3 - Die Jugendabende

Die restliche Reise dauerte noch anderthalb Tage. Inzwischen waren die Verwalter vom Gut Kupferstrom nicht mehr allein unterwegs. Die Herberge, in der sie übernachteten, war voll mit Familien, die zu den Jugendabenden wollten. Es hatte sich eine Art Karawane gebildet, die sich in Richtung Buchenhof über die große Straße bewegte. Die sogenannten großen Straßen, insgesamt waren es vier, verbanden die Hauptstädte der vier anderen Provinzen mit dem Buchenhof, der Hauptstadt von Fagis und Arbor.

Insgeheim hielt Geza nach der Kutsche der Fürstin oder einem stattlichen blonden Reiter Ausschau. Sie hoffte sehr, dass Richard unter den vielen Leuten war. Sie sah ihn aber nirgendswo. Als die Gruppe eine Mittagspause einlegte, stellten sie ihre Kutsche neben dem Planwagen einer anderen Verwalterfamilie ab.
Geza hörte, wie die noch sehr junge Tochter ihre Eltern fragte: "Mutti, Vati, werden auch die Fürsten da sein?"
"Natürlich, mein Blümchen!", antwortete die Mutter, "Ich bin ziemlich sicher, dass sie schon dort sind. Sie kommen immer etwas früher, um Dinge mit unserem König zu besprechen."
Geza seufzte leise, damit das niemand mitbekam, und beschloss sich noch etwas zu gedulden.

Im Grunde waren die anderen Leute, die das gleich Reiseziel hatten wie sie, auch sehr interessant. Die Planwägen rechts und links und die Kutsche direkt vor ihnen waren Gezas Zeitvertreib auf dem letzten Teil der Reise. Rechts brachte eine Frau, vermutlich eine Witwe, wenn man den schwarzen Rand des Schleiers in Betracht zog, ihre zwei Söhne in die Hauptstadt. Dem Alter nach zufolge, waren das ihre ersten Jugendabende. Im Wagen fuhren mehr Hunde mit als Menschen. Immer wieder sprangen sie und die zwei Jungen und ihre unzählbaren Haustiere aus dem Wagen und rannten auf den Wiesen und Feldern herum. Links war ein Familie mit sehr vielen Kindern und Geza hatte bis zum Ende der Reise immer noch nicht verstanden, wie viele genau es waren. In dem Wagen herrschte immer Geschrei und Gezanke. Vor ihnen fuhr der Wagen einer scheinbar sehr reichen Familie. Sie hatten sogar einen Kutscher. Keinen Knecht, der auf dem Bock saß und die Pferde lenkte. Einen richtigen Kutscher mit breitem Gürtel, hinter dem er seine Gerten und Peitschen verstaute. Die Insassen der Kutsche bekam Geza nie zu Gesicht. Doch der Kutscher war schon arrogant genug. Er ließ niemanden nah an sich heranfahren und setzte seine Peitsche gnadenlos ein, wenn jemand dicht an ihn herankam. Die Landschaft konnte Geza nicht mehr so gut betrachten wie vorher, die zwei Planwägen waren im Weg. Aber trotzdem viel ihr auf, dass die Eichen von Buchen abgelöst wurden. Sie wirkten viel höher, weil sie nicht so verzweigt waren wie die Eichen, an die Geza so gewöhnt war.

Gegen Mittag des dritten Reisetages erschien der Buchenhof endlich am Horizont. Geza stand auf, um besser sehen zu können. Auf einer riesigen Wiese hatte sich die Stadt ausgebreitet und die vier großen Straßen führten zu ihr, eine Straße aus jeder Provinz. Auf einer von ihnen fuhr Geza. Auch auf den anderen drei Straßen waren die Besucher der Jugendabende unterwegs, was stark ein Ameisen erinnerte. Der Buchenhof spielte dabei die Rolle des Ameisenhaufens. Wie viele Menschen da wohl lebten? Eine hohe Mauer grenzte die Stadt ein und Figuren liefen auf ihr auf- und ab, Soldaten der Bürgerwehr.

Hier wurde der Verkehr langsamer und hin und wieder musste der Wagen stehen bleiben. Geza verstand zuerst nicht warum. Aber als auch ihr Wagen endlich am Tor angekommen war, wurde es ihr klar. Das Tor wurde von fünf mit Hellebarden bewaffneten Bürgerwehrsoldaten bewacht. Daneben stand ein kleines Männlein mit einer Mappe. Jeder, der passieren wollte, musste ihm einige Fragen beantworten. Auch Gezas Verwandten wurden nicht verschont.
Das Männlein humpelte ans Kutschenfenster und fragte mit hoher Stimme: "Wer seid ihr und wieso wollt ihr heute zum Buchenhof?"
Onkel Hinrich steckte seinen roten Kopf aus dem Fenster und antwortete: "Wir sind die Verwalter vom Gut Kupferstrom und wollen zu den Jugendabenden."
Das Männlein nickte und schlug seine Mappe auf. Er suchte in seinen Papieren und blinzelte sehr häufig, was ihn müde aussehen ließ. Endlich hatte er das gefunden, was er suchte, und hob den tränenden Blick wieder auf Onkel Hinrich, der eine Spur röter wurde.
"Haben sie ein Siegel dabei?", hauchte das Männlein und Onkel Hinrich nahm seinen Siegelring vom Finger. Der kleine Mann schaute erst auf den Ring, dann in seine Mappe. Mit zittrigen Händen gab er den Ring seinem Besitzer wieder.
"Ihr könnt passieren", verkündete er feierlich mit seiner zittrigen Stimme und der Wagen fuhr durch das Tor.

Geza war maßlos überfordert mit dem, was sich hinter den Mauern befand. Die meisten Häuser verfügten über mehr Stockwerke als das Gut Kupferstrom. Und die Leute! Geza hatte noch so viele Häuser und Menschen auf einem Haufen gesehen. Im ersten Moment bekam sie es sogar leicht mit der Angst zu tun. Überall waren Menschen, auf den Straßen, an den Fenstern, sogar auf den Dächern hatte sie ein paar Jungen gesichtet. Auch die Lautstärke überwältigte sie. Da, wo sie bis jetzt gelebt hatte, war es immer ruhig. Und hier! Räder ratterten über die Straßen. Menschen redeten, schrien und sangen in Wirtshäusern. Händler riefen und priesen ihre Waren aus Läden und von Marktständen an. In dem Stimmengewirr konnte Geza sich auf nichts konzentrieren. Nach und nach gewöhnte sie sich an den Lärm und die vielen Leute. Die Kutsche konnte nur sehr langsam durch die Straßen fahren, erstens, weil die Straßen nur zwei Wägen durchließen, und zweitens, weil sie sonst im Tumult einen unschuldigen Passanten überfahren hätten. Je näher sie dem Stadtzentrum kamen, desto zäher wurde der Verkehr. Geza wurde ungeduldig. Was dauerte denn da so lange? Sie standen auf einer schnurgeraden Hauptstraße, die ins Herz der Stadt führte. Es war aber schlecht zu erkennen, was am Ende der Straße war.

Aber als sie dem Zentrum der Hauptstadt endlich nah kamen, wurde Geza erneut überwältigt. Im ihrer vollen Pracht stand da die Königsburg Buchenhof auf einer Insel in einem großen Stausee. Gewaltige Türme rahmten das Tor, noch mächtigere bildeten die Ecken und der Bergfried war so hoch, dass Geza glaubte, sie träumte. Sie hätte nie gedacht, dass Menschenhände so weit hoch in die Luft bauen konnten. Jetzt wurde auch klar, warum die Kutschen und Wägen nur im Schneckentempo vorankamen. Alle Gefährte, die durch die vier Tore gekommen waren, mussten jetzt über eine einzige Brücke in die Burg rein. Auch hier waren Soldaten der Bürgerwehr postiert. Sie kontrollierten die Anzahl der Fahrzeuge, die auf die Holzbrücke fuhren, damit kein Unfall passierte.

Als Geza und ihre Reisebegleiter endlich auf dem Burghof ankamen, fing schon der Abend an zu dämmern. Die Frauen und Kinder wurden alle von Dienern in ihre Gemächer geführt. Eine Person, in der Regel der Familienvater, musste noch bleiben und sichergehen, wo und wie Pferde und Wagen untergebracht wurden. Tante Ursula, Egon, Hedwig, Geza und auch die zwei Mägde wurden von einer Frau in ein Zimmer geführt, dass etwas zu klein für so viele Menschen war. Nichtdestotrotz waren alle froh, am Ziel der Reise angekommen zu sein, und auch, dass sie sich mit keiner weiteren Familie das Zimmer teilen musste. Onkel Hinrich und der Knecht kamen später mit dem Gepäck nach. Auch ein Abendessen wurde ihnen angeboten, das in tiefen, müden Schweigen verlief.

Geza war, wie auch alle anderen, völlig erschlagen. Die lange Reise war so erschöpfend, dass keiner etwas sagte. Es wurde nicht diskutiert, wer wo schlafen sollte. Jeder fand intuitiv seinen Platz. Tante Ursula teilte sich ihr Bett mit ihrer Tochter und Onkel Hinrich seins mit seinem Sohn. Der Knecht musste sich neben die Tür legen und als Wächter fungieren. Geza fand auf einer breiten Strohmatratze neben den zwei Mägden ihr Lager. Alle waren so müde, dass sie sich nicht einmal eine gute Nacht wünschten.

* * *

Am nächsten Morgen herrschte überall in der Burg reges Treiben. Geza und ihre Zimmergenossen standen erst sehr spät auf, die Sonne stand schon ziemlich hoch am Himmel. Nach einer Mischung aus Frühstück und Mittagessen begannen die Vorbereitungen für den ersten Abend. Geza setzte sich in die Fensternische und wartete auf den richtigen Moment. Sie hatte Angst, dass ihrem guten Kleid etwas passieren könnte, wenn sie es jetzt schon anzog. Sie traute ihrer Base in dieser Hinsicht alles zu. Schon einmal hatten sie kurz vor Weihnachten ihr Kleid ruiniert und so konnte Geza nicht zur Weihnachtsmesse gehen. Das Gerede im Dorf war diesbezüglich groß. Gerade die immer unzufriedene Alte sah sich in ihrer Vermutung bestätigt, dass Geza mit ihren zwei Haarfarben ein "Hexenkind" sei. Onkel Hinrich und Egon machten sich schnell fertig und verließen das Zimmer, um sich mit den anderen Verwaltern zu unterhalten.

Tante Ursula und ihre Tochter dagegen diskutierten zunächst ausgiebig, welche Kleider sie zuerst anziehen sollten und wie sie sich die Haare machen sollten. Geza bekam langsam Kopfschmerzen. Draußen war es kalt und deswegen wollte keiner das Fenster aufmachen, im Zimmer wurde es stickig. Während die Base sich von ihrer Mutter und einer Magd eine aufwändige Zopffrisur auf den Kopf zaubern ließ, holte Geza ihr Kleid hervor. Sie zog es sich über und legte den Metallgürtel ihrer Mutter um. Das sah bescheiden aber elegant aus. Danach kümmerte sich Geza um ihre Haare. Sie waren nicht sehr lang, bedeckten die Schulterblätter nur zu Hälfte, also war das Kämmen eine Leichtigkeit. Auch Geza wollte eine schöne Zopffrisur. Aber das bekam sie nie allein hin also beschränkte sie sich auf einen einfachen Zopf.

Kaum war sie fertig, kam ihre Tante auf sie zu und sprach an dem Tag das erste Mal mit ihr.
"Gustel, ich habe hier eine Haube für dich, die du außerhalb dieses Raums tragen wirst", verkündete sie und reichte Geza eine Haube, die vor zehn Jahren in Mode war.
"Darunter sollen deine Haare verschwinden. Keiner soll sie sehen. Hast du das verstanden?", fuhr Tante Ursula fort.
Geza nickte.
Einerseits war sie froh, dass sie ihre Haare nicht zeigen sollte. Wären ihre Haare zu sehen, würden sie nur alle anstarren und über sie tuscheln. Das Problem war, in Arbor war es üblich, dass nur verheiratete und verwitwete Frauen ihre Haare bedeckten. Unverheiratete trugen ihre Zöpfe offen. Hinzu kam, dass Hauben nur noch von Bäuerinnen getragen wurden. Verwalterinnen, Ritterfrauen und Fürstinnen bedeckten ihre Haare mit einem Schleier und fixierten ihn mit einem Stoffreif oder einer Krone, so dass ihr Gesicht frei war. In dieser Haube würde auf den Jugendabenden keiner verstehen, dass auch Geza hier auf der Suche war. Dazu waren die Abende schließlich da, damit sich junge Leute untereinander kennenlernen konnten. 

Geza traute sich aber nicht einmal genervt zu schnauben. Wortlos setzte sie die Haube auf und verstaute ihren Zopf darunter. Hedwig lachte auf, als sie fertig war. Geza nahm es ihr dieses Mal sogar nicht übel. Sie konnte sich vorstellen, wie merkwürdig sie aussah. Die Haube war sehr groß und warf einen gewaltigen Schatten auf ihr Gesicht, so sah Geza ein Bisschen aus wie ein Pilz. Endlich waren alle soweit und die drei Frauen machten sich auf den Weg in die große Halle. 

In dem Raum waren schon die meisten Gäste versammelt, Geza wurde wieder von der Masse an Menschen erschlagen, es waren ihrer Schätzung nach mindestens 150 Leute anwesend. Zum Glück war die Halle groß genug. Es war sehr laut, alle unterhielten sich und lachten. Egon kam auf seine Familie und Geza zu und führte sie zu ihrem Platz, wo auch Onkel Hinrich wartete. Er unterhielt sich mit anderen Verwaltern, Geza kannte sie nicht. Später erfuhr sie, dass sie aus einer ganz anderen Provinz kamen, aus Acer, um genau zu sein. Diese Provinz lag westlich von Fagis. Neugierig schauten die zwei Söhne und die Tochter der Familie zu Geza. Einer der Söhne suchte sofort das Gespräch mit Hedwig und sie entfernten sich um ein Paar Schritte. 
Die Mutter betrachtete indessen Geza mit unverfälschten Interesse.
"Ist diese junge Frau mit euch verwandt? Ich kenne sie noch gar nicht!", stellte sie fest.
"Ja, so in etwa", antwortete Tante Ursula, "Das ist die Tochter meiner älteren Schwester."
Die Verwalterfrau aus Acer riss die Augen weit auf.
"Der Schwester, die mit dem Vagabund, dem Fera durchgebrannt ist?", fragte sie fassungslos.
Tante Ursula nickte mit einem aufgesetzt traurigen Gesicht: "Ja, und seitdem war meine Schwester von meinen Eltern verstoßen."
"Das ist unbeschreiblich gütig von euch, dass ihr sie aufgenommen habt", meinte die Verwalterfrau. 

Geza war es zwar gewohnt, dass ihre Eltern ungeniert verurteilt wurden, hörte es aber nicht gerne. Die Beziehung der beiden war immer Thema, wenn Besuch auf dem Gut Kupferstrom empfangen wurde. Geza war inzwischen abgestumpft, sich aufzuregen würde ihr nur Schwierigkeiten einbringen. Trotz allem hatte sie das Bedürfnis, sich von dem Gespräch zu entfernen. Sie hörte nicht weiter zu und schaute sich in der Halle um.

An den zwei langen Wänden standen Tische mit Speisen und Getränken, es aß aber noch keiner. Alle schauten erwartungsvoll auf eine Art Bühne. Eine Treppe führte auf diese Bühne hoch und darauf standen vier verzierte Throne aus massiven Holz. Nach langem Warten öffnete sich eine Tür hinter den Thronen und es kamen die raus, auf die alle so lange gewartet haben, die Königsfamilie und die Fürsten. Die Königsfamilie ließ sich auf den Thronen nieder und die Fürsten stellten sich rechts und links von ihnen auf. Auch Richard und seine Mutter waren dabei. Alle, die unten im Saal standen, verbeugten sich oder machten einen Knicks.
"Erhebt euch!", ertönte die Stimme von König Elrik. Sie klang bodenständig und laut, aber auch weich. Eine Bewegung lief durch den Raum, während er fortfuhr: "Meine lieben Fürsten, Ritter und Verwalter! Ich freue mich sehr euch alle und eure Familien hier zu sehen! Herzlich willkommen zu den Jugendabenden! Macht euch untereinander bekannt und habt Spaß! Musik!", rief er schließlich und streckte einen Arm in die Höhe. Von einem Balkon auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Es ertönten Flöten, Lauten, Harfen und viele andere Instrumente. Die Menge formte einen Kreis um die Mitte des Raumes, wo sich eine Tanzfläche bildete. Die ersten jungen Männer forderten junge Mädchen zum Tanz auf und in Paaren schritten sie würdevoll im Kreis. Auch Hedwig und ihr Gesprächspartner machten sich auf den Weg dahin. Im Vorbeigehen warf sie Geza einen siegesreichen Blick zu.

Geza ließ ihre Aufmerksamkeit noch bei König Elrik. Er war ein ergrauender Mann mit dichten Haaren und einem ordentlichen Vollbart. Über einem langem Hemd trug er einen purpurroten Umhang mit dunklen Pelz am Kragen. Ein goldener Reif saß würdevoll auf seinem Haupt. Wie auch die Fürsten hatte er über der Stirn ein Emblem mit einem Wappen. Zu seiner rechten saß seine Frau, Königin Dorothea, auch in Purpur gekleidet. Zu seiner linken standen seine zwei Söhne Livian und Darian auf, um sich eine Tanzpartnerin zu suchen. Geza lenkte sich aber ab und suchte Richard. Wo war er nur? Sie hatte sich doch nur kurz die Königsfamilie angeguckt und schon war Richard nicht mehr da! Ob er sie suchte? Erwartete er sie überhaupt, wie Onkel Hinrich dachte?

Egon war schon längst weg und unterhielt sich mit anderen Verwaltersöhnen. Hedwig tanzte in der Mitte des Saales. Wie Geza sich schon denken konnte, schaute keiner in ihre Richtung. Die Kopfbedeckung signalisierte jedem, sie wäre schon vergeben, außerdem war die Haube nicht wirklich statusgerecht, also interessierte sich niemand für sie. Würde Richard sie überhaupt erkennen mit diesem... Geza wusste nicht, wie sie das Ding auf ihrem Kopf nennen sollte. Der Schreittanz wurde inzwischen von einem Reigen abgelöst und enttäuscht meldete sich Geza bei ihren Onkel und Tante ab: "Ich hol mir was zu Essen."
"Na gut", erlaubte es ihr Onkel Hinrich.
Sie entfernte sich, hinter sich hörte sie ihn aber noch sagen: "Das mit dieser... Mütze war ein fabelhafter Einfall, Ursula! Und wie geschickt du Geza den anderen vorgestellt hast!"
Sie seufzte und schritt auf einen der Tische zu. 

Sie nahm sich eine große Scheibe Brot, die sie als Teller verwendete, und legte sich alles darauf, was sie probieren wollte. Die Lämmer aus Fagis waren keine häufige Leckerei in Gezas Heimatprovinz. Quercus war dafür für seine Schweine im ganzen Königreich bekannt. Sie stellte sich in eine Ecke, um niemanden zu stören. Als sie sich eine Scheibe gepökelten Lammfleischs auf der Brotscheibe zurechtlegte, spürte sie eine heiße Hand an ihrer Hüfte. Das konnte nicht Richard sein! So hatte sie ihn nicht kennengelernt. Wer war es dann? Sie fuhr herum und blickte in das Gesicht eines Mannes, den noch nicht kannte. Inzwischen hatte er seine andere Hand auf ihre Schulter verlagert. Mit einem solchen Übergriff hatte Geza auf dieser Veranstaltung wirklich nicht gerechnet.
"Wie kommst du denn hierher? Hast du dich verlaufen?", fragte der Mann, er war eindeutig nicht ganz nüchtern und tippte mit einem Finger auf Gezas Kopfbedeckung. Die kinnlangen dunklen Haare hingen ihm ins Gesicht und bildeten ein Art Vorhang vor seinen braunen Augen. Auf seinem Kopf trug er eine Fürstenkrone, das Emblem über der Stirn zeigte das Wappen von Maximilla. 

Maximilla war die nördlichste Provinz von Arbor, auf der Karte lag sie direkt über Fagis und Quercus. Geza wusste natürlich vom Hörensagen, dass der Fürst von Maximilla und seine Ritter nicht den besten Ruf genossen, allerdings erlebte sie es an dem Tag zum ersten Mal hautnah.
Der Fürst schaute sie aufmerksam an und meinte dann: "Nein, du bist zu jung, um Kinder hierher zu bringen. Warum bist du dann hier?"
Er strich Geza mit der Hand den Arm runter, legte den Kopf schief und kam einen Schritt näher. Panisch schaute sich Geza um. Egon war zwar in Sichtweite, dennoch erwartete sie von ihm keine Hilfe. Alle anderen schauten den Tanzenden zu, gerade kam eine sehr komplizierte Figur in den Reigen und die Gäste beobachteten sie interessiert. Der Fürst machte noch einige Schritte auf Geza zu. Sie wollte sich umdrehen und gehen, doch er ergriff sie fest an der Hand.
"Eine Haube auf dem Kopf, aber du hast nicht die Hände einer Bäuerin. Mit sowas kenn ich mich aus", murmelte er, "Bist eine interessante Gestalt. Und deine Haube stört mich nicht im Geringsten."
Er zog Geza näher an sich heran, die zweite Hand setzte sich in Bewegung. Geza schluckte und bekam eine Gänsehaut. Die kalten und klebrigen Berührung dieses Mannes lösten bei ihr beinahe Würgreize aus. Sie wollte sich losreißen, schreien, aber sie traute sich nicht. Der Fürst würde darüber bestimmt zornig werden und das würde die Sache nur noch schlimmer machen. Also schwieg Geza.

Auf einmal legte jemand dem Fürsten Maximilla die Hand auf die Schulter und eine wohlbekannte Stimme sagte: "Gideon, Kronprinz Livian sucht dich."
Gereizt schnaubte der Angesprochene und entfernte sich.
Erleichtert blickte Geza auf Richard hoch. "Schön dich hier zu sehen. Ich hoffe, Gideon hat dich nicht zu sehr erschreckt", wandte er sich an sie und machte eine kleine Verbeugung. Geza zitterte noch und die Tränen trat ihr in die Augen. Richard fuhr sich mit der Hand über den Hinterkopf und den Nacken, unsicher, was er tun oder sagen sollte.
"Was habe ich denn Falsches getan, um so...", sprach den Satz nicht zu Ende und versuchte ein Schluchzen zu unterdrücken.
"Du hast gar nichts Falsches getan", versuchte Richard sie zu beruhigen, "Schau dich um! Die anderen Mädchen und Frauen stehen bei ihren Familien, bei ihren Partnern oder in Grüppchen. Du warst die Einzige, die allein und abseits stand. Und, wenn ich das anmerken darf, dein Kopfputz ist auch etwas irreführend. Gideon hat dich wahrscheinlich für eine Magd gehalten und gedacht, dass er nicht mit Konsequenzen zu rechnen hatte." 
"Ihr seid genau richtig gekommen, Herr" Geza hatte sich in der Zwischenzeit etwas eingekriegt.
Richard schaute in die Richtung, in die junge Fürst verschwunden war.
"Erlaube mir, dass ich mich für ihn entschuldige. Ein Mann sollte sich nicht so verhalten, vor allem kein Fürst und Ritter."
"Nicht schlimm", murmelte Geza und setzte ein Lächeln auf.
Richards Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig.
"Nicht schlimm!", rief er und verschluckte sich.
Leute fingen an sich umzudrehen und Geza flüsterte schnell: "Können wir bitte über etwas anderes reden, Herr."

"Darf ich fragen, warum du diese Haube aufgesetzt hast?", wollte Richard wissen.
Geza bekam ihr Lammfleisch in den falschen Hals und hustete. Gerne wollte sie Richard aufklären, aber sie konnte nicht einfach die Wahrheit sagen. Würde das Onkel Hinrich und Tante Ursula zu Ohren kommen, käme sie in Teufels Küche. Es konnte auch sein, dass Richard wenig begeistert wäre von der Wahrheit und seine Freundlichkeit wollte sie nicht riskieren.
Kaum hatte sie fertiggehustet, sagte Richard: "Es sieht aus, als hätte ich ein unangenehmes Thema angesprochen, es tut mir Leid."
Die Entschuldigung versetzte Geza in stummes Staunen, sie hätte sich beinahe noch einmal verschluckt.

Einen Moment blieben sie schweigend nebeneinanderstehen. Geza aß ihr Brot und ihr Fleisch und Richard kaute auf einem Stück Honigkuchen und nippte an einem Glas Met. Als beide mit Essen fertig waren, neigte sich auch der Reigen seinem Ende und ein neuer Tanz begann, ein Drehtanz.
"Geza, möchtest du mit mir tanzen?", fragte Richard und verbeugte sich.
Geza traute ihren Ohren kaum. Der Fürst selbst forderte sie zum Tanzen auf! Sie schaute ihm aufmerksam ins Gesicht. Meinte er das wirklich ernst? Oder machte er nur einen Witz? Dann fiel ihr ein, dass sie antworten müsste und beeilte sich damit: "Ja natürlich, Herr."
Sie legte ihre Hand in die seine, sie war warm und trocken. Richard führte sie in die Mitte der Halle und begann sie zu führen.
"Kannst ruhig Richard zu mir sagen", sagte er noch leise, damit es keiner um sie herum hörte, und sie drehten sich im Tanz.
Geza war noch nie angeheitert, geschweige denn betrunken, doch in diesem Moment fühlte sie sich wie in einem Rausch. Die Musik, das Licht der Fackeln und Richards Hand in der ihren, all das vermischte sich in einen Nebel, der sie umhüllte.

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