Eule ließ wieder ihr Lachen hören:
"Hast du dich denn nie gefragt, wieso dein Fell auf dem Kopf anders ist, als bei den anderen Menschen?"
"Du meinst meine Haare?", fragte Geza und schaute auf ihren zerzausten Zopf. Sie hatte dichte, nicht besonders lange Haare. Die Farbe war das Ungewöhnliche, genauer gesagt, die Farben. Geza hatte blonde Strähnen in den braunen Haaren und das von Natur aus.
"Dann eben Haare!", pfiff die Eule genervt, "Dir sollte doch aufgefallen sein, dass die anders sind."
"Ja, aber Tante Ursula hat gemeint, dass es von einer Krankheit kommt, die ich als kleines Kind hatte", erzählte sie und die Eule lachte diesmal sehr laut.
"Nein! Hatten deine Eltern das auch?"
Da erinnerte sich Geza, ihr Vater hatte auch zwei Haarfarben, hellbraun und schwarz. Die Bären! Das Mädchen zählte zwei und zwei zusammen.
"Also konnte mein Vater mit den Bären reden!"
Und sie Dumme hatte sich überzeugen lassen, dass ihr Vater die gleiche, nicht existente Krankheit gehabt hatte, wie angeblich sie!
"Wahrscheinlich. Und du hast eben Eulen abbekommen", stellte die Schleiereule fest.
"Also mit anderen Tieren kann ich nicht reden, nur mit Eulen?", wollte Geza noch klarstellen.
Die Eule bejahte.
"Woher weißt das alles?", das Mädchen war erstaunt.
"Na, weißt du", die Eule rollte ihren Kopf nach hinten und wieder vor, "Alle Tiere wissen, dass Menschen mit zwei Haarfarben mit einer Tierart reden können. So etwas spricht sich rum."
"Warte! Du willst also sagen, dass es viele von meiner Sorte gibt!", Gezas braune Augen sind ganz groß geworden.
"Ein paar soll es geben. Aber man erzählt, dass es früher hier ganz viele solcher Menschen gelebt haben!", verriet die Eule.
Geza streckte die Hand aus und streichelte ihr über den Flügel. Das Gefieder war weich und geschmeidig, eine fast liebevolle Wärme fuhr durch Gezas Hand in ihren Körper. Die Eule gab einen Laut von sich, der etwas an das Schnurren einer Katze erinnerte.
"Ich finde, du brauchst einen Namen", meinte schließlich das Mädchen.
Die Eule legte den Kopf wieder schief und fragte: "Einen Namen?"
"Ja. Ein... Wort, mit dem ich dich rufe. Wenn ich dieses Wort sage, weißt du, dass ich dich meine. Verstehst du?", versuchte Geza zu erklären, "Ich werde zum Beispiel Geza oder auch Gustel genannt."
Die Eule blinzelte ganz langsam und meinte: "Geza find ich schöner. Ich denke, ich verstehe, was du mit 'Namen' meinst."
Das Mädchen lachte traurig in sich hinein: "Ich mag Geza auch mehr." Sie atmete durch und konzentrierte sich auf die Eule.
"Ich finde Hekate schön. Möchtest du so heißen?", fragte sie und streichelte dem Vogel über den Kopf. Genüsslich schloss die Eule die Augen.
"He-ka-te", wiederholte sie silbenweise, "Das klingt schön. Ich werde gerne so heißen. Und dich? Du willst Geza genannt werden?"
Geza nickte und die behagliche Wärme machte sich in ihr noch breiter. Wie schön endlich wieder jemanden zu haben, der ihren richtigen Namen benutzte.
"Sag es bitte nochmal", bat Geza.
Hekate wiederholte: "Geza."
"Nochmal", das Mädchen schloss die Augen.
"Geza", ertönte es wieder.
Wie schön war es wieder "Geza" genannt zu werden! Sie hielt es nicht aus und eine Träne rannte ihr über die Wange.
Sie hatte gar nicht gehört, dass die Tür sich öffnete. Ein unbestimmter Laut ließ sie sich umdrehen. Egon stand in der Tür mit weit aufgerissenen Augen, offenen Mund und starrte Geza entsetzt an. Einen kurzen Moment sagte keiner was. Geza war die erste, die zu sich kam.
"Hekate, flieg weg!", flüsterte sie. Die Eule schlug mit den Flügeln und segelte zum Fenster hinaus.
"Ich komme aber wieder!", rief ihre schrille Stimme draußen.
Jetzt meldete sich auch Egon. Er streckte den Finger aus und stammelte: "Du hast... mit... dem Vogel..."
Er sprach nicht zu Ende, sondern machte kehrt und rannte die Holztreppe runter.
Im Flur brüllte er durch das ganze Stockwerk: "Mutter! Es ist soweit! Es ist passiert!"
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